Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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sagt sie lachend. „Ich denke, das wird nicht das letzte Mal gewesen sein.“ „Ganz bestimmt nicht! Ich wünsche Dir noch ein schönes Wochenende!“ „Das wünsche ich Dir auch. Und eine Schachtel Pralinen – die Auslese!“

      Diese Frau ist einfach unglaublich. Man sieht ihr überhaupt nicht an, was sie in ihrem Leben schon alles durchmachen musste. Sie blickt trotzdem voller Vertrauen in die Zukunft und steckt mich damit förmlich an. Ich winke ihr noch einmal kurz zu und hüpfe beschwingt durch den Hof, um meine Laufschuhe und die Stöcke aus dem Keller zu holen. Ich komme um die Ecke und – PENG – pralle gegen etwas. Nach dem ersten Schrecken schaue ich hoch und – erschrecke mich schon wieder. „Oh Gott!“ Ausgerechnet Lenas Bekannter. Das kann doch wohl kein Zufall sein. Eben habe ich noch an ihn gedacht und jetzt steht er hier. Habe ich mir unbewusst gewünscht, dass er kommt? Vielleicht hätte ich aber vorher darüber nachdenken sollen, dass der Zeitpunkt nicht besonders gut gewählt ist. Ich hatte heute Morgen im Bad gerade mal Zeit für eine Katzenwäsche, habe mir nur etwas Bequemes übergezogen, mir dann bei Oma Lotte die Augen aus dem Kopf geheult und 2 Gläser Sekt in mich hineingekippt. Oh Gott, ich möchte gar nicht sehen, wie ich jetzt aussehe. Ich sehe zu ihm hoch und habe keine Ahnung, was ich machen oder sagen soll. Und ich weiß noch nicht einmal seinen Namen.

      „Hallo Annie!“, sagt er. „Hallo!“, antworte ich. Oh, wie peinlich. „Michael!“ „Was?“ „Ich heiße Michael. Damit Du mich nicht immer mit Oh Gott ansprechen musst. Wieder ein Gespenst?“, fragt er amüsiert. „Nein, sorry bin im Ausnahmezustand!“, poltert es aus mir heraus. In diesem Augenblick habe ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben ein einziger Ausnahmezustand ist. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und sehe, dass ich so schnell wie möglich in mein Haus komme.

      Ich lasse mich auf die Treppe plumpsen und stecke den Kopf zwischen die Knie. Wenn ich ein Strauß wäre, würde ich meinen Kopf im Boden vergraben. Kann man denn noch peinlicher sein? „Aaah“, ich könnte laut schreien. Aber wenn Michael das draußen hören würde, meint er womöglich noch, dass ich Hilfe brauche. Vielleicht hätte er gar nicht Unrecht. Am besten lege ich mich einfach nur noch ins Bett. Oder nein, ich habe eine bessere Idee. Ich öffne die Terrassentür: Ja, das Wetter ist perfekt und so klappe ich meine Liege aus und mache es mir im Halbschatten bequem und – schlafe sofort ein.

      Eine Stunde später werde ich wach und muss mich erst einmal sortieren. Ach ja, ich habe geträumt. Von Michael und Paul, von Benny und Tom, von Brutus, von meiner Schwester und meiner Chefin. Ich glaube, ich muss dringend etwas Ruhe und Ordnung in mein Leben bringen. Ja, das werde ich tun. Also überlege ich nicht lange, hole die Walkingschuhe und Stöcke aus dem Keller und laufe los. Das ist für mich das beste Mittel, um einen klaren Kopf zu bekommen. Gesagt getan. Keine fünf Minuten später bin ich im Wald – dankbar dafür, dass ich Michael nicht noch einmal über den Weg gelaufen bin. Die frische Waldluft tut gut und schon bald erwische ich mich dabei, wie ich singend und mit bester Laune durch den Wald laufe.

      Das sollte ich wirklich öfter machen. Ich merke, wie gut mir der Sauerstoff tut und meiner Figur kann das auch nicht schaden. Automatisch lege ich bei diesem Gedanken meine Hand auf den Bauch und denke: Zweimal die Woche müsste doch genügen, um das kleine Polster wieder loszuwerden. Wie schön die Gegend hier doch ist: Der kleine Bach, der hier durch den Wald fließt, die Sonnenstrahlen, die durch die Lichtungen blitzen. Hier müssten eigentlich auch die Rehe sein, die Tom von seinem Baum aus gesehen hat. Ich lasse meinen Blick weiter schweifen und bin begeistert von der Vielfalt der Bäume und Sträucher. Auf einer Lichtung schimmern lila blühende Sträucher, von denen ich mir am liebsten einige zu Hause in die Vase stellen würde. Doch dann wären sie nach wenigen Tagen verblüht und hier kann ich sie mir immer wieder ansehen. Und die Schmetterlinge bewundern, die um die Blüten herumflattern. Im Nu ist eine Stunde vorbei und ich komme wieder zu Hause an, völlig erschöpft, aber glücklich.

      Irgendwie bin ich völlig zeitlos. Auf dem Weg in die Dusche werfe ich einen Blick auf den Wecker im Schlafzimmer. Drei Uhr nachmittags. Eigentlich wollte ich am Wochenende noch so viel schaffen, aber irgendwie hat mich dieser Tag emotional und nun auch körperlich völlig geschafft. Daher beschließe ich, jetzt nur noch das Nötigste im Haus zu tun, und mich dann ins Auto zu setzen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Wozu hätte ich denn heute Abend Lust? Ich weiß es, ich werde mir ein schönes Stück Fisch kaufen, etwas Salat und mir dann eine gesunde leckere Mahlzeit machen. Und dann einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch. Völlig entspannt.

      Es ist so ganz ungewohnt, am Wochenende mal nur Zeit für sich selbst zu haben. Natürlich vermisse ich die Jungs, aber bei dem straff durchorganisierten Ablauf der ganzen Woche bin ich jetzt eigentlich ganz erleichtert, dass ich den Tag mal so entspannt angehen kann. In den Geschäften ist eine schöne ruhige Stimmung, da die meisten Familien ihre Einkäufe schon morgens erledigt haben und so schlendere ich locker durch die Gänge und lasse mich inspirieren, was ich für das Wochenende noch gerne mitnehmen möchte.

      Die Meeresfrüchte sind im Angebot. Die sind direkt nach den unbezahlbaren Belgischen Pralinen meine absolute Lieblingsschokolade. Sehr verlockend. Aber ich wollte ja ein bisschen auf die Figur achten. Andererseits war ich ja heute schon laufen. Und morgen früh kann ich ebenfalls laufen gehen. Ach was soll´s. Denk daran, was Oma Lotte über die Pralinen gesagt hat. Also landet die Köstlichkeit in meinem Einkaufswagen.

      Und am Abend auf dem Wohnzimmertisch. Ja, so hatte ich mir mein freies Wochenende vorgestellt: Der Fisch war köstlich und ich sitze mit Bens Sonne und einer kuscheligen Decke auf der Couch. Was für ein Luxus: Endlich habe ich Zeit, mir ein Buch zu nehmen und ohne Zeitdruck zu lesen. Das Buch über ADHS, das mir die Kinderpsychologin empfohlen hat, liegt schon seit Wochen in meinem roten Bücherregal und wartet darauf, dass ich einen Blick hineinwerfe.

      So vieles kommt mir schon bekannt vor, denn im Grunde weiß ich ja, was man tun kann, um Benny zu helfen. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass es irgendwo doch noch einen Hinweis gibt, der uns weiterhilft. Die Stärken der Kinder fördern. Einer der Lehrbuchsätze, aber einer, an den ich fest glaube. Eine von Bennys Stärken ist ganz klar seine Phantasie und seine Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Und seine Hilfsbereitschaft. Das mit der Delfin-Geschichte muss ich wirklich fest einplanen. Ich beschließe, Tom am Wochenende mal einen Tag lang bei seinem Freund Max einzuquartieren und diese Zeit ausschließlich für Benny und unsere Geschichte zu reservieren. Ich höre Benny so gerne dabei zu, wenn er eine Geschichte erzählt.

      Die Gedanken wandern so durch meinen Kopf und plötzlich kommt mir eine Idee. Ja, genau das ist es. Ich bin total aufgeregt. Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Ich werfe die Decke beiseite, hole meinen Laptop aus der Schublade und drücke auf Power. Ich weiß gerade nicht, wohin mit meiner Energie, wenn ich so eine spontane Idee habe, kann es mir gar nicht schnell genug gehen. Als das Internet endlich startklar ist, gebe ich den Suchbegriff ein: Hörbuch.

      Eine Geschichte mit Benny zu erfinden, ist schon eine tolle Sache, aber diese mit seiner wunderbaren Stimme auch noch festzuhalten, begeistert mich total. Ich kenne mich aber leider damit überhaupt nicht aus, also versuche ich dank des World Wide Web die Erfahrungen der restlichen Welt für uns zu nutzen. Vielleicht gibt es ja in unserer Gegend ein Studio, das solche Aufnahmen machen könnte. Doch so schnell dieser Gedanke auch kam, genauso schnell kann ich ihn wahrscheinlich auch wieder verwerfen. Das wird bestimmt eine ganze Stange Geld kosten.

      Also google ich mich ein wenig durch die Welt der Hörbücher, um mich überhaupt erst einmal zu informieren. Vielleicht kann man ja mit einfacher Technik selbst eine Aufnahme machen. Der Abend vergeht wie im Flug. Im Hintergrund läuft eins meiner Lieblingsmusicals mit Fred Astaire im Fernsehen und ich liege mit dem Laptop auf dem Schoß im Wohnzimmer und bin motiviert und glücklich, eine neue Idee gefunden zu haben. Da ich mich bisher mit dieser Materie überhaupt nicht beschäftigt habe, nutze ich die Zeit und wandere von einer Seite zur anderen. Plötzlich erscheint auf dem Bildschirm ein Link zu einer Seite mit dem Titel: Hörbuchwettbewerb. Das macht mich neugierig.

      „Der Kinderbuch-Klassiker von Morgen“ lautet der Wettbewerb für phantasievolle Kinder-Hörbuchgeschichten, der von der Akademie „Gelbe Feder“ ausgeschrieben ist. Angenommen werden alle deutschsprachigen Einsendungen mit maximal 22.000 Zeichen. Es kann der Beginn eines längeren Manuskriptes sein,