Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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und ganz nahe gesehen hätte. Überhaupt war es sonderbar, dass die Breslauer alle so gleichgültig des Weges gingen – ganz so, wie die Menschen in der kleinen Stadt. Kein Gesicht verriet mir den Ausdruck des stolzen Bewusstseins, in einer berühmten Stadt leben zu dürfen. Ich sah sogar Menschen, die noch schlechter gekleidet waren als wir.

      Franz weinte wieder. Er sagte nicht, weshalb. Wenn ich ihn fragte, was ihm fehle, weinte er noch mehr.

      Endlich fanden wir die Herberge zur christlichen Heimat. Ohne Zaudern gingen wir hinein. In einem großen Zimmer, das einer Wirtshausstube ähnlich sah, saßen Gäste an den Tischen, junge Leute zumeist. Die Unterhaltung wurde in gedämpftem Tone geführt. Einige der Gäste richteten Fragen an uns; doch ich verstand sie nicht und grüßte nur. An einem frei gebliebenen Tische, ganz im Hintergrunde, ließen wir uns nieder. Franz presste beide Hände an eine Wange und schluchzte und stöhnte weiter. Er litt wieder Zahnschmerzen. Auf unsere Ratschläge hörte er nicht, und selbst Johanns eindringliche Ermahnung, einen Zigarrenstummel zu suchen und den Schmerz durch Zigarrenrauch zu betäuben, fand keine Beachtung. Immerzu lispelte er wimmernd, ihm könne kein Mensch helfen; er müsse sterben. Da wurde Johann grob und verbot ihm, uns durch sein Gewinsel zu blamieren. Er erbot sich, mit ihm hinauszugehen und den kranken Zahn mir einem Bindfaden herauszuziehen. Aus den Schnüren seines Bündels löste er einen Faden und bereitete daraus eine Schlinge. Da die Lampe nur wenig Licht nach unserem Tische entsendete und die Gäste sämtlich in ihre Unterhaltung vertieft waren, verstand er sich auf mein Zureden dazu, sein Kunststück im Zimmer zu vollbringen. Franz wurde gezwungen, zwischen Bank und Tisch auf die Diele niederzuknien, so dass die Gäste seinen Kopf nicht sehen konnten,

      „Nicht mucken! Sonst . . .“

      Johann versuchte, seine Schlinge an den kranken Zahn zu befestigen und sah sich dabei genötigt, gleichfalls unter den Tisch zu schlüpfen. Leider ging die Arbeit nicht so lautlos vor sich, wie wir gehofft hatten. Franz ächzte und stöhnte, und da er den Mund nicht so weit aufriss, wie Johann es wünschte, wurde er von diesem gescholten. Die Gäste sahen zu uns herüber und jemand rief: „Die Kunden dort werden meschugge!“

      Johann fuhr empor aus dem Versteck; auch Franz nahm seinen Platz auf der Bank wieder ein. Mehrere Personen traten zu uns heran und besahen uns mit sonderbaren Blicken. Damit sie nicht auf die Vermutung kämen, dass wir am Ende irrsinnig seien, sprach ich rasch: „Der hier hat Zahnschmerzen und weiß sich keinen Rat mehr.“

      „Zahnschmerzen? – Rausziehen! Das einfachste!“

      „Den Pfropfenzieher nehmen und rausdrehen!“

      „A’n Hammer und a Stemmeisen und rausstemmen!“

      „’s beste is eene Maulschelle, dass der Zahn vor Angst alleene raus springt.“

      „Geh zum Schmied, borg Dir eene Zange und bring se her! Ich zieh ihn raus!“

      So machten sich die herzlosen Menschen lustig über den armen Franz, und als sie sahen, dass er weinte, spotteten sie noch heftiger. Einer jedoch, ein junger blasser Mensch, nahm nicht teil an diesem Gespött; er erklärte sich ernsthaft bereit, den Zahn zu ziehen; er habe das Zahnziehen studiert und besitze die nötigen Instrumente.

      „Wenn’s nur nicht zu viel kosten möchte!“ entgegnete ich ihm zaghaft.

      „Eenen Bleier!“

      „Was ist das?“

      „Der da frägt, was ‚n Bleier is!“

      Als ob ich eine urkomische Frage gestellt hätte, lachte die ganze Gesellschaft und belustigte sich über uns. Nur der junge blasse Mensch blieb ernst. Ein Bleier, sprach er, seien zehn Pfennige. Beim richtigen Zahndoktor koste das Ausreißen drei Flachsen; er reiße den Zahn viel geschickter und verlange nur einen Bleier.

      „Ja, der kanns!“ versicherte einer aus der Schar. „Der is Rüsselschaber und Doktor.“

      „Wenn der mit seiner Zange einen Meilensteen an der Chaussee anfasst – riß! Is der Steen raus.“

      Zehn Pfennige, - das war nicht viel. „Wollen wir?“ wandte ich mich an Johann.

      „Los!“ entgegnete er, und dein Gesicht verriet, dass er sich auf das Vergnügen freute.

      „Also los!“ rief der Rüsselschaber und Doktor, nahm einen Stuhl und verließ damit das Zimmer. Franz war furchtsam, ließ sich aber von Platze zerren und in den Hof führen. Ich ging nicht mit hinaus. Die erwartungsvolle Freude der andern an dem Schauspiele war mir unfassbar, widernatürlich, empörend. Außerdem litt ich vielleicht mehr Angst, als Franz selber.

      Ein Vorgang kam mir in den Sinn, der sich vor vielen Jahren ereignet hatte. Ich sollte einst beim Fleischer einen Auftrag meines Vaters bestellen und sah bei dieser Gelegenheit, dass der Bleischergesell eine Kuh in den Schlachtraum zog. Er schlug die Kuh mit einem Stecken und rief dabei lachend einer Magd zu, die am Hoftore stand: „Komm, Therese, den Schwanz halten, damit sie stille hält, wenn ich sie ermurkse!“ Mich ergriff damals ein grauenhaftes Entsetzen vor dem Fleischergesellen; in meinen Augen war er ein Unmensch, weil er kein Erbarmen mit der Kuh empfand und noch lachen und scherzen konnte, bevor er sie ermordete. Für mein Fühlen war das etwas unerhört Widernatürliches, und schnell suchte ich fort zukommen aus dem Bereich der Blutstätte. Laut weinte ich vor mich hin und wusste nicht, ob aus Mitleid für unglückliche Kuh, oder aus Empörung darüber, dass solche Dinge in der Welt möglich waren. Ähnlich erging es mir jetzt, da Franz unter rohem Spottgelächter hinausgeführt wurde. Ich wusste, dass meine Entrüstung und Weichherzigkeit lächerlich war, dass es der Beruf eines Fleischergesellen sei, Tiere zu schlachten, und dass ein Zahn, der herausgezogen worden, keinen Schmerz mehr verursachen könne; doch das Gefühl des Abscheus verließ mich nicht.

      Was war ich doch für ein schwächlicher, weichlicher, dummer Mensch! Währen ich in Ängsten und Grauen zitterte und die Hände verstohlen an die Ohren presste, kehrte Franz, von vielen Kunden begleitet, wohlbehalten in den Saal zurück. Eilig kam er auf seinen Platz; aus den wenigen Worten, die ich ihm herauspresste, und aus der lebhaften und listigen Unterhaltung der Kunden erfuhr ich, dass er mit dem Stuhle zusammengebrochen und der Zahn im Munde geblieben sei. Aber der Schmerz hatte nachgelassen. Der Rüsselschaber kam an unseren Tisch, redete grobe, beleidigende Worte und tat so, als wollten wir ihn um seinen Lohn prellen. Ich gab ihm die vereinbarten zehn Pfennige, und befriedigt ging er davon. Wir kauften uns später ein Abendbrot. Als wir noch aßen, erschien ein Mann, den wir bis dahin noch nicht gesehen hatten, stellte sich mitten ins Zimmer, faltete die Hände und begann zu beten. Die Gäste hörten stehen zu. Nach dem Gebet stimmte der Mann ein Lied an. Uns wurde ein Buch auf den Tisch gelegt, in dem das Lied gedruckt stand; ich sang nicht mit, da mir solches Beten und Singen in einer Gaststube zu neu und zu wunderlich vorkam. Alle die Gäste, die jetzt so fromm taten, hatten kurz vorher kein Mitgefühl für Franz empfunden; hatten sich sogar an seiner Qual ergötzt und ihn verspottet. Das machte mich nachdenklich.

      Zeitig gingen wir zur Ruhe. Vorher hatten wir uns nach dem Preise des Nachtlagers erkundigt. Unser Geld reichte hin; doch nur noch eine Kleinigkeit blieb uns übrig. Vor dem Schlafzimmer angelangt, mussten wir Halt machen und Rock und Weste ausziehen, worauf zwei Angestellte der Herberge die Kragen unsere Hemden und die Nähte an unseren Unterkleidern einen peinlichen Besichtigung unterzogen. Ich erfuhr, dass jene Gäste, bei denen man verdächtige Zeichen entdeckte, auf einer Strohstreu schlafen mussten. Wir drei wurden als rein befunden und durften in Betten schlafen. Ich teilte mein Bett mit Franz; dadurch ersparten wir dreißig Pfennige.

      Der Saal, in dem wir lagen war groß und umfasste viele betten. Alle unsere zahlreichen Schlafgefährten plauderten; doch hörte ich nicht zu, und ich war auch unfähig, selber ein Wort zu sagen. Starr war ich geworden vor Müdigkeit und besaß nicht mehr die Kraft und den Willen, meine Glieder zu rühren…

      Johann verschwindet.

      Wo befand ich mich?… Zunächst wurde mir klar, dass ich in einem weichen, warmen Bette lag, und nachdem sich meine erwachenden Lebensgeister alle versammelt hatten, wurde mir kund, dass ich in der Herberge zur christlichen Heimat in Breslau weilte.

      Breslau!…