Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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hielt er es für einen großen Ruhm, unzählige Male „verschütt“ gegangen zu sein und auf diese Weise die Gefängnisse aller Länder gründlich kennen gelernt zu haben. Auf der „Drehscheibe“ – das heißt: im Arbeitshause – sei er ebenfalls schon gewesen. Erst, wenn man alle diese Dinge kennen gelernt, sei man ein „tafter Kunde“.

      Ich freute mich, diesen klugen Menschen gefunden zu haben; in machen Minuten aber ängstigte ich mich vor ihm, besonders, wenn ich daran dachte, dass er schon in allen Ländern eingesperrt gewesen. Ein Schulmeister war er in Wirklichkeit für mich. Durch ihn fand ich bestätigt, was ich manchmal schon als Lehrjunge aus dem Munde der Gesellen vernommen hatte, dass nämlich die Handwerksburschen ihre besondere Sprache hätten. Diese Sprache war mir so interessant, dass ich begierig zuhörte, wenn er mir Unterricht in der Kundensprache erteilte. Dabei vergaß ich den Hunger und die Müdigkeit. - - Franz beteiligte sich nicht am Gespräch. Schwerfällig schleppte er sich hinterdrein und weinte leise vor sich hin. Den fremden Mann aber ließ er nicht merken, dass er weinte. Ich wunderte mich, dass er das Laufen noch immer aushielt.

      Ein Dorf kam in Sicht. Mein Schulmeister deutete mit der Haselnussgerte darauf hin, belehrte mich, dass ein solcher Ort „Kaff“ genannt werde, die Bauern demnach „Kaffern“ seien – und dass ich jetzt anfangen müsse, das Dalfen zu erlernen. Er fügte hinzu, dass er Appetit verspüre und in dem Kaff eine guten „Pickus“ – nämlich etwas Zünftiges für den Magen – herausschlagen wolle.

      „Schiebt Ihr auch Kohlendampf?“

      Ich sah ihn fragend an.

      „Ob Ihr Hunger habt. Ihr Schlappschwänze?“

      „O ja! Sehr großen!“

      „Hunger haben heißt Kohlendampf schieben. Na, da sollt Ihr was erleben! Ihr seid zwar gar nicht wert, dass ich Euch das Dalfen beibringe! Ihr sollt aber sehen, dass ich ein guter Kerl bin!“

      Ein Tausch des Frohlockens durchbrauste mich; voll inniger Dankbarkeit sah ich in dem Schulmeister unsern Erretter. Auch Franz hatte begriffen, um was es sich handelte. Er beschleunigte seinen Schritt und ging mir zu Seite. In seine trüben Augen war frischer Glanz gekommen.

      „Also, soll ich Euch das Dalfen beibringen oder nicht?“

      „Wenn Sie so gut sein wollen . . .“

      „Herrgottsapperschieferdach, hört uf, mich zu siezen! Ihr seid zwar Quärge gegen mich; aber ich bin Kunde und Ihr seid Kunden. Uf der ganzen Welt – in Spanien nich und in der Türkei nich – hat noch kein Kunde den andern gesiezt. Passt uf oder es gibt gottverdammte Hiebe! Ick bin een Berliner Kind und verstehe keenen Spaß nich!“

      Mir fiel es schwer, den älteren Mann zu duzen, zumal ich einen gewaltigen Respekt vor ihm besaß. Das erste Du kam recht verschämt und kleinlaut von den Lippen.

      „Wer von Euch Rindviechern hat den meisten Mumm?“ fragte er, als das Dorf erreicht war. „Du, Dicker“, wandte er sich an mich, „Du siehst am dämlichsten aus. So einen brauch’ ich zum Renommieren. Und Du, Kleener, gehst bis hinter das Kaff und wartest auf uns!“

      Ich bekam einen Genickstoß und musste vor dem Schulmeister hertrotten, wie ein Gefangener. „Winde für Winde wird umgestoßen!“ sprach er. „Winde heißt Haus. Die kleenen Kaffern stecken am besten. Wirst Du laufen, Du verkrüppelter Usinger!“ Er versetzte mir wieder einen Stoß und deutete auf eine Zauntür. Da ich nicht schnell genug war, nahm er mich zornig an der Schulter und schob mich zu der Tür hin. Mit kalter Entschlossenheit eilte ich vor ihm her in den Hof.

      In dem elenden Hause, vor dem wir standen – dem ersten der Ortschaft – wohnten arme Leute. Am Gatter empfing uns eine Frau, die schrecklich abgezehrt aussah und krank zu sein schien. Sie klagte mit gebrochener Stimme, dass sie bald selber betteln gehen werde, da ihr Haus zu Versteigerung komme. Augenblicklich knöpfte mein Schulmeister den Rock auf und zog aus tiefen Taschen mehrere Stücke Brot hervor. „Für die Hühner, gutes Mutterle!“ sprach er gütig und überreichte der Frau die Bettelstücke.

      In mir bäumte sich etwas auf, wie das Gefühl eines erlittenen Unrechts. Franz und ich hatten noch nicht gefrühstückt – und dieser Mensch war wohl eine Stunde lang mit uns gegangen und hatte nicht gesagt, dass er Brot besitze. Jetzt sollten die Hühner das Brot fressen, während Franz und ich vor Hunger beinah umfielen.

      „Bezohl’s Euch der liebe Gott!“ sagte die Frau.

      Ich fand nicht Zeit, mich der Entrüstung und dem Grame hinzugeben; der Schulmeister ließ mich durch einen Puff verstehen, dass wir bei der armen Frau nichts mehr zu suchen hätten. Flinken Schrittes marschierten wir zum Nachbarhause.

      „Hier müssen wir Speck rausschlagen!“ raunte er mir zu.

      Mehrere Hunde sprangen uns bellend entgegen. Der Schulmeister fand Vergnügen an den wütenden Tieren. Durch Grimassen, durch Schnalzen mir der Zunge, durch Zischen und krächzende Laute, durch allerhand drohende Bewegungen reizte er sie dermaßen, dass einer von ihnen beim Bellen überschnappte und nur noch heisere Quitschtöne hervorzubringen vermochte. Ich fürchtete, der Bauer werde mit seinen Knechten herbeikommen und uns zum Tore hinaus prügeln. Auch hier erschien eine Frau am Türgatter. Aus zornigem Gesicht warf sie uns feindselige Blicke entgegen. Durch Zurufe suchte sie die Hunde zum Schweigen zu bringen, und zwischendurch gebot sie uns schimpfend, die Tiere zufrieden zu lassen. Ein kalter Schauer durchlief mich, als ich in das abweisende, böse Gesicht der Frau sah, und meine Füße gerieten ins Wanken. Der Schulmeister dagegen rief:

      „Ihre Hunde sein ja niederträchtige Äfter! Die fressen einen ja, wenn man sich nicht wehrt!“

      Darauf macht er vor dem Gatter eine komische Verbeugung, sagte: „Guten Tag, hübsche, junge Frau!“ und begann eine laute Rede.

      „Wie gut, junge Frau, dass wir Sie so hübsch allein treffen!“ – so ungefähr fing er an. „Der Herr Gemahl ist sicher zu Markte gefahren! Er bringt ihnen was Feines mit – was ganz feines! Wir kommen nicht etwa Kälber koofen; wir sind zwei ganz arme reisende und bitten um eine Unterstützung. Sehen Sie bloß das arme Jüngel da an! Das hat eine böse Stiefmutter zu Hause, und weil es immerfort bloß Prügel und Wassersuppe kriegte, ist es fortgelaufen. Jetzt quietsch es vor Hunger. – Immer ran ran, Dicker, dass Dich die Leute ordentlich sehen! Komm, quietsche, dass die junge Frau Deinen Hunger kennen lernt!… Wenn er den Rock auszieht, können Sie seine Rippen zählen. Und wenn ich ihm die Hosen ‘runterzöge, könnten Sie seh’n, wie ihn seine Stiefmutter, die alte Hexe, zerdroschen hat. Mit ’m Besen, mit ’m Rechen, mit der Mistgabel und was sie gerade in die Hände kriegte, schlug sie auf ’n los Ach, gute, liebe Frau, erbarmen Sie sich, sonst verhungert mir der Dingrich unterwegs! Zu Ihnen kommen wir ja ganz gewiss nich umsonst! Ach, Sie glooben ja gar nich, was es hier im Dorfe für geizige Gesellschaft gibt! Wissen Sie, da war da drüben in dem großen Hause eine Frau – pfui, Spucke! So vornehm tat sie, und ihre Nase reckte sie so hoch wie meine Mütze, und nicht ein Stückel trockenes Brot hat sie uns gegeben. Aber dafür geht sie sicher jeden Tag in die heilige Messe. Wissen Sie junge Frau ich und mein Freund hier, dessen Nährmutter ich bin – wir stammen auch von sehr frommen Eltern; wir kennen die heiligen Gebote und halten sie; wir gehen jeden Sonntag, den der Herrgott gibt, in die Kirche, auch manchmal unter der Woche; aber fromm tun, auf ’n Knien rutschen, dem lieben Herrgott die Füße ablecken und arme Leute verhungern lassen – nee, das hat in unserm Katechismus nich gestanden.“

      Er hatte so schnell gesprochen, dass er jetzt einer Atempause bedurfte. Anfänglich schien sich die Frau unwillig und verächtlich abwenden zu wollen; dann aber. Als er von der Frau aus dem großen Hause drüben redete, war sie aufmerksam geworden. Der Schulmeister hatte seine hohe Mütze abgenommen und strich mit den Fingern über den glänzenden Stoff. Jetzt stülpte er wieder auf den Kopf und begann abermals zu reden:

      „Wir haben seit drei Tagen keinen vernünftigen Bissen in den Mund gekriegt… Ei der Tausend! Schockschwerenot! is das hübsche Mädel da Ihre Tochter? Herrgott, hat die junge Frau schon eine heiratsfähige Tochter? Gar nicht möglich!… Nanu weeß ich genau, was ich zu tun habe! Übers Jahr werde ich Meester, lasse mir von meinen Alten das große Grundstück hinter der Hasenheide vermachten und hol mir das Mädel zu