Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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„Ich kapier das nicht!“ „Dann zeig doch mal her. Wo genau ist denn das Problem?“ Seine Anstrengungsbereitschaft geht mathematisch gesehen gegen „Null“. Ich sehe schon: Textaufgaben. Textaufgaben heißt für Ben: Er beginnt den Text zu lesen und gibt auf. Sein Kopf schaltet ab, bevor der erste Satz zu Ende gelesen ist. Meist versteht er die Frage schon, wenn er laut vorgelesen hat. Da mein Akku mittlerweile deutlich schwächelt, beschließe ich, das Ganze etwas zu beschleunigen.

      Also was hilft? Bestechung. Ich weiß, pädagogisch gesehen völliges No-Go. Aber heute meine einzige Rettung wie mir scheint. „Ich mach´ Dir einen Vorschlag: Wenn Du mir jetzt die erste Aufgabe laut vorliest und wir dann alle drei Aufgaben ohne Unterbrechung zusammen machen, essen wir morgen bei McDonalds.“ „Ja“, schreit er sofort begeistert, „darf ich dann zwei Happy Meals essen?“ „Aber nur, wenn Du jetzt Gas gibst.“ Das lässt Ben sich nicht zweimal sagen. Er fängt an zu lesen: „Tim läuft auf dem Sportplatz eine Runde (400 Meter) in 2 Minuten“ – „Loser“, kommentiert Benny. „Hallooo? Wie bist Du denn drauf? Lies weiter!“ „Sina läuft in derselben Zeit…..“ Schon während er das laut vorliest, sehe ich wie sich sein Gesicht verändert. Sieht aus, als hätte er eine leuchtende Glühbirne über seinem Kopf. So haben wir die erste Aufgabe schnell geschafft. Nachdem wir uns durch den Rest gequält haben und das Heft endlich zugeklappt ist, schicke ich ein Halleluja in den Himmel.

      „Darf ich denn jetzt noch zu Felix?“, kommt prompt seine Frage. „Ach Benny, das lohnt sich doch gar nicht mehr. Es ist jetzt schon so spät geworden. Geh doch einfach noch was raus auf die Fußballwiese. Aber zeig´ mir zuerst noch Dein Hausaufgabenheft.“ „Nö! Keine Lust“, antwortet er bockig. Irgendetwas sagt mir, dass nicht nur die geplatzte Verabredung hinter seiner Laune steckt. „Komm schon, umso schneller kannst Du raus.“ Wutschnaubend holt er es aus der Tasche, schmeißt es auf den Küchentisch und geht hinaus. Auf der einen Seite tut es mir leid, dass Ben sich immer alles gegenzeichnen lassen muss, aber seitdem ist es wesentlich besser geworden mit der Häufigkeit der vergessenen Hausaufgaben. Außerdem nutzen die Lehrer das Heft auch schon mal, um positive Notizen zu seiner Motivation reinzuschreiben.

      „Ben hat gut mitgearbeitet“ steht allerdings heute nicht drin. „Ben hatte heute in Mathe wieder keine Hausaufgaben.“ Oh Mist, das habe ich gestern Abend in der ganzen Aufregung gar nicht mehr kontrolliert. Aber andererseits müsste ich mich ja eigentlich darauf verlassen können, dass Paul das auch kontrolliert, wenn er am Wochenende dort ist. Ich bin gerade so sauer und muss mich zusammennehmen, um Ben nicht sofort wieder reinzuholen. Da sehe ich einen weiteren Eintrag im Heft: „Frau Sommer, könnten Sie mich bitte heute Abend anrufen? Frau Dittmann.“ Seine Klassenlehrerin.

      Schon wieder. Wie oft habe ich solche Anrufe schon gemacht. Und wie sehr ich sie hasse. Kann denn nicht mal ein Monat ohne eine E-Mail, ein Telefonat oder ein persönliches Gespräch vergehen? So schwer es mir auch fällt, ich versuche mich zu gedulden. Ich lasse Ben eine Weile spielen, bevor ich ihn hereinbitte, um mit ihm zu sprechen. „Möchtest Du erzählen, was heute in der Schule war?“, mache ich den Anfang. „Weiß nicht.“ Das ist bei ihm der höfliche Ausdruck für: Ich will es nicht sagen.

      „Es wäre mir lieber, Du erzählst es mir, als wenn ich mich heute Abend am Telefon überraschen lassen muss. Außerdem würde ich gerne Deine Seite der Geschichte hören.“ Als er an mir vorbeigeht, streiche ich ihm über den Rücken und sehe, wie er mit sich kämpft. Dann kommen die Worte langsam und gequält aus ihm heraus: „Ich hab so mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und da war die Frau Dittmann gleich genervt.“

      „Hast Du nicht den Knetball mitgehabt, den wir Dir extra dafür besorgt haben?“ Es entsteht wieder eine Pause. „Schon“, antwortet er zögerlich. „Aber?“, will ich natürlich wissen. „Den hat Herr Porsch mir in der Stunde vorher abgenommen.“ „Weil?“ Oooh, jedes Detail lässt er sich aus der Nase ziehen. „Ich hab den nur mal rüber zu David geschmissen, weil der das auch probieren wollte.“ „Wahrscheinlich quer durch die Klasse, oder?“ „Ja, was kann ich dafür, dass David ganz hinten sitzt? Und der hat ihn dann wieder zurückgeworfen und dann wollte Sophie den Ball auch mal….“ Ich ahne schon, wie das ausgegangen ist. Dann weiß ich ja, was mich heute Abend erwartet.

      Wieder spüre ich diese Zerrissenheit: Ich bin sauer, dass er wieder einmal der Grund für Chaos und Ärger in der Klasse war, bin aber auch traurig, weil es für ihn selbst schon belastend genug ist, nicht zur Ruhe zu kommen und immer das Kind in der Klasse zu sein, das man neben gute, brave Schülerinnen setzt, damit sie nicht noch mehr Ablenkung haben oder verursachen. Und diese Mädels sind meist auch nicht scharf darauf, neben dem Störenfried oder Problemkind sitzen zu müssen. Das Gespräch mit Frau Dittmann am Abend verläuft ähnlich wie sonst, mit der Ankündigung, dass Ben ab sofort wieder am Einzeltisch direkt vor dem Lehrerpult sitzt. Doch diesmal endet das Gespräch anders als gewohnt: Frau Dittmann rät mir dringend dazu, darüber nachzudenken, ob ich Benny nicht endlich Medikamente gegen ADHS geben könnte.

      Ich bin so geschockt. Sie kennt meine Einstellung zu diesem Thema nur zu gut. Ich würde alles dafür tun, ihm keine Medikamente geben zu müssen. Und ich werde auch nicht aufgeben. Als ich aufgelegt habe, bin ich so am Ende, dass ich einfach nur noch ins Bett möchte. Mühsam schleppe ich mich in den Keller, um die Wäsche aufzuhängen, bevor ich todmüde ins Bett falle.

      Kann Mutters Hühnersuppe noch helfen?

      Die Nacht war ziemlich unruhig und ich wache schon vor dem Wecker auf. Versuche nochmal einzuschlafen. Drehe mich von einer Seite auf die andere und die Gedanken tanzen Techno. Manchmal wünschte ich mir, der Tag hätte ein paar Stunden mehr, um alles unter einen Hut zu bekommen. Muss ich mich besser organisieren? Nein, eigentlich kriege ich das ganz gut hin, aber es passieren eben immer wieder Sachen, die nicht eingeplant waren und dann muss spontan alles über den Haufen geworfen und improvisiert werden.

      Da ich eh nicht mehr schlafen kann, beschließe ich, lieber aufzustehen und die Zeit sinnvoll zu nutzen. Während die Kaffeemaschine warmläuft, schicke ich Lissy eine Nachricht: „Wie war Dein Wochenende?“ Meistens ist sie es, die sich bei mir meldet, weil im Eiltempo der Woche irgendwie kaum Zeit ist. Prompt kommt das Gemecker zurück: „Sehr schön! Und Deins? Schon ein Date mit dem attraktiven Kerl klargemacht?“ Ich muss grinsen. „Nein, ein Date noch nicht, aber ich habe ihn „getroffen“. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Das muss ich ihr in Ruhe erzählen. „Lust, Freitagabend Badminton zu spielen? Muss dringend Sport machen.“ „Muss das sein?“, kommt nur zurück. „Ja, und anschließend was trinken. Meine Mutter könnte auf die Jungs aufpassen.“ „Na gut. Wohin?“ „Sportzentrum am Baumarkt, 18.00 Uhr.“ „Ok, bis Freitag. Muss ins Bett, komme aus Nachtschicht.“ In dem Moment geht oben auch schon der Wecker.

      Als wir eine Stunde später das Haus verlassen, steigt Lena gerade in ihren Wagen. Wie immer gestylt wie auf dem Weg zur Preisverleihung der Managerin des Jahres. „Guten Morgen, Annie.“ „Morgen, Lena. Sag´ mal, wir schaffen das irgendwie gar nicht mit unserem Rotwein. Diese Woche ist zwar schon eng, aber wie sieht es denn nächste Woche bei Dir aus?“ Lena denkt kurz nach. „Ab Mittwoch bin ich in Mailand, aber vorher können wir das gerne machen. Was ist denn mit dem Wochenende?“ „Das habe ich mit den Kindern schon verplant, lieber wäre mir Montagabend.“

      Na, wer sagt´s denn, wir haben es tatsächlich geschafft, einen Termin auszumachen. Ich bin irgendwie total neugierig, mehr über Lena zu erfahren, womit sie wirklich ihr Geld verdient und – natürlich – in welcher Beziehung dieser unglaublich nette Mann zu ihr steht. Wie hieß er nochmal? Verdammt, ich weiß genau, dass er es mir gesagt hat, aber ich war gerade nicht so ganz zurechnungsfähig. Das kann doch nicht sein. Superkalifragilistikexpialigetisch kann ich mir merken, aber nicht diesen Namen? Ist das ein Zeichen? Ach Annie, werd´ wieder klar und fahr arbeiten.

      „Frau Sommer, wenn gleich die Mandantin kommt, erinnern Sie mich bitte rechtzeitig daran, dass ich um 11.00 Uhr die Kanzlei verlassen muss. Ich habe noch einen Termin mit einem Kollegen in Köln.“ „OK, kein Problem.“ Der Vormittag vergeht wieder wie im Flug. Auch beim Abtippen dieses Diktates überkommt mich wieder mein Helfersyndrom. Ich kann irgendwie nicht anders. Ich höre die Stimme