Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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junge Tag lugte durch die Fenster, und sein Schimmer war kräftig genug, den weiten Schlafsaal zu erhellen. In drei langen Reihen stand Bett an Bett; in vielen Betten lagen zwei Personen, in einem sogar drei. Bei der spärlichen Beleuchtung am Abend hatte ich den Saal nicht übersehen können; auch waren meine Sinne von der übergroßen Müdigkeit gelähmt gewesen. Alle die vielen Schlafgenossen schliefen noch; ich allein war munter. Behutsam, weil ich Franz nicht wecken wollte, hüllte ich mich fest in die warme Decke, dehnte und streckte den Körper und gab mich ganz dem kostbaren Genuss der Ruhe und der bunten Träumerei hin.

      Der Vormittag mochte schon weit vorgeschritten sein, als vom Flur her eine derbe Mannesstimmer erscholl. „Jetzt ist’s aber die höchste Zeit! Die Schlafzimmer werden ausgeräumt! Rrraus!“

      Ich weckte Franz und sprang sogleich aus dem Bett. Auch einige andere erhoben sich, darunter Johann. Die meisten blieben liegen. Wir zwei waren die ersten, die den Schlafsaal verließen. Nachdem wir unsere Papiere, die uns abends abgefordert worden waren, geholt hatten, schieden wir aus der Herberge.

      Das Wetter war trüb und der Wind fegte kalt durch die Straßen. Gedankenlos, ohne Plan, und müde, trotz der langen Ruhe, gingen wir an den Häusern entlang. Die Menschen hasteten an uns vorüber, als hätten sie alle die größte eile. Ich ließ die Blicke umherschweifen, ohne den Wunsch zu empfinden, merkwürdige Dinge zu sehen. Erst als wir eine Gegend erreichten, in der nur noch vereinzelte Häuser standen und bereits Wiesen und Äcker sichtbar waren, fiel mir ein, dass wir die viel gerühmte Gebäude, den Dom, die Liebichshöhe, das Rathaus, den Bischofspalast und auch die Denkmäler nicht gesehen hatten. Jetzt erinnerte ich mich, dass ich gern auch den Schweidnitzer Keller gesehen hätte, wie auch das Haus, in dem General Tümpling wohnte, der alle Jahre zweimal in unsere kleine Stadt zu kommen pflegte und dem zu Ehren es dann jedes Mal Parade, Zapfenstreich und Fackelbeleuchtung gab. Nur eine einzige Merkwürdigkeit war mir zu Gesicht gekommen: ein Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zum Turnvater Jahn“. Ich kannte den Turnvater Jahn aus Büchern, und da ich der Meinung war, dass er in jenem Hause gewohnt habe, freute ich mich, es gesehen zu haben.

      Keiner von uns hatte daran gedacht, in Breslau nach Arbeit zu fragen, und auch jetzt fragte keiner, wann unsere Wanderschaft enden und was aus uns werden solle. Wir konnten nicht fechten, und unser Geld war zu Ende gegangen. Nur noch wenige Pfennige besaßen wir. Meine Hoffnung ruhte auf Johann. Ich wusste zwar nicht wie er es anfangen werde, uns aus der Not zu retten; doch rechnete ich auf seinen Mut und seine Klugheit. Ein Wagen kam gefahren.

      „Dürfen wir mit?“ schrie Johann.

      Der Kutscher lud uns durch eine Handbewegung zum Aufsteigen ein, fuhr jedoch im Trabe weiter. Wir rannten dem Wagen nach; doch nur Johann erreichte ihn und klomm hingen empor. Ich wäre wohl auch hinauf gekommen; doch zögerte ich, da Franz zurückgeblieben war, und der Kutscher wartete nicht auf uns. Johann winkte vom Wagen mit der Mütze; ich winkte gleichfalls und schrie ihm zu er solle, wenn er abgestiegen, auf uns warten. Franz und ich sahen ihm neidisch nach. Wir hofften, ihn im nächsten Dorfe zu finden, und schritten tüchtig aus. Aber wir fanden ihn nicht, obgleich wir uns genau umsahen und eine Weile auf der Dorfstraße warteten.

      „Vielleicht in dem Dorfe, das jetzt kommt!“

      „Weiter also! Immer antreten, so gut es geht, damit er nicht zu lange warten muss!“

      Nach langem Marsche erreichten wir ein Städtchen, das Lissa hieß. Auch dort war Johann nicht zu erblicken. Wir waren jetzt todmüde, ach! und hungrig, doch mussten wir weiter. Denn was sollten wir ohne Johann anfangen! Weiter – weiter!… Franz weinte schon wieder. Er beteuerte, nicht mehr laufen zu können. Ich beschwor ihn, alle Kraft aufzubieten, und erklärte ihm, dass wir ohne Johann verhungern müssten.

      „Du weißt doch, wie er ist!“ rief ich. „Wenn wir ihn zu lange warten lassen, geht er ohne uns weiter.“

      Einige Schritte weit ging Franz mit; dann lehnte er plötzlich seinen Kopf an meine Schulter und sagte schluchzend, dass er sterben wolle. Wie ein kleiner Junge, der die Mutter verloren hat, flennte er und schämte sich nicht vor den Leuten, die an uns vorüber gingen und neugierig uns ansahen. Da fiel mein Blick auf ein schönes Haus, in dem ein Tischler wohnt. Über der frisch angestrichenen Tür prangte ein Schild mit hohen Buchstaben. Die Größe des Schildes gab mir die Vorstellung, dass auch die Werkstatt groß sein und viele Gesellen und Lehrjungen beschäftigen müsse. In meiner Hilflosigkeit kam ich auf den Einfall, diese Tischlerwerkstatt aufzusuchen, um für mich und Franz Arbeit zu erbitten. Da Franz nicht mit hineingehen wollte, ging ich allein. Zaghaft trat ich in das Haus. Ein Mädchen zeigte mir die Werkstatt. Behutsam klopfte ich an. Ein scharfes „Herein!“ erscholl, und als ich die Tür öffnete, trat mir ein bärtiger Mann entgegen. Er hatte schwarze, stechende Augen, und ich merkte gleich, dass er herzlos war. Meine Frage hörte er gar nicht ordentlich an; er drängte mich zurück in den Flur.

      „Hier klunkert jeder rein, der vorbeiläuft!“ sprach er grob. „Sie sind heute schon der zehnte oder zwölfte! Das fehlt mir gerade noch!“

      Ich wankte zurück auf die Straße, wo Franz mit sehnsuchtsscharfen und dennoch fast gebrochenen Augen meiner harrte. O, dass ich in der Fremde gegangen war! Hätte ich doch der Mutter gefolgt! Ich sah jetzt keine Rettung mehr. Aber wir konnten doch nicht, den Menschen zur Schau, auf der Straße stehen und weinen! Ich drängte Franz von dannen, weil ich aus dem Bereich der Leute kommen wollte, die uns beobachteten. Franz bat, ich solle mit ihm umkehren. Zu Hause könne er sich satt essen; hier müsse er verhungern. „Auch, mich hungert so sehr!“ stöhnte er weinend. Auch mich hungerte. Entsetzlich hungerte mich. Ob der liebe Gott mich vielleicht strafen wollte, weil ich in den letzten Tagen so wenig an ihn gedacht und nicht gebetet hatte? Ich bat ihn in Gedanken herzinnig um Verzeihung und klammerte mich an die Stelle im Vaterunser, die sich auf tägliches Brot bezieht. Voll Inbrunst sagte ich sie im Stillen langsam her und gewann dabei ein wenig Zuversicht. Vorläufig brauchten wir ja nicht zu verhungern; wir konnten uns Brot kaufen für die Pfennige, die wir noch besaßen. Freilich, in Lissa ging das nicht, weil ich befürchten musste, dass wir ein gar zu kleines Stück für unser Geld bekommen würden. Es blieb uns also nicht übrig, als mit heftig begehrenden Magen noch bis in das nächste Dorf zu laufen. Franz freute sich zwar auf das Brot, allein er behauptete trotzdem, dass er nicht mehr laufen könne. Aber ich fühlte: hätt’ ich ihn aufgefordert, heimwärts mit mir zu wandern, wäre gleich frisches Leben in ihn gefahren. Meine Bemerkung, dass wir auch auf dem Wege nach Hause noch tagelang darben müssten, blieb wirkungslos. So war es schwer, ihn vorwärts zu bringen.

      Lissa war mir verhasst geworden. Alle die schönen Häuser grinsten mich nun so kalt und giftig an, wie es der schwarzbärtige Meister getan hatte; mir kam es vor, als wollten sie mich fragen, wie ich es als armer Hungerleider wagen durfte, in ihre Nähe zu kommen. Mit einem Male verwandelte sich eine angelernte Weisheit in mir zur lebensvollen Überzeugung: ich wusste jetzt, dass Reichtum die Herzen verhärte. Zugleich mit dem reichen Tischlermeister hasste ich nun alle Reichen und hielt sie für Todfeinde der Bedürftigen und Bedrängten. Wohl regten sich Empfindungen versähnlicher Art in mir; aber sie wurden vertrieben durch die aufrührerischen Geister meines Hasses. O, wie ich sie hasste, die Reichen!

      Der Fechtmeister.

      Als die letzten Häuser hinter mir lagen, ward mir freier und leichter zu Sinn. Die innere Erregung hatte mich schnell vorwärts getrieben, und Franz war ein Stück zurück geblieben. Während ich auf ihn wartete, sah ich, dass hinter ihm drein ein Mann kam, der durch die Art seines Ganges auffiel. Ich glaubte, er sei betrunken, und fürchtete, von ihm behelligt zu werden, da er mit einem Stecken in der Luft herum focht und auch sonst ein wenig gefährlich aussah. Als er näher herangekommen war, sah ich, dass er trotz des nassen Weges und des schlechten Wetters rote Niederschuhe an den Füßen trug. Auch im Übrigen war er so leicht gekleidet, dass es den Anschein hatte, als könnte ihm die Kälte nicht anhaben. Da er eine schwarze Seidenmütze, wie sie von Fleischern getragen wurde, auf dem Kopfe und ein rotes Tuch um den Hals trug, hielt ich ihn für einen Metzgergesellen. Er mochte dreißig Jahr alt sein und hatte einen blonden Schnurrbart. Seinem Gange nach konnte man ihn aus einiger Entfernung wirklich für betrunken halten; denn dieser Gang hatte etwas Trippelndes, Tänzelndes, Stolperndes –