Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


Скачать книгу

blauen Himmel und bin wieder einmal dankbar, dass wir in so einer tollen Umgebung wohnen. Schöner als hier kann es auch im Urlaub nicht sein. Es sei denn, es geht ans Meer, das ist natürlich etwas Anderes.

      Pünktlich mit dem Glockenschlag komme ich zur Tür herein. Frau Dr. Holst ist schon in ihrem Büro und ruft von dort aus motiviert: „Guten Morgen!“. Ich stecke den Kopf in ihr Büro und grüße zurück. „Sie sind aber heute früh dran!“, sage ich überrascht. „Ja, ich habe gleich den Gerichtstermin mit Frau Holler und möchte mich nochmal vorbereiten, damit wir heute mit dem positiven Beschluss für das Aufenthaltsbestimmungsrecht die Verhandlung beenden können.“ „Könnte Frau Holler ihren Sohn dann schon in dieser Woche nach Hause holen?“ „Da gehe ich von aus. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Aber diesen neuen Richter kenne ich noch nicht, den kann ich überhaupt nicht einschätzen. Ich bin mir sicher, dass Frau Holler ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt hat und sie hat trotz der falschen Darstellung und der emotionalen Belastung vorbildlich mit dem Jugendamt zusammengearbeitet. Ich hoffe wirklich, dass der Richter das auch so sieht und dieses Drama endlich beendet.“

      „Ich würde es ihr wünschen. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand Lügen in die Welt setzt und man mir deshalb die Kinder wegnehmen würde, ich kann gar nicht sagen, wie verzweifelt ich wäre. Wie muss es denn dem Jungen gehen, der seine Mutter nur in Begleitung einer Mitarbeiterin des Jugendamtes sehen darf, als müsste man ihn vor ihr beschützen.“ „Das stimmt schon, aber dafür sind wir ja da, um den Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Sind Sie so nett und machen mir einen Kaffee, ich brauche noch eine halbe Stunde, dann muss ich mich auf den Weg machen. Da es eine lange Verhandlung wird, habe ich für heute keine Beratungstermine mehr angenommen. Sie können dann noch die restlichen Schriftsätze machen, die alten Akten ablegen und pünktlich Feierabend machen.“ „Das passt mir gut, ich habe heute nochmal ein Vorstellungsgespräch, oder besser gesagt, ich kann zur Probearbeit kommen.“

      Das wäre der richtige Zeitpunkt, um Frau Dr. Holst um Hilfe zu bitten. Blöd, dass sie heute so unter Zeitdruck ist. Aber nachdem ich den Entschluss gefasst habe, will ich nicht länger warten. „Apropos: Ich hätte da noch ein Anliegen“, beginne ich. Sie sieht von ihren Unterlagen auf und mich ungeduldig an. Entschlossen setze ich mich und berichte ihr von meinem Vorstellungsgespräch und diesem unglaublichen Zwischenfall. Frau Dr. Holst ist völlig außer sich und man sieht ihr an, dass sie schon bei der Vorstellung die gleiche Wut packt wie mich. Leider hat sie nicht die Zeit, sich sofort und ausführlich darum zu kümmern, aber wie erwartet liegt ihr diese Angelegenheit sehr am Herzen und wir beschließen, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen.

      Da sie immer noch ziemlich aufgewühlt ist, dauert es eine Weile, bis Frau Dr. Holst sich wieder in die Unterlagen vertiefen kann. Als sie das Büro verlässt, habe ich auch langsam meine Fassung wiedergefunden und beginne, meine Ablage zu machen. Ehe ich mich versehe, ist es schon Mittag. Auch wenn ich pünktlich hier rauskomme, ist das zeitlich alles schon sehr knapp mit dem Beerdigungskaffee. Am besten ziehe ich mich gleich hier um, damit ich schon fertig dort ankomme.

      So, noch schnell die Akten für morgen heraussuchen und dann ab in die Gästetoilette. Gott sei Dank habe ich die Sachen schon alle bereitgelegt. Mein Service-Outfit hatte ich wirklich lange nicht mehr an. Plötzlich fährt mir ein Schrecken in die Glieder. Hoffentlich passt mir die Hose überhaupt noch. Sofort steht mir der Schweiß auf der Stirn. Was, wenn die Hose nun zu eng geworden ist? Von wegen Kummerspeck angegessen und so. Augen zu und durch, es hilft nicht, Du musst die Hose jetzt anprobieren.

      Ich habe mir mal Gedanken gemacht, wie ich in solch einem Moment vermeide, in Panik auszubrechen. Und habe für mich eine Lösung entwickelt, die mal besser und mal schlechter funktioniert. In solch einem Moment frage ich mich: „Was kann mir schlimmstenfalls passieren?“

      In diesem Moment ist die Antwort: „Ich sehe aus wie eine Presswurst, habe Luftnot und versuche mit der Bluse den Anblick zu vertuschen. Wenn das nicht klappt, muss ich dort anrufen und sagen, dass ich doch kurzfristig absagen muss.“ Dann brauche ich mich aber wahrscheinlich in der ganzen Stadt um keinen Service-Job mehr zu bewerben. Also was hilft? Wünschen, dass die Hose passt!

      Mein Wunsch wird erhört, ist gar nicht so schlimm, wie ich dachte, da passt sogar noch ein Brötchen rein. Apropos, ich habe wirklich Hunger. Und mein Brot am Vormittag schon weggeputzt. Eigentlich habe ich gar keine Zeit, mir etwas zu holen, aber wer mich kennt, weiß, dass ich hungrig unausstehlich bin. Richtig aggressiv werde ich dann. Und ich soll den trauernden Angehörigen dann die belegten Brötchen und den Streuselkuchen servieren, ohne sie anzufallen und das Brötchen aus der Hand zu reißen? Das geht gar nicht. Also zwei weitere Wünsche: Die Schranke am Bahnübergang muss auf sein und vor dem Bäcker muss ein Parkplatz frei sein.

      Mit diesen Gedanken eile ich zu meinem Auto und mache mich auf den Weg. Also das wird ganz schön knapp, der Zug kommt immer zwanzig vor. Wenn ich nicht kurz vorher durch bin, stehe ich vor der Schranke und habe keine Zeit mehr für den Bäcker. Ich gebe Gas und schaffe es tatsächlich, über die Schienen zu kommen, bevor ich im Rückspiegel die rot blinkenden Lichter erkennen kann. Schwein gehabt. Der Verkehr ist erträglich und so komme ich gut durch das Städtchen. Nur noch hundert Meter und dann kommt auch schon der Bäcker. Und der Parkplatz! Glücklich parke ich ein und sehe durch das Schaufenster, ob zu dieser Zeit viel los ist. Nein, überhaupt nichts. Und warum? Weil heute Montag ist und der Bäcker zu hat! In welchem Kaff lebe ich hier eigentlich? Natürlich haben nicht alle Bäcker bei uns am Montag zu aber natürlich DIESER! Leider bleibt mir keine Zeit mehr, eine Alternative zu suchen, also fahre ich geradewegs zum Restaurant.

      Als ich dort ankomme, scheine ich schon sehnsüchtig erwartet zu werden. „Gut dass Sie da sind, Frau Sommer. Wir haben schon eingedeckt, weil wir ein Problem mit dem Bäcker hatten und die Brötchen bis eben noch nicht da waren.“ Ich hätte fast laut losgelacht. „Könnten Sie vielleicht schnell helfen, die Brötchen zu schmieren? Wir sind ein bisschen in Eile“, sagt Frau Dreckmann. „Aber natürlich, das mache ich gerne. Ich komme gerade direkt von der Arbeit und hatte auch ein Problem mit dem Bäcker. Wäre es in Ordnung, wenn ich mir ein Brötchen nehme?“ Da muss auch Frau Dreckmann lachen.

      So mag ich das Arbeiten, eine Hand wäscht die andere. Die Stimmung ist prima und ich habe gleich das Gefühl, hier würde ich mich sehr wohl fühlen. In einem Affentempo werden Brötchen geschmiert, gegessen, noch mehr geschmiert, dekoriert und auf silbernen Servierplatten angerichtet. Bevor die ersten Trauernden kommen, stehen auch der Kaffee und der Streuselkuchen bereit. Ich schaffe es sogar, in Ruhe einen Schluck Kaffee zu trinken und einmal durchzuatmen.

      Dann öffnet sich die Türe, die ersten Gäste treffen ein, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, sind schon zwei Stunden vergangen wie im Flug. Wenn ich ehrlich bin, fühlt sich diese Arbeit nicht wirklich so anstrengend an, wie ich dachte und ich freue mich, dass ich schon um halb vier Feierabend machen kann und dazu noch ein gutes Trinkgeld bekommen habe. So kann ich in Ruhe Tom abholen und bin rechtzeitig zu Hause, wenn Ben kommt.

      Als wir zu Hause ankommen, habe ich noch ein paar Minuten, also schmeiße ich ruck zuck den Herd an und zaubere etwas Schnelles auf den Tisch. Für heute müssen Nudeln mit Käsesauce genügen. Määääh, schreckt mich das Gemecker einer Ziege auf. Etwas irritiert schaue ich mich um, und dann fällt es mir ein: Stimmt ja, Ben hat den Klingelton meines Handys umgestellt. Er fand es lustig, dieses Gemecker einzustellen, wenn ich eine SMS erhalte. Sie ist von Lissy. Hatte ich ja ganz vergessen, dass ich ihr heute Morgen einen Notruf geschickt hatte. „Hallo Süße. Bin leider nicht in der Nähe, daher kann ich Dir heute nicht helfen. Ich hoffe, Du findest eine Lösung! Lg Lissy.“ Manchmal wundere ich mich über Mobilfunknetzanbieter. Da wäre ein Brief ja fast schneller gewesen.

      „Ja, alles gut“, antworte ich knapp. „Können ja heute Abend mal telefonieren.“ Da geht auch schon die Klingel und Ben steht vor der Türe. „Mama, kann ich mich denn jetzt noch mit Felix treffen?“, sind seine ersten Worte. „Hallo Benny, ich freue mich auch, Dich zu sehen. Hast Du Hunger?“ „Eigentlich würde ich lieber spielen gehen.“ „Komm doch erst mal rein, pack Deine Schultasche aus und komm mal richtig an. Außerdem musst Du zuerst Deine Hausaufgaben machen. Komm setz Dich zu mir in die Küche.“ „Och Mann, ich habe Felix aber versprochen, dass ich komme und Du sagst immer, Versprechen muss man halten.“