Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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gestern gesagt hat. Sie hat Recht, es gibt so viele Dinge, die ich gerne mache, und für die ich mir nicht mehr die Zeit nehmen kann. Das erste, was mir sofort einfällt: Mir einen leckeren Kaffee machen und mich mit einem Buch wieder ins Bett zu legen. Ja, das habe ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gemacht. Schon hält es mich nicht mehr im Schlafzimmer. Ich tanze förmlich nach unten, mache die Kaffeemaschine an und schäume mir warme Milch auf. Kurz darauf liege ich tatsächlich wieder im Bett, mein Buch in der Hand und den duftenden Kaffee auf dem Nachttisch. Hmm, das ist wie in alten Zeiten. Früher habe ich das jeden Sonntag gemacht, aber diese Augenblicke sind so selten geworden, dass sie umso kostbarer sind.

      Ich weiß gar nicht, wie lange ich so gelegen und gelesen habe, als es plötzlich an der Türe schellt. Samstagvormittag. Wer kann das sein? Ich überlege, ob ich überhaupt an die Türe gehen soll. Mit meinem Schlafshirt, auf dem ein riesiger Winnie Puuh seinen Kopf in einen Honigtopf steckt, möchte ich nicht unbedingt jedem die Türe öffnen. Aber es könnte ja auch etwas Wichtiges sein. Mit diesem Gedanken gehe ich leise hinunter, um unbemerkt herauszufinden, wer vor der Türe steht. Kein Auto im Hof. Ich habe wirklich keine Ahnung. Doch meine Neugierde siegt. Ich nehme die Türklinke in die Hand und öffne die Türe einen Spalt breit. „Lotte“, sage ich erleichtert, „komm doch rein. Sorry, aber ich bin noch nicht angezogen.“ „Guten Morgen, Annie. Ich wollte Dich nicht stören. Ich habe nur gerade Brötchen gebacken und dachte, vielleicht hast Du ja Lust, mit mir zu frühstücken?“ Das ist ja mal eine schöne Überraschung. „Ja, sehr gerne“, antworte ich spontan. „Ich zieh´ mir etwas an und dann komme ich rüber, OK?“ „Ja“, freut sich Lotte, „dann bis gleich.“

      Seit unserem Einzug wollten wir immer mal gemütlich einen Kaffee trinken, aber bisher hat das noch nie geklappt. So ziehe ich mir etwas Bequemes an, nehme noch ein Glas meiner selbstgemachten Brombeermarmelade aus dem Regal und schlendere über den Pfad mit den terracottafarbenen Pflastersteinen durch unseren schönen Hof zu Oma Lotte hinüber.

      Sie hat ihre Haustüre offen gelassen, aber ich klopfe doch lieber erst einmal an. „Hallo?“ „Komm rein, Annie, ich bin hier in der Küche!“, ruft Oma Lotte um die Ecke. Hmm, wie das duftet. Warme Brötchen, frisch gemahlene Kaffeebohnen. Ich fühle mich zurückversetzt in die gute Stube meiner Omi. Sie ist nun schon so viele Jahre nicht mehr da, aber immer noch vermisse ich sie sehr. Die Erinnerungen an die Zeit mit ihr, sei es genau dieser Duft nach frisch gemahlenem Kaffee oder dem Kirschstreusel, den sie gebacken hat. Ihr ernstes Gesicht, wenn wir als Kinder sonntags nicht vor dem Mittagessen aus dem Bett kamen, ihr stolzer Blick, wenn wir ein gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht haben und ihr herzhaftes Lachen, wenn sie mit ihren Freundinnen Karten gespielt und gewonnen hat. Ich bin so dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten und trage ein großes Stück von ihr in mir.

      Irgendwie fühle ich mich jetzt bei Oma Lotte genau so „zu Hause“. „Komm setz Dich. Wie magst Du Dein Frühstücksei?“ Oh, sogar ein Frühstücksei gibt es. „Mittel, außen hart und nur in der Mitte etwas weicher, aber es darf nicht mehr flüssig sein.“ Schwierig zu erklären. „Also genau so wie mein Werner es geliebt hat. Wenn das Wasser anfängt zu kochen, noch 5 Minuten.“ Ich muss lachen: „Ja genau so mag ich es.“

      Und schon haben wir es uns an ihrem einladend gedeckten Tisch gemütlich gemacht. „Sag mal Lotte, Du sagtest eben Werner. Heißt Dein Mann nicht Edgar?“ Lotte wirkt plötzlich nachdenklich. Doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ja, Edgar ist mein zweiter Mann. Wir sind erst ein paar Jahre verheiratet. Werner war mein erster Mann und meine große Liebe, mit ihm habe ich die schönste Zeit meines Lebens geteilt.“ Die Erinnerung daran scheint sie sehr zu bewegen.

      „Wenn ich zu viel frage, dann sag mir Bescheid. Aber ich würde mich natürlich freuen, mehr über Werner zu erfahren.“ „Nein, ist schon in Ordnung. Was möchtest Du wissen?“ „Na, wie ihr euch kennengelernt habt und wie alt Du da warst.“ Während ich mein Brötchen aufschneide, fängt sie an zu erzählen:

      „Also, ich bin ja in Bonn groß geworden. Das heißt am Rande von Bonn in einer kleinen Siedlung mit Häusern, wo die Familien wohnten, denen es finanziell nicht so gut ging. Aber wir hatten eine schöne Gemeinschaft und einer war für den anderen da. Einmal im Jahr war schon damals Pützchens Markt. Auch wenn wir kein Geld für die ganzen Attraktionen hatten, sind wir immer gerne über den Markt spaziert und haben uns alles angesehen. Manchmal hat mein Vater eine Tüte gebrannter Mandeln gekauft, die wir uns dann zu fünft geteilt haben. Als ich 17 war, kam der Neffe unserer Nachbarin zu Besuch aus Aachen, weil er auch einmal diese berühmte Kirmes sehen wollte. Und seine Tante fragte mich, ob ich nicht mitgehen und ihm alles zeigen könnte. Ich bin eigentlich nicht so der geborene Gesellschafter, schon gar nicht für jemanden, den ich überhaupt nicht kenne, aber damals gab es das Wort „nein“ noch nicht in meinem Wortschatz. Also habe ich zugesagt und zu Hause gewartet, bis Frau Stumm den jungen Mann vom Bahnhof abgeholt hatte.

      Um es kurz zu machen: Als ich ihn sah, bekam ich sofort weiche Knie und ein warmes Gefühl im Bauch. Es war nicht so, dass er besonders attraktiv war, aber er hatte das gewisse Etwas und strahlende Augen, die mich sofort gefangen hielten. Es war ein wunderbares Wochenende und am letzten Tag ist er sogar mit mir über den Pluutenmarkt spaziert und hat mir von dem einzigen Geld, das er hatte, einen dünnen Seidenschal gekauft.

      Es war schlimm, als er am Sonntag zurück nach Aachen fahren musste. Damals gab es ja noch kein „Skypen“ oder wie ihr das nennt, oder Emails oder Handys. Das war für junge Verliebte gar nicht so einfach. Aber für uns war klar, dass wir uns wiedersehen mussten. Wir fühlten, dass wir für ein gemeinsames Leben bestimmt waren. Werner machte seine Lehre in Aachen fertig und dann suchten wir uns ein gemeinsames Zuhause hier in der Nähe. Unsere Eltern haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil wir so jung schon zusammenziehen wollten, aber wir ließen uns durch nichts davon abbringen. Wir waren zusammen so stark, dass wir wussten, wir können alles schaffen. Wir waren bereit, die ganze Welt aus den Angeln zu heben.“

      „Wow, das hört sich fantastisch an. Und so romantisch“, unterbreche ich sie. „Ja, es war eine wunderbare Zeit. Auch wenn wir einiges entbehren mussten, war es eine ziemlich unbeschwerte Zeit. Damals hatten wir kein Geld für ein ausgiebiges Frühstück, aber uns genügte eine Scheibe Brot und eine Tasse löslicher Kaffee. Apropos, willst Du noch einen Kaffee?“ „Gerne! Aber dann musst Du unbedingt weiter erzählen.“

      „Ja, wir haben beide viel gearbeitet, weil wir später eine Familie gründen und dafür etwas „auf der hohen Kante“ haben wollten. Unsere Kinder sollten behütet im Grünen aufwachsen, am liebsten in einem Heim, das uns später auch gehörte. Und als ich dann schwanger wurde, haben wir uns nach genau diesem Heim umgesehen. Dann haben wir diesen Hof entdeckt. Er gehörte damals dem alten Bauern Radwig. Er hatte genug von der ganzen Knochenarbeit am Hof und wollte diesen auf Rentenbasis verkaufen. Wir fühlten uns sofort zu Hause und haben das gut durchgerechnet. Mit dem, was wir zusammengespart hatten, konnten wir die ersten Jahre über die Runden kommen, so dass ich für das Kind da sein konnte. Und dann würde ich mir wieder eine Teilzeitstelle oder eine Arbeit suchen, die ich auf dem Hof machen konnte und so würden wir das gut schaffen. Soweit der Plan.“

      „Hört sich an, als wenn jetzt ein „Aber“ käme.“ „Ja, das Leben hat oftmals andere Pläne. Der Vertrag beinhaltete, dass wir den Hof auch instand hielten und hier war ziemlich viel Arbeit. Aber das hat uns nicht abgeschreckt, wir wussten ja, wofür wir das taten. Leider waren einige Arbeiten nicht ganz ungefährlich und …“ Lotte stockt kurz. Man sieht ihr an, dass die Erinnerung schmerzhaft scheint. „Wenn Du nicht weiter erzählen möchtest, ist das OK.“ Ich nehme ihre Hand und sie legt nach kurzem Zögern ihre zweite darauf. „Nein, es tut gut, das einmal zu erzählen.“

      „Lenas Haus war damals noch eine Scheune. Als ich begann, dort aufzuräumen und Werkzeuge zu sortieren, brach über mir ein Balken heraus und fiel auf mich herunter. Ich war damals im sechsten Monat. Im Krankenhaus sagte man uns, der Herzschlag des Kindes sei normal, aber man könnte nicht wissen, ob das Kind einen Schaden erlitten hätte. Das könne man erst bei der Geburt sehen. Wir haben gebetet und gehofft, dass alles gut werden würde. In dieser Zeit konnte ich natürlich nicht mehr viel helfen zu Hause und alles blieb an Werner hängen. Er hat sich nie beschwert und nach seiner normalen Arbeit hier auf dem Hof