Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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und der Sturm sich ein wenig gelegt hatte, konnten wir uns im Freien niederlassen. Wir saßen freilich auf feuchten Grunde; bei unserer großen Müdigkeit kümmerten wir uns aber nicht daran. Der unserer Himmel blieb regendüster; unsere Gemüter dagegen klärten sich beim Frühstück auf, und da Johann während der Unterhaltung den Gesprächsstoff des vorhergegangenen Abends berührte, geriet Franz in eine lachende Lebendigkeit. Aber die gute Laune ging in den nächsten Wanderstunden abermals verloren, da immer aufs Neue stürmische Regen- und Schneeschauer los brachten und der todmatte Franz auch Zahnschmerzen bekam.

      Spät nachmittags erblickten wir die Türme von Breslau. Johann sah sie zuerst. Ich ärgerte mich, dass er diesen Ruhm errungen hatte, da ich selbst gern die große Stadt zuerst gesehen hätte. Der Anblick war erhebend für uns alle drei. Mein Herz wogte auf in wilder Begeisterung.

      Breslau!… Die große, große Stadt!… War mir doch in der Schule gelehrt worden, dass sie größer sei, als alle Städte des Regierungsbezirks Oppeln insgesamt! In meiner Einbildung lebten Vorstellungen von wolkenhohen Türmen, sechsstöckigen Häusern, meilenlangen Straßen und vornehmen Palästen; ich war begierig, die Liebichshöhe zu sehen, die Pferdebahn, den Dom und die vielen andern Kirchen, besonders aber das Haus, in dem der Bischof wohnte. Wie prächtig und wie groß musste dieses Haus sein! Der Bischof kam ja gleich hinter dem Papste! Er war so berühmt und so mächtig, dass ihm alle Pfarrer und Kapläne in ganz Schlesien gehorchen mussten. Auch die bewunderungswürdigen Plätze und Denkmäler, von denen ich gelesen und gehört hatte, sollte ich bald mit eigenen Augen schauen. Wer in meiner Heimat behaupten konnte, dass er in Breslau gewesen, war von mir als glücklicher Mensch betrachtet worden, weil er sich immerzu freuen konnte in der Erinnerung an die Herrlichkeiten, die er gesehen. Und nun sollte mir selbst dieses Wunder werden!

      „Wir sind doch schon weit in der Welt!“ sagte Johann. Doch schämte er sich sogleich seines aufwallenden Empfindens und fügte daher verächtlich hinzu:

      „Gegen Berlin und Leipzig ist Breslau gar nicht!“

      „Wenn wir jetzt nach Hause kämen und erzählen würden, dass wir Breslau gesehen haben!“ sagte Franz. „Die würden schöne Augen machen!“

      Johann meinte, in einer Stunde wären wir drin. Da bleib Franz erschrocken stehen und fragte: „Ihr wollt doch nicht hinein gehen?“

      „Wohin denn sonst?“

      „Nach Breslau geh ich nicht mit!“ rief er mit Bestimmtheit. „Lieber dreh ich um und geh nach Hause!“ Dann begann er zu weinen.

      „Bei dem pickt’s“ sagte Johann und tippte bedeutsam mit dem Finger nach der Stirn. Langsam ging ich mit Johann weiter; Franz blieb zurück und sah uns mit bittendem Gesicht nach. Sein Verhalten war mir unbegreiflich. Ich ging zu ihm hin und fragte zornig, was ihm einfalle und ob er verrückt geworden sei, oder etwa glaube, dass in Breslau die Menschenfresser wohnen. Johann forderte mich auf, den dummen Affen ruhig stehen zu lassen; ich aber fühlte trotz meines Zorns ein tiefes Mitleid für ihn und verlangte zu wissen, was ihm in den Sinn gefahren sei. Unter Schluchzen gab er mir kund, dass er nicht mit in die Fremde gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, dass wir nach Breslau gehen würden. Wir hätten ihm das bald sagen sollen; dann hätte er seinen guten Sonntagsanzug mitgenommen. In seinem schlechten Rocke könne er sich nicht in Breslau zeigen. Wenn ich ihn auch auslachte und einen einfältigen Narren nannte, besaß ich doch Verständnis für seine Gefühle. Auch ich hatte mich schon gefragt, ob es passend sei, in schlechter, nasser und schmutziger Kleidung eine berühmte Stadt zu betreten, in der ja lauter vornehme und fein gekleidete Menschen wohnten. Doch ich ließ mein Bedenken nicht merken, sondern tat so, als sei Franz auch in meinen Augen der allergrößte Narr. „Komm doch – sieh doch bloß! Zum Totlachen!“ schrie ich dem vorauseilenden Johann nach und wand und drehte und schüttelte mich so belustig beim Lachen, dass Johann, einen guten Spaß vermutend, herbeieilte. Wir lachten jetzt gemeinsam über Franz und sagten ihm, dass er der dämlichste Esel sei, den Gott geschaffen. Scherzhaft rieten wir ihm, dass er schnell umkehren solle, da ihn die Breslauer, wenn sie ihn sähen, sogleich einfangen und als Affen in den Zoologischen Garten sperren würden.

      Unser Spott erschütterte ihn nicht in seinem Entschlusse; er heulte wie ein Verzweifelnder und war nicht von der Stelle zu bringen. Da schlug ich einen anderen Ton an. Während Johann weiter höhnte und spottete und mittendrein auch bedauerte, dass er mit so einem grünen Jungen in die Fremde gegangen sei, redete ich dem verzweifelnden Freunde zu, doch endlich vernünftig zu sein und nicht im Regen auf der Straße stehen zu bleiben. Ich erbot mich, ihm mein einziges Vorhemd zu leihen und ihn mit meiner Bürste sauber abzuputzen. In Breslau – versicherte ich ihm – sei ein sauberes Vorhemd die Hauptsache; wer ordentlich um den Hals aussehe, könne getrost durch die feinsten Straßen gehen. Mit solchen Worten bewältigte ich seine Furcht, bis er mitging. Langsam, watend, immer im Regen, strebten wir jetzt der Stadt zu. Das Hemd klebte mir am Körper; so tief war schon der Regen gedrungen; die rauen Leinwandhosen klatschten mir beim Gehen schwer und nass an die Beine. Als wir die Türme der Stadt schon deutlicher sahen und auch bereits der ersten hohen Häuser zu erblicken glaubten, gingen wir von der Straße ab in ein Gebüsch und bereiteten uns dort für den Einmarsch vor. Ich gab mein Vorhemd hin, das ich selbst gern angelegt hätte; wir bürsteten die Kleider und Stiefel und kämmten unser Haar.

      Johann beteuerte wieder, dass Breslau ein elendes Nest sei im Vergleich zu Berlin; doch bürstete und putzte er so fleißig, wie Franz und ich. - - Beim schwachen Reste des Tageslichtes zogen wir dann in die Stadt ein. Soviel ich auch den Blick umherschweifen ließ, vermochte ich doch nichts von den erwarteten Herrlichkeiten zu sehen. Die Straße, die wir durchschritten, war lang und breit; aber die Häuser und Schaufenster waren nicht größer und schöner als in der kleinen Stadt, aus der wir kamen. Nur die Pferdebahn fand meine Bewunderung. Ich erstaunte über das Pferd, das mit Leichtigkeit einen Wagen ziehen konnte, der fast so groß war, wie ein Eisenbahnwagen, und ich glaubte, es müsse dressiert sein wie ein Zirkuspferd, wie es immer schnurgerade zwischen den Schienen lief. Voll Spannung verfolgte ich seinen Lauf, beständig in der Erwartung, es werde einen Fehlsprung nach rechts oder nach links machen und den Wagen zum Entgleisen bringen; doch es entgleiste kein Wagen.

      Manchmal sah ich Männer auf der Straße stehen, die dunkelblaue soldatische Uniformen und Helme trugen. Der Säbel befand sich unterhalb des Rockes; nur der Griff und unten das Ende der Scheide waren zu sehen. Das hielt ich für etwas Sonderbares. Allmählich kam ich auf die Vermutung, dass diese Männer Polizisten seien. Vielleicht keine richtigen Polizisten, da sie doch sonst wohl rote Kragen gehabt hätten und nicht so gleichgültig gewesen wären gegen uns Handwerksburschen. Sie sahen friedlich und freundlich aus, ganz anders als daheim die Polizeimänner, und achteten gar nicht auf uns, obgleich wir an einigen ganz nahe vorüber strichen. Ich gewann ein solches Vertrauen zu ihnen, dass ich kühn an einen herantrat und fragte, wo die Herberge sei.

      „In welche Herberge wollen Sie?“

      „Wenn’s eine Tischlerherberge gäbe…“

      „Geh’n Sie doch lieber in die christliche Heimat!“ riet er mir. „Dort sind Sie am besten aufgehoben. Die christliche Heimat ist in der Holteistraße.“ Er beschrieb uns die Wege und ging einige Schritte neben uns her. Ich war entzückt von seiner Freundlichkeit und hielt es für unmöglich, dass ein solcher Mensch einen anderen Menschen einsperren könne; insbesondere hielt ich ihn für einen Freund der Handwerksburschen.

      Fortan gefiel mir Breslau, obgleich ich noch kein prächtiges Gebäude, kein Denkmal und keinen hohen Turm gesehen hatte. In den Gesichtern der Menschen fand ich den gleichen Ausdruck der Güte, den ich im Antlitz des Polizisten gefunden hatte. Ich nahm mir vor, der Mutter eine Schilderung von Breslau zu schreiben und darin hervorzuheben, dass in meinem Heimatdorfe kein einziger Mensch so gut von Herzen sei, wie hier die Polizisten. Aus der Freundlichkeit der Polizei könne sie auf die Freundlichkeit der gewöhnlichen Menschen schließen.

      An einige große Schulkinder, die auf der Straße plauderten, richtete ich die Frage, wo der Bischof wohne. Sie wussten es nicht; ein Mädchen aber sagte, ich solle in das Adressbuch sehn. Auch die Kinder gefielen mir. Sie hatten artig geantwortet und höhnten nicht hinter mir her, wie es bei mir zu Hause die Kinder in einem solchen Falle getan hätten. Aber verwunderlich war es mir, dass sie nicht