Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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wird mir wieder klar, wie viel Glück ich hatte, dass ich so schnell bei Oma Lotte einziehen konnte. Vielleicht sehe ich, wenn ich mit dem Schriftsatz fertig bin, mal im Internet nach, bei den Wohnungsanzeigen. Das wird sie sicher auch schon getan haben, aber möglicherweise kenne ich ja jemanden, bei dem ich ein gutes Wort einlegen könnte. Und tatsächlich: Bei den Anzeigen fällt mir eine Adresse auf, die ich irgendwoher kenne. Goldbergstraße. Wo war das nochmal? Irgendwer hat dort gewohnt.

      Ich klicke auf die Anzeige, um vielleicht Fotos des Objektes zu sehen. JA, jetzt fällt es mir ein. Das ist auch so ein größerer Hof mit mehreren Gebäuden und jetzt fällt mir auch ein, woher mir das so bekannt vorkam. Ein Bekannter meiner Eltern hat dort gewohnt und gearbeitet. Und man hat sich den Kopf darüber zerbrochen und den Mund darüber zerrissen, womit er denn genau sein Geld verdient. Wenn man ihn gefragt hat, bekam man die Antwort: „Das Wetter soll ja morgen wieder besser werden!“

      Umso spannender wurde seine Beschäftigung natürlich. Es wurden Nachforschungen angestellt. Offiziell handelte es sich um einen Saunaclub, aber sehr schnell wurde klar, womit hier wirklich Geld verdient wurde. Es gab Neugierige und Neider, und ich fand es ziemlich lustig, wie man sich darüber aufgeregt hat.

      Weniger lustig fände ich natürlich, wenn sich dieser Saunaclub dort noch befinden würde, denn das könnte man einer Familie mit Kindern überhaupt nicht zumuten. Vielleicht sollte ich mal auf die Homepage des Saunaclubs gehen, dann sehe ich, ob der noch aktiv ist. Über Google ist er gar nicht schwer zu finden, aber so wie es aussieht, sind die Seiten und der Club veraltet und nicht mehr aktiv. Na, ich sollte auf jeden Fall mal bei dem Bekannten anrufen. Jetzt aber los, Frau Roberta Hood, kümmere Dich um DEINE Baustellen.

      Im Kopf gehe ich noch schnell den Tag durch: Impftermin mit Tom, einkaufen fürs Abendessen, nach Bens Hausaufgaben sehen. Müsste gut zu schaffen sein, wenn ich nicht beim Kinderarzt zu lange warten muss. Wie gut, dass ich in diesem Quartal bereits dort war und die Versichertenkarte nicht benötige.

      „Mama, kriege ich da eine Spritze?“, fragt Tom auf dem Weg zum Kinderarzt. „Ja“, antworte ich nur knapp und versuche, das Gespräch schnell wieder auf ein anderes Thema zu lenken. „Ich hab aber Angst. Ich will keine Spritze.“ Tom lässt sich nicht beirren. Also gut. „Hör mal, das ist nur ein kleiner Piekser. So als wenn Du Dich selbst in den Arm zwickst.“ Ich zwicke mich selbst mit den Fingernägeln in den Unterarm. „Mach auch mal.“ Tom sieht mich etwas verunsichert an, macht es mir aber dann nach. „Und?“, frage ich. „Tut weh“, antwortet er knapp und sieht dabei etwas beleidigt aus. „Schon, aber nicht so, dass man es nicht aushalten kann. Einen kleinen Augenblick nur und dann ist es vorbei. Und dann darfst Du Dir ein Spiel wünschen, das wir zu Hause zusammen machen.“ Er weiß genau, dass es sowieso keinen Ausweg vor diesem Arzttermin gibt, also antwortet er nicht mehr und sieht am Fenster hinaus.

      Ich liebe gut organisierte Arztpraxen. Es dauert nicht lange, und wir sitzen im Behandlungszimmer. Die Ärztin begrüßt Tom so liebevoll, als hätte sie sich den ganzen Tag schon auf ihn gefreut. Die hässliche Spritze hat sie gut verdeckt, so dass Tom sie gar nicht erst zu sehen bekommt. Nach ein wenig Smalltalk, in der die Schwester alles Nötige vorbereitet, sagt sie zu ihm: „Huste doch mal, Tom.“ Er tut wie ihm befohlen, ohne groß darüber nachzudenken und zack, ist die Spritze schon in seinem Oberarm. „Aaau“, beschwert er sich heftig. Doch die Ärztin sagt schnell: „Ist doch schon alles vorbei. Das hast Du gut gemacht, Tom. Möchtest Du ein paar Gummibärchen?“ Er nickt ihr zu mit einem Blick, der sagt: Deshalb verzeihe ich Dir trotzdem nicht!, und will mit seiner kleinen Hand in das Glas greifen. Doch zu seiner Enttäuschung holt die Schwester ihm die Gummibärchen raus. Drei an der Zahl. Ich bin froh, dass er nichts sagt, sondern alle seine Gefühle in seinen Gesichtsausdruck legt. „Heute soll Tom sich etwas ruhig halten und 2-3 Tage keinen Sport machen“, sagt die Ärztin. „Kann sein, dass er sich etwas schlapp fühlt.“ „Ist in Ordnung.“

      Im Supermarkt schwächelt Tom schon ein wenig, also kaufe ich nur das Nötigste und wir machen uns auf dem Heimweg. Als wir später alle gemeinsam am Tisch sitzen, stochert Tom lustlos in seinem Auflauf herum und Ben sieht auch nicht begeistert aus. „Schmeckt es Euch nicht?“, frage ich nach. „Doch“, antwortet Ben wortkarg. „Was ist denn los?“, starte ich einen weiteren Versuch. „Darf ich wieder auf die Couch, ich habe keinen Hunger“, meint nun Tom. OK, ich glaube, ich hätte mir das Kochen heute sparen können. Denn jetzt ist auch mir der Appetit vergangen. Ein Blick in das Heft zeigt mir den Grund für seine schlechte Laune: Englisch-Vokabeltest morgen.

      Ich bringe Tom zurück auf die Couch und bitte Benny, das Englischbuch zu holen. „Ich will aber auch auf die Couch und fernsehen“, sagt er patzig. „Wir müssen Vokabeln lernen.“ „Mann, das ist total gemein, Tom darf fernsehen und ich muss arbeiten“, pflaumt er mich an. Irgendwie schaffe ich es, ihn zu motivieren und bin heilfroh, als wir die Karteikarten endlich wegpacken können.

      „Ich geh´ aufs Trampolin!“, ruft er und ist auch schon durch die Türe. Mal sehen, was Tom macht. Ich glaube, ich trage ihn besser direkt in sein Bettchen. Der kleine Körper ist so auf der Couch eingekuschelt, dass ich ihn erst mal zu mir drehen muss. Ich greife unter seine Beinchen, um ihn zu mir zu ziehen und bemerke mit Schrecken, dass er ziemlich aufgeheizt ist. Ich hoffe, das ist nur von der Decke. Aber ein Griff an seine Stirn und seinen Rücken lässt Böses erahnen. Also suche ich das Fieberthermometer. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es bisher nur erhöhte Temperatur ist, und das bestätigt dann auch das Thermometer. Hoffentlich bleibt es dabei. Tom ist so fest eingeschlafen, dass er gar nicht mitbekommt, wie ich ihn in sein Bett bringe.

      Was mache ich denn, wenn er morgen früh wirklich Fieber hat? Auch wenn meine Chefin Rechtsanwältin ist und weiß, dass ich zu Hause bleiben kann, wenn mein Kind krank ist, sieht die Realität ganz anders aus. Sie würde es zwar akzeptieren, es aber nicht sehr gerne sehen. Ich frag´ lieber mal nach, ob meine Mutter notfalls morgen früh kommen könnte.

      „Die is beim Kejeln, die kütt erst um zehn no Huss“, ist die Antwort meines Stiefvaters. „Hat sie denn ihr Handy mit?“ „Klar, hätt se dat mit, et is äver nit ahn. Damit dä akku jeschont witt. Dat mäht se nur ahn, wenn se et bruch.“ Manchmal frage ich mich echt, wofür wir ihr das geschenkt haben. „Weißt Du denn zufällig, ob sie morgen früh etwas vorhat?“, hake ich noch einmal nach. „Wejs ich nitt. Muss de se selves froore.“ Danke für Ihre Hilfsbereitschaft hätte ich am liebsten gesagt. Aber es hilft ja nicht. „Dann rufe ich nachher nochmal an. Oder sag ihr, dass sie mich mal anrufen soll.“ „Jo, tschö.“ Damit ist das Gespräch beendet.

      Als ich auflege, erschrecke ich mich fast zu Tode, weil im gleichen Augenblick das Telefon klingelt und Ben die Lautstärke auf „maximal“ eingestellt hat. „Sommer“, melde ich mich etwas gestresst. „Hallo Frau Sommer. Dreckmann hier. Ich wollte mal nachhören, ob Sie am Freitagabend arbeiten können? Eine Kellnerin ist krank geworden und wir haben eine Geburtstagsfeier.“ Oh mein Gott, wäre ich doch nicht dran gegangen. Schnell die Gedanken sortieren.

      „Ich muss mal an meinen Kalender gehen, kleinen Augenblick.“ Das verschafft mir etwas Luft. Freitag, was war denn da. Erst mal hoffe ich, dass Tom dann wieder fit ist. Eigentlich will ich ja – wenn überhaupt – nur an den Papa-Wochenenden arbeiten. Das aber ist mein Wochenende. Ach ja, Freitag wollte ich mit Lissy zum Badminton. Ach, alles Mist. Ich bin hin- und hergerissen. Geld ausgeben für mein Vergnügen oder Geld verdienen für Bens Klassenfahrt oder mal ein Essen bei McDonalds.

      Die Vernunft siegt schließlich und ich sage zu. „Und wie sieht es Samstag aus? Können Sie da auch?“ „Nein, Samstag geht leider nicht!“, kommt wie aus der Pistole geschossen. Meinen Abend mit Ben darf ich auf keinen Fall opfern. Das ist mir einfach zu wichtig. „Na gut, mit Freitag helfen Sie uns schon sehr. Geht 18.00 Uhr?“ „Ja, das klappt, dann bis Freitag.“

      Jetzt muss ich an die frische Luft meinen Kopf durchpusten lassen. Tief einatmen. Das entspannt. Wow, die Abendluft riecht wirklich gut. Es hat wohl zwischendurch kurz geregnet und die Luft gereinigt, das habe ich gar nicht mitbekommen. Das feuchte Gras sieht verlockend aus. Ich ziehe meine Socken aus und spaziere langsam und gemütlich an der Mauer entlang, die den Hof zur Südseite hin umschließt. Die Pfingstrosen haben ihre ersten Blüten geöffnet, in einem zarten Rosaton