Bettina Reiter

Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis


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sie zum Fenster. Fingerabdrücke übersäten das zerkratzte Glas. Wie Zuckerguss lag Schnee auf der Landschaft. Manchmal glitzerte er, denn viele Fackeln brannten vor dem Schloss. Diener eilten von einer Kutsche zur anderen. Überall lagen Pferdeäpfel.

      Ein ihr unbekannter Mann spazierte zum Pavillon, der im Sommer von weißen Rosen förmlich überwuchert war. Sogar jetzt standen einige in voller Blüte. Es waren Dianas Lieblingsblumen. Eine zähe Sorte, die dem Wetter trotzte. Vielleicht war auch Diana zäher als gedacht? Ob sie tatsächlich eine Lösung finden würde?

      „Henriette, wie nett Euch alleine anzutreffen.“

      Sie erstarrte und drehte sich unwillig um. „Philippe.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Weil sie Angst hatte, obwohl er sie freundlich anlächelte und nicht gefährlich wirkte. Das wenige Haar am Stirnansatz hatte er zur linken Seite hin gekämmt, das füllige am Hinterkopf war zu einem Zopf geflochten. Er trug einen dunkelblauen Samtanzug mit einem weißen Hemd darunter. Auch der herbe Duft, der ihn umwehte, war nicht aufdringlich. „Verzeiht“, bat sie hastig. „Ich muss mich um unsere Gäste kümmern.“ Sie wollte an ihm vorbei, doch er hielt sie jäh am Arm zurück. Nicht grob, dennoch mit Nachdruck. Ihre Nackenhaare sträubten sich, weil er so nahe war und sie anstarrte – mit einem seltsamen Funkeln in den Augen.

      „Ein paar Minuten solltet Ihr mir gönnen, schließlich bin ich bald Euer Mann.“ Sein Atem roch nach Minze.

      Henriette fixierte sein Muttermal unter dem rechten Auge. „Wie gesagt, ich muss mich um die Gäste kümmern.“

      „Ich bin auch ein Gast.“

      „Lasst mich gefälligst los! Sofort!“

      „Wie Ihr wollt.“ Er gab sie frei. Henriette trat zwei Schritte zurück. „Nun, wir können es uns einfach machen – oder schwer.“

      „Wir machen gar nichts. Erst recht feiern wir keine Hochzeit.“

      „Weshalb? Gefalle ich Euch etwa nicht?“ Seine Frage klang spöttisch und erwartungsvoll zugleich.

      „Mit gefallen hat das weniger zu tun“, erwiderte Henriette. „Mir geht es vielmehr um Euren Ruf, der denkbar schlecht ist.“ Hoffentlich bemerkte er nicht das Zittern in ihrer Stimme.

      Philippes Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Sagt wer?“

      „Der gesamte Hof, ganz Paris“, rief sie aus. „Was sage ich, ganz Europa!“

      „Und das glaubt Ihr natürlich?“

      „Immerhin ist Euer Vater Euer größter Kritiker und der muss es ja wissen. Im Übrigen besteht meine Großtante auf diese Hochzeit, weil sich keine andere Frau dazu bereit erklärt. Oder lasst es mich anders ausdrücken: Françoise tut alles, um meine Familie zu beleidigen.“

      Plötzlich packte er sie an beiden Armen. „Wofür haltet Ihr Euch?“, zischte er.

      „Aua, Ihr tut mir weh!“ Sie wand sich unter seiner harten Umklammerung. Als er sie losließ, wich sie erneut zurück und rieb sich die schmerzende Stelle. „Ihr seid ja verrückt.“

      „Wenn Ihr das sagt.“ Sein Blick war undurchschaubar. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass unser Kennenlernen anders verläuft. Immerhin werden wir unser restliches Leben miteinander verbringen. Je eher Ihr Euch damit abfindet, desto besser. Diese Ehe ist nichts anderes als ein Geschäft, das von beiden Seiten geschlossen wurde. Bindend. Doch glaubt mir, ich leide nicht weniger als Ihr, denn auch ich bin alles andere als begeistert von Françoises Wahl. Ihr seid weder schön noch ansprechend, obwohl mein Vater hingerissen ist, seitdem er ein Familienportrait von Euch auf Versailles gesehen hat. Allerdings kann es mit seinen Augen nicht zum Besten stehen, wie mir scheint. Oder er hat gelogen wie alle anderen. Hinzu kommt Euer wohlgehütetes Familiengeheimnis, das ich auf mich nehmen muss. Wenn Ihr es uns also unbedingt schwermachen wollt, werde ich eine Bombe platzen lassen, die ganz Paris erschüttert. Nein, was sage ich, ganz Europa!“

      „Was wollt Ihr damit andeuten?“ Ihr Puls raste förmlich.

      Einige Sekunden starrte Philippe sie an, dann lächelte er. „Ihr habt keine Ahnung?“

      „Wovon?“

      Seine Miene wurde starr. „Wie gesagt, legt Euch besser nicht mit mir an. Ihr würdet es bitter bereuen.“

      „Wollt Ihr mir drohen? Ihr? Für den sich sogar der eigene Vater schämt? Weil er einen Sohn hat, der sich überall wichtigmachen muss, damit man ihn wahrnimmt? Oder der die Hand gegen andere erhebt, wenn ihm die Argumente fehlen?“, verhöhnte sie ihn. „Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich jetzt lachen.“

      „Tut Euch keinen Zwang an.“ Philippe deutete eine Verbeugung an. „Wir sehen uns vor dem Altar und danach werdet Ihr am eigenen Leib erfahren, ob ich tatsächlich der bin, für den Ihr mich haltet.“ Ohne dass sie darauf gefasst war, beugte er sich näher. „Oder ob ich noch schlimmer bin, als alle bisher geahnt haben“, flüsterte er unheilvoll und machte auf dem Absatz kehrt. Seine schweren Schritte dröhnten in ihren Ohren. Henriette blickte ihm nach, bis sich seine Zimmertüre schloss.

      Unbeweglich stand sie da. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was sie fühlte, war Angst. Blanke Angst. Ermattet sank sie an die Mauer. Was sollte sie jetzt tun? Und was hatte seine kryptische Anspielung zu bedeuten? Sollte Diana etwa recht haben und an der Sache war tatsächlich etwas faul?

      Lautstarkes Gelächter drang zu ihr und schreckte sie auf. Entschlossen raffte Henriette ihr Kleid und eilte zur Galerie hinunter. Die Zeit für eine Erklärung war gekommen. Egal, wie viele Gäste sich im Haus befanden, die Mutter musste ihr Rede und Antwort stehen! Doch das war leichter gedacht als getan. Der Saal platzte fast aus allen Nähten. Henriette musste sich durch Menschentrauben drängen und kam nur langsam voran. Suchend blickte sie sich um. Viele trugen hohe Perücken und versperrten die Sicht. Schrille Stimmen und grelles Gelächter verstärkten die Wut in ihrem Bauch.

      „Henriette, hier bin ich!“ Ihre Mutter stellte sich auf Zehenspitzen und winkte sie zu sich. Henriette zwängte sich zwischen zwei korpulenten Männern hindurch, die den Teufel taten und ihr Platz machten. Das anzügliche Lachen widerte sie an. Dass ausgerechnet die spindeldürre Marquise de Lion und die füllige Madame de Rohan der Mutter Gesellschaft leisteten, gab ihr den Rest. Neben diesen Tratschtanten war an ein Gespräch nicht zu denken.

      „Wo bist du gewesen?“, wollte die Mutter wissen, nachdem sie es zu ihr geschafft hatte.

      „Ein sehr aufschlussreiches Gespräch hat mich aufgehalten.“

      „Oh, worum ging es?“ Die Marquise de Lion trat näher zu Henriette und stützte sich auf dem Stock auf. Diese Frau machte ihrem Namen alle Ehre. Wie eine Löwin nahm sie die Fährte ihrer vermeintlichen Beute auf. „Meine Ohren sind gereinigt und gespitzt. Also, ich höre?“

      „Es ging um Familiengeheimnisse“, ließ sich Henriette zu einer Erwiderung hinreißen und blickte ihre Mutter auffordernd an. Mit zitternder Hand fasste sich diese an den Hals, den ein gelbes Band schmückte.

      „Interessant!“, rief die Marquise aus. „In welchem Zusammenhang?“

      „Nur allgemein“, hielt sich Henriette nun doch zurück. Ob sie Philippe glauben konnte oder nicht, das musste sie mit der Mutter alleine klären.

      „Rosalie!“, begrüßte Madame de Rohan ihre Schwester, die sich schweratmend zu ihnen gesellte und ein Glas Wein in der knochigen Hand hielt. „Schön, dass du auch schon kommst.“ Rosalie zog ein grimmiges Gesicht, bevor sie wie üblich die Unterhaltung bestritt. Ihre Worte kamen wie ein Pfeil nach dem anderen aus dem Mund, sodass man ihr kaum folgen konnte. Dabei bohrte sie ständig mit dem Zeigefinger in ihren Ohren herum und äußerte sich kritisch über den Erbfolgekrieg. Zur Abwechslung mit gesenkter Stimme. Frauen, die über Politik sprachen, waren nicht gerade beliebt bei den Männern, was Rosalie sicherlich vermeiden wollte. „Übrigens“, wurde ihre Stimme lauter, „war ich bereits vor einigen Wochen hier im Loire–Tal, um mich von meiner Lungenentzündung zu erholen. Bei einem Spaziergang mit meiner Schwester“, sie warf Madame de Rohan einen kurzen Seitenblick zu, „kamen