Leonie Graf

Das Feuer der Werwölfe


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Richtung, aus der sie in der Nacht gekommen waren. Ihr Plan war, dass sie jetzt erstmal in Richtung Stadtmitte laufen würde, bis sie wieder wusste, wo sie eigentlich war.

      „Ich würde in die andere Richtung laufen, wenn du nach Hause willst“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Mali. Sie fuhr erschrocken herum. Damian.

      „Was machst du denn hier?“, fauchte Mali. „Ich brauche dich nicht. Ich gehe alleine.“

      „Mali, du hast versprochen mir zu vertrauen.“ Damian stand jetzt direkt vor ihr und blickte ihr in die Augen.

      „Erstens habe ich es dir nicht versprochen und zweitens war die Bedingung, dass du ehrlich bist, was du nicht warst.“ Mali war sauer. Was dachte der eigentlich, was für Spielchen er mit ihr spielen konnte.

      „Wenn das, was ich gestern gesagt habe nicht ehrlich war, dann weiß ich auch nicht“, meinte Damian.

      Mali knirschte mit den Zähnen. Sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Er war wirklich ehrlich gewesen. Er konnte ja nichts dafür, dass ihr die Wahrheit nicht gefiel.

      „Also gut.“ Mali zuckte mit den Schultern. „Aber du leistest keinen Widerspruch und ich entscheide, was wir machen, bis wir wieder aus dem Haus raus sind, auch welchen Weg wir dahin nehmen, ist das klar?“

      Damian nickte. „Ja, aber ich würde den anderen Weg…“

      Mali schnitt ihm das Wort ab.

      „Also dann gehen wir.“

      Sie schlug ihren Weg ein. Sie wusste nicht, ob es ihr Trotz oder mangelndes Vertrauen war, sie wollte jedoch auf keinen Fall den Weg gehen, den Damian vorgeschlagen hatte. Zügig liefen sie nebeneinanderher, keiner von beiden sagte ein Wort. Sie beide waren in ihre eigenen Gedanken versunken.

      Nach ein paar Minuten kamen sie wieder in die Stadt. Mali erinnerte sich an die dunklen Gassen, die sie gestern Nacht entlang gerannt waren, die unheimlichen Schatten, die durch das diffuse Licht der Straßenlaternen auf die Hauswände geworfen wurden, die alles umfassende Stille. Doch jetzt war alles anders. Die Gassen sahen freundlich aus, nicht mehr bedrohlich. Es herrschte reges Treiben. Es war zwar noch früh am Morgen und doch liefen schon einige Menschen zügig durch die Straßen. Die Stille war dem leisen Gemurmel der Leute gewichen. Die Leute schienen fröhlich.

      Mali sah eine kleine Traube Leute dicht beieinanderstehen. Sie redeten miteinander. Scheinbar ging es um Klatsch und Tratsch, so wie die Leute ihre Köpfe zusammensteckten.

      Mali und Damian stürzten sich in das Labyrinth der Gassen. Plötzlich blieb Mali stehen. Am Ende der Gasse, die sie gerade betreten hatten, sah sie den alten Marktplatz. Er war leer. Wie immer. Seit Mali denken konnte, hatte niemand den Platz betreten. Die Leute mieden ihn und gingen mit gesenktem Kopf daran vorbei, um ihn nicht ansehen zu müssen. In der Mitte des großen, runden Platzes stand ein Brunnen. Der Brunnen war seit Jahren nicht mehr in Betrieb, über dem Rand hingen angetrocknete Algen. Das Rohr, das sich aus einem Steinquader über den Brunnen erstreckte und aus dem früher vermutlich immer das Wasser rausgelaufen war, rostete inzwischen schon. Die Steinwände des Brunnens waren mit Moos bewachsen und die schönen, in den Stein gemeißelten Figuren schon fast nicht mehr zu sehen. Hinter dem Brunnen stand eine große Steintafel. Auf einem kleinen Sockel davor, lagen ein paar, inzwischen schon zu Staub zerfallene, Blumensträuße. Niemand schien sie wegzunehmen. Niemand schien neue, frische dazuzulegen. Auch die Steintafel war schon mit Moos bewachsen, wenn auch nicht so stark wie der Brunnen. Nur wenige der Namen, die auf die Tafel geritzt waren, konnte man gerade noch so entziffern. Alle anderen waren schon komplett verwittert. Es waren viele Namen, sehr viele. Sie standen unter einer Inschrift mit den Worten: Die Verstorbenen. Daneben prangte ein Datum. Die Jahreszahl war ebenfalls zu verwittert, um sie noch lesen zu können, doch den Tag konnte Mali gut lesen. Es war der zweite Juli gewesen.

      Mali war schon oft vor dem Platz stehen geblieben. Sie hatte sich jedoch nicht getraut ihn zu betreten. Die Tafel jedoch hatte sie sich immer von der Weite angeschaut, weswegen sie viele der Namen, die hineingeritzt und noch nicht verwittert waren, kannte. May Abraham, Sina Bauer, Max und Cloe Belfour, waren nur die ersten Namen von den insgesamt 518. Mali kannte fast niemanden von diesen Personen. Belfour hieß ein Mädchen aus ihrer Stufe mit Nachnamen, wenn sie sich recht erinnerte, aber der Zusammenhang war ihr unklar. Emma Belfour war ein sehr schüchternes Mädchen. Mali hatte kaum etwas mit ihr zu tun.

      Das Denkmal auf dem Platz war sicher schon sehr alt. Es zeugte von irgendeinem Krieg. Mali hatte es jedoch nie gewagt jemanden danach zu fragen. Die Leute wurden komisch, wenn man auf das Thema zu sprechen kam. Sie mieden den Blick auf das Denkmal, sie mieden das Thema und Mali wollte nicht diejenige sein, die das Thema auf den Tisch brachte. Auch ihre Mutter hatte sie nie nach dem Denkmal gefragt. Ihr war schon mehrfach aufgefallen, dass ihre Mutter immer das Gesicht verzog, wenn sie an dem Denkmal vorbeigingen, ganz so, als ob sie Schmerzen hätte. Mali wollte sie nicht auch noch damit belästigen und danach zu fragen. Und alle jüngeren Leute schien es entweder nicht zu interessieren, was damals vorgefallen war, oder die, die es doch interessierte, wussten ebenso wenig wie Mali darüber Bescheid.

      Da Mali so abrupt stehen geblieben war, wäre Damian fast in sie hineingelaufen.

      „Was ist?“, fragte er.

      Mali schüttelte nur den Kopf. Sie wusste jetzt endlich, wo sie waren. Von hier würde sie den Weg nach Hause finden. Es war nicht mehr allzu weit, jedoch musste sie sich eingestehen, dass Damian wirklich recht gehabt hatte. Der Weg, den er davor vorgeschlagen hatte, wäre wirklich kürzer gewesen.

      „Du hattest Recht“, gab Mali kleinlaut zu. „Deiner war wirklich der kürzere Weg.“

      Sie blickte Damian an. Halb rechnete sie schon mit einer bissigen Bemerkung von wegen, ich habe es dir doch gesagt, oder hättest du mal besser auf mich gehört, doch Damian schwieg nur. Die einzige Regung war ein kurzes Nicken. Dann nahm er Malis Arm und zog sie weiter.

      Mali wusste nicht genau, was sie von dieser Reaktion halten sollte, doch sie war froh darüber, dass Damian ihr nicht unter die Nase rieb, dass er doch Recht gehabt hatte. Sie mochte es nicht, wenn sie Fehler machte und jemand ihr dann deutlich zu verstehen gab, dass er besser war als sie.

      Als sie dann endlich vor der Haustür ihres Hauses standen, kamen bei Mali die ersten Zweifel. War es eine gute Idee, wieder zurückzukommen? Würde der Leichnam ihrer Mutter immer noch da liegen? Bei dem Gedanken daran drehte sich Malis Magen um. Ihre Hand verkrampfte sich um die Türklinke.

      Damian schien ihr ihre Gedanken ansehen zu können. Er legte seine Hand auf Malis und sah sie abwartend an.

      „Bereit?“

      Mali nickte nur. Dann drückte Damian die Klinke gemeinsam mit Malis Hand herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen und schwang nach innen auf. Im Flur war es dunkel. Nur das wenige Licht, das durch den Türspalt zur Küche fiel, warf einen leuchtenden Streifen auf den alten Teppich. Mali tastete nach dem Lichtschalter. Mit einem Flackern ging das Licht an. Alles sah aus wie immer. Die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer waren angelehnt. Hinten bei der Treppe stand der alte Wandschrank. Er war aufgestellt worden. Die beiden Leichen waren verschwunden. Mali atmete erleichtert auf. Nichts zeugte mehr von dem Tag. Keine Blutspuren, gar nichts mehr. Nur der Wandschrank stand nicht mehr auf seinem alten Platz. Er thronte mitten im Eingangsbereich. Eine Ecke war abgebrochen. Ansonsten hatte der Schrank seinen Sturz die Treppe hinunter unbeschadet überlebt. Mali wunderte sich immer noch, wie ihre Mutter es geschafft hatte, ihn die Treppe hinunterzustoßen. Sie versuchte sich gegen die aufkommende Erinnerung zu wehren, doch die Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei: Der herunterfallende Schrank, einer Pistole, der Postbote, ihre Mutter Blut. Um sich abzulenken, ließ Mali ihren Blick wieder durch das Zimmer schweifen. Reste von rot-weißem Absperrband lagen auf dem Boden, ansonsten zeugte nichts mehr von der Arbeit der Polizei. Die Spurensicherung war schon fertig mit ihrer Arbeit.

      Mali bückte sich und sammelte alle Reste davon ein. Damian half ihr schweigend dabei. Gemeinsam versenkten sie die Fetzen des Absperrbands in einem Mülleimer. Mit einem lauten Knall ließ Mali den Deckel zufallen, wie als würde sie die Erinnerung darin einsperren.

      Mali blieb noch kurz im Wohnzimmer stehen. Sie