Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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nie die gute Laune verloren und sagte: „Schatz, Ihr beide seid mein Leben und ich wüsste nicht, für wen ich das lieber tun würde.“ Mir kommen fast die Tränen, so sehr rührt mich ihre Geschichte. Aber ich wage kaum zu fragen, was mit dem Baby war, denn ich habe Oma Lotte noch nie von einem Kind sprechen hören und auch bei der Angelegenheit in der Anwaltskanzlei war nie die Rede von einem Kind.

      Lotte erzählt weiter: „Als Emma damals zur Welt kam, war das ein Tag voller Glück und auch voller Angst, wie unsere Zukunft aussehen würde. Um es kurz zu machen: Sie war so schwer verletzt worden durch den Balken, dass sie nie würde laufen können. Es zerriss uns das Herz, als man uns das sagte, und im gleichen Augenblick verzog Emma das kleine Gesicht zu einem Engelslächeln, als wollte sie uns sagen: „Hey, lasst uns nach Hause gehen und das Beste draus machen.“ Sie war so ein Sonnenschein.“

      Ich wage es nicht, Lotte zu unterbrechen und irgendetwas zu sagen. „Natürlich war das Leben hier auf dem Hof dann ganz anders, als wir es geplant hatten. Aber es stellte sich heraus, dass wir ihr nirgendwo anders so eine schöne Zeit hätten bieten können. Ich konnte nicht arbeiten gehen, da ich den ganzen Tag über für Emma da sein wollte und auch musste. Aber wir haben es uns schön eingerichtet. Wenn ich am Hof gearbeitet habe, war sie immer bei mir. Werner kam, so schnell es ging, von der Arbeit heim, um Zeit mit ihr zu verbringen. In diesen Stunden habe ich dann für die Familien aus dem Dorf Näharbeiten gemacht und die Lebensmittel, die auf dem Hof in Hülle und Fülle wuchsen, verarbeitet und uns etwas Leckeres gekocht. Herr Radwig forderte zwar auch die vereinbarten Dienste ein, aber das haben wir alles irgendwie geschafft. Es war eine anstrengende Zeit, doch wir waren sehr glücklich.

      Irgendwann erfuhren wir, dass Emma nur noch einige Jahre zu leben hatte, und sie schien es auch zu spüren. Zu dieser Zeit haben wir dann einen kleinen Goldie-Welpen geholt, Benny. Als sie den Namen erwähnt, muss ich lächeln. Der hat ihr wieder neue Kraft und neuen Lebensmut gegeben und uns auch. Es war wie ein letztes Aufbäumen. Jede kostbare Minute genießen. Jedes Lächeln auf ihrem Gesicht genießen. Ich sehe noch heute, wie sie auf einer Decke auf der Wiese im Halbschatten des Apfelbaumes liegt und Benny neben ihr, mit dem Kopf auf ihrem Bauch. So ist sie dann auch eingeschlafen.“

      Der Kloß in meinem Hals ist so dick und die Tränen laufen jetzt völlig ungehindert über mein Gesicht. „Ach Kindchen, ich wollte Dich nicht traurig machen. Natürlich war das eine schlimme Zeit, aber was am Ende zählt, ist die Zeit, die wir miteinander hatten.“ Ich muss tief Luft holen, nicke ihr zu und stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Tausend Gedanken und Gefühle wirbeln durch meinen Kopf. Da wohnt man mit jemandem Türe an Türe und weiß gar nicht, welche Geschichte sich hinter diesem Menschen verbirgt. Ich bin manchmal gestresst vom pausenlosen Bewegungsdrang meines Großen und Lotte wäre froh gewesen, wenn ihre Tochter je hätte laufen und über die Wiese tollen können.

      Als ich in den Spiegel sehe, bin ich geschockt, wie verheult ich aussehe. Ja, so bin ich, ich kann es auch nicht ändern. Gott sei Dank sind wir ja hier unter uns und niemand sieht mich so. Ich bin vor Allem froh, dass meine Kinder mich nicht so sehen können. Wieder bewundere ich Lotte, die trotz dieses Schicksals so eine positive Einstellung zum Leben hat. Jetzt muss ich noch wissen, was mit Werner passiert ist und nehme nach einem tiefen Atemzug meine Kraft zusammen und gehe zurück in die Küche. „Möchtest Du noch etwas essen?“, fragt Lotte. „Nein, ich bin pappsatt. Nur einen Saft würde ich noch gerne trinken.“ „Dann lass uns ins Wohnzimmer gehen.“

      Lotte geht voran, denn bislang waren wir immer nur in der Küche, ihr Wohnzimmer ist die eigentliche Seele des Hauses. Neben dem Kamin ist ein Sekretär, auf dem ihre ganzen Fotos stehen und ich komme mir vor, als würde ich gerade Teil dieser Familie. Wir setzen uns auf die gemütliche Couch mit dem traumhaften Blick in ihren Blumengarten. Margeriten und Ranunkeln leuchten in allen Farben zu uns herüber. Lotte hat zwei Gläser Sekt vorbereitet und reicht mir eins davon. „Ich wünsche Dir, dass Du mit Deinen Kindern hier immer so glücklich bist, wie wir es waren. Und dass ihr immer gesund bleibt.“ Ihr Gesicht sagt mir, wie sehr diese Worte ihr aus dem Herzen sprechen.

      „Ich danke Dir sehr. Ich glaube, das sind wir schon. Die Kinder fühlen sich so wohl hier und Dich mögen sie auch sehr gerne. Sag mal, darf ich noch wissen, was mit Werner passiert ist?“ „Ja, das darfst Du. Wir haben uns gegenseitig Halt gegeben und Benny hat auch seinen Teil dazu beigetragen, dass wir die Zeit überstanden haben. Wir haben Benny dann als eine Art „Therapiehund“ ausbilden lassen. Damals nannte man das noch nicht so, aber wir sind dann mit ihm in Krankenhäuser und Hospize gegangen und haben anderen Kindern damit eine Freude gemacht.“ „Genau das habe ich letztes Jahr zu Lissy gesagt: Wie gerne würde ich für die Kinder einen Hund anschaffen und ihn ausbilden lassen“, unterbreche ich Lotte, „aber mir fehlt zum einen die Zeit, mich darum zu kümmern und das Ganze ist ja auch ziemlich kostenintensiv. Ich kann mir gut vorstellen, wie erfüllend diese Aufgabe ist.“

      „Ja, das stimmt, aber auch für das Tier und seinen Herrn eine große Anstrengung. Benny hat das noch 5 Jahre geschafft, und dann ist er zu Emma gegangen. Nicht lange danach ist auch mein Werner gegangen.“ Sie hält inne und sieht sich die Fotos auf dem Kaminsims an. „Das tut mir so leid, Lotte.“ Irgendwie fehlen mir die Worte angesichts einer solch tragischen Geschichte. Doch sie antwortet: „Ist schon gut, Annie. Weißt Du, solange ich hier lebe, sind sie alle bei mir.“

      Ich nehme ihre Hand und eine Zeitlang sitzen wir einfach nebeneinander auf der Couch und schweigen. „Aber sag mal, was ist denn mit dem Vater von Benny und Tom. Den sehe ich eigentlich nie“, unterbricht sie irgendwann unser Schweigen. „Ach weißt Du, Lotte, im Vergleich zu Deiner Geschichte ist sie ziemlich harmlos, wenn auch für die Kinder traurig. Wenn ich es mit einem Lied ausdrücken sollte, fällt mir spontan diese Zeile von Falco ein: Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist! Vor einiger Zeit habe ich Paul gebeten, dass er sich doch mal etwas Zeit für seine Kinder nehmen soll und seine Antwort war: „Ich hätte auch ohne Kinder leben können. Ich tu´ nur noch, was MIR Spaß macht, und wer damit nicht klar kommt, hat Pech gehabt.“ Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zu seinem Kurschatten.“

      Lotte ist sichtlich entsetzt. „Er hat Dir ernsthaft gesagt, dass er sich mit ihr trifft?“ „Mehr als das. Er hat sogar vorgeschlagen, dass wir sie mit in unseren Sommerurlaub nehmen. Wenn ich auf die Kinder aufpassen müsste, könnte sie ihm Tauchen beibringen und abends mit ihm was trinken gehen, weil er ja keine Lust hätte, schon um zehn wegen der Kinder auf dem Zimmer zu hocken.“ Lotte schüttelt den Kopf. „Und was hast Du dazu gesagt?“ „Dass ich sie auf gar keinen Fall mitnehmen würde.“ „Und dann?“, hakt Lotte nach. „Hat er den Urlaub storniert!“, antworte ich. „Nicht im Ernst!“ Lotte kann nicht glauben, was sie da hört. „Doch, er hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass ich mich so anstellen würde.“

      „Was ist das nur für eine Frau?“, will Lotte wissen. „Naja“, antworte ich, „Frau ist vielleicht übertrieben, das Mädel war frische 20 Jahre alt.“ Wieder schüttelt Lotte verständnislos den Kopf. „Da fällt mir nichts mehr zu ein.“ „Mir irgendwann auch nicht mehr“, entgegne ich, „ich habe einfach die Hoffnung, dass er die Zeit mit den Kindern jetzt, wo er sie nur ab und zu am Wochenende sieht, wirklich zu schätzen weiß und genießen kann. Den Kindern wünsche ich es auf jeden Fall.“

      „Viele Menschen erkennen erst, was wichtig ist, wenn es zu spät ist. Irgendwann wird er merken, was er verpasst hat. Und welchen Preis er dafür bezahlt. Und was Dich angeht: Ich bin sehr gespannt, was die Zukunft für Dich noch so bereithält!“, schmunzelt Lotte. Dazu fällt mir wieder spontan ein Zitat ein: Die Mutter von Forrest Gump hat ja schon gesagt: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weißt nie, was man kriegt!, antworte ich. „Ja genau, und deshalb musst Du auch, wenn sich eine Praline anbietet, nicht über die Kalorien nachdenken, sondern zugreifen und genießen.“ Dieser Gedanke gefällt mir. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich schießt mir Lenas Bekannter durch den Kopf. Ob er eine Praline ist? Oder der Apfel aus dem vermeintlichen Paradies, den man besser nicht angerührt hätte? Na wenn ich das mal wüsste.

      Ich merke, dass mein Kopf keinen Platz mehr für einen vernünftigen Gedanken hat und fasse einen Entschluss. „Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Ich habe irgendwie das Bedürfnis, meine Laufschuhe anzuziehen und in den Wald zu