Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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gesessen, trotz des Windes und der Kälte und meines nassen Fußes, denn meine Müdigkeit war gar zu arg… Unterwegs fragt der Schulmeister plötzlich, welcher politischen Partei wir angehörten. Franz gestand, dass er von solchen Dingen nichts verstünde; ich aber glaubte, mit meiner Belesenheit Staat machen zu können. In der Meinung, den Beifall des Schulmeisters zu finden, erklärte ich, dass ich nationalliberal sei. In der Zeitung nämlich, die mein Meister mitgehalten hatte, war die nationalliberale Partei immer gelobt worden; somit hatte sie meine Anerkennung gefunden. Wie die anderen politischen Parteien hießen, war mir unbekannt.

      „Was?“ fragte der Schulmeister verdutzt, und sprang zur Seite und über den Straßengraben hinweg. „Du bist nationalliberal?“ forschte er drüben vom Feldrande aus in einem Tone, der höchste Verwunderung, Hohn und Verachtung zugleich in sich schloss. „Wenn Du etwa nach Leubus zu den Verrückten willst, so haste hier nicht weit!“ Er sprang zurück auf die Straße und dann wieder über den Graben. „Dieser schifbeenige Schöps is nationalliberal!… Bist Du’s wirklich?“

      „Warum denn nicht?“ fragte ich beleidigt.

      Statt zu antworten, hob er einen Ackerklotz auf und schleuderte ihn nach mir. „Mach, dass du fort kommst! Mir aus den Augen, Du nationalliberales Luder! Wenn ich einen Nationalliberalen sehe, muss ich speien. Mir wird schon viel übel!“

      Seinen Grimm meidend, ging ich ihm aus dem Wege, so gut ich konnte. Da ich meine politische Wissenschaft aus der Zeitung geschöpft hatte, zweifelte ich nicht, dass ich in dieser Streitfrage der Kluge, er der Dumme war. Sein Zorn schien aber diesmal nicht so arg, als ich befürchtet hatte. Er kam an mich heran und fragte spöttisch, ob ich denn wisse, was nationalliberal sei. Er glaube nicht, dass ich es wisse; denn ich sei viel zu dämlich dazu.

      O, ich wusste genau, was nationalliberal ist! Das Unglück war nur, dass ich nicht gleich die rechten Ausdrücke zur Erklärung fand. Ich wusste, dass die Nationalliberalen kluge und gelehrte Menschen waren, dass sie die Pfaffen hassten und den gehörnten Siegfried, Otto von Bismarck, liebten. Außerdem hatte das Wort „nationalliberal“ einen schönen, erhebenden Klang. Als ich endlich meine Sinne soweit gesammelt hatte, dass ich hätte reden können, ließ mich der Schulmeister nicht mehr zu Worte kommen. Er spottete über meine Dummheit und sagte, dass er Sozialdemokrat sei. Mir wurde ein wenig ängstlich zumute, denn ich war gewohnt, unter einem Sozialdemokraten einen verrohten, zerlumpten und gefährlichen Schnapsbruder zu verstehen. In der Stadt meiner Lehrjungenjahre war diese Anschauung vorherrschend. Wenn ein verwegen und verschwiemelt aussehender Kerl sich auf der Straße blicken ließ, hieß es: „Das ist sicher ein Sozialdemokrat.“

      Nachdem sich der Schulmeister eine Zeitlang über meine geistige Beschränktheit lustig gemacht und geärgert hatte, sprach er, es sei wichtig, dass ich mich von ihm belehren lasse. Jeder Kunde sei verpflichtet, Sozialdemokrat zu sein. – Mein Gemüt lehnte sich auf gegen diese Verpflichtung; doch verhielt ich mich ruhig, weil ich ihn nicht reizen wollte und weil ich belehrende Reden zu hören hoffte.

      Er sagte, die Nationalliberalen seien noch schlechter als die Konservativen; die Konservativen aber stammten von den Raubrittern her, die nur vom Raube gelebt und sich auf Kosten des arbeitenden Volkes gemästet hätten. Das Rauben liege ihnen noch immer im Blute. Die armen Leute müssten schwer arbeiten für schäbigen Lohn, damit die Reichen – die Konservativen nämlich und die Nationalliberalen – Millionäre würden und fette Bäuche bekämen. Das müsse anders werden; eine große Revolution müsse anbrechen. Dann hielt er einen langen Vortrag, in dem ich oft das Wort „Überproduktion“ zu hören bekam. Der Kunde, der nicht arbeite, sondern in der Welt umher tippele, leiste dadurch dem Staate einen Dienst, da er sich nicht an der Überproduktion beteilige. In der Welt stelle man viel mehr Waren her, als die Menschen verbrauchen können. Schon auf Jahre hinaus sei die Welt mit Waren versorgt, und dennoch arbeiteten die Maschinen Tag und Nacht weiter. Das sei ein schlimmer Fehler. Er wolle nur an die Schuster erinnern. In Berlin gebe es eine Fabrik, die mache jeden Tag viele hundert Paar Schuhe und Stiefel fertig. Außerdem seien in Berlin mindestens zehntausend Schuhmachermeister, dreimal so viele Gesellen und zehnmal so viele Stifte. Da wäre es doch klar wie Tinte, dass so viele Maschinen und Menschen viel mehr Schuhe und Stiefel fertig brächten, als gebraucht würden. Die schreckliche Folge davon sei, dass die Schuhmacher, um ihre Kundschaft zu erhalten und neue zu finden, immer billiger und billiger arbeiten müssten, die Gesellen immer schlechtere Löhne bekämen und die Stifte immer mehr Hunger zu leiden hätten. Auch stehe der Zeitpunkt bald bevor, da es überhaupt keinem Schuster mehr möglich sein werde, Arbeit zu bekommen, außer Flickarbeit, da die Welt bereits überfüllt sei mit fertigem und billigem Schuhwerk. Schon jetzt habe er viele Schuhmachermeister kennen gelernt, die wegen Mangel an Arbeit fechten gehen mussten.

      Ich lauschte diesen Reden mit Spannung, und vor meinen geistigen Blicken enthüllten sich mächtige Bilder, die überraschen neu für mich waren. Was der Schulmeister von den Schuhmachern sagte, leuchtete mir ein. Wenn ich mir vorstellte, wie lange ein Paar Schuhe oder Stiefel aushalten müsse, bis ein neues Paar gekauft werde, und wenn ich an die vielen Schumacher dachte, die in allen Orten zu sehen waren, so begriff ich gar nicht, dass sie noch immer Arbeit finden konnten und nicht schon seit langem allesamt fechten gingen. Dachte ich gar an die Fabrik in Berlin, in der täglich viele hundert Schuhe hergestellt wurden, so fragte ich mich, warum denn die Minister so unverständig sei, eine solche Fabrik zu dulden. Wenn ich Minister wäre, hätte ich sie längst verboten. Die unglücklichen Meister und Gesellen in Berlin und die hunderttausend hungernden Stifte taten mir herzlich leid; eine schwarze Bangigkeit erfüllte mich bei dem Gedanken an das Elend, das ihnen noch drohte. Auch vom Tischlerhandwerk redete der Schulmeister und sagte, dass die Tischler noch schlimmer daran wären als die Schuster, da ein Schrank zwanzig bis dreißig Jahre, ein Schuh aber höchstes ein Jahr aushalte. Bei dieser Erklärung, die mir durchaus richtig erschien, verlor die Welt auf einmal allen Glanz für mich. Stumm und in starrer Hoffnungslosigkeit schritt ich neben dem Schulmeister dahin. Dieser meinte, dass heutzutage ein Bauernknecht besser daran sei, als ein Tischler. Mein Vormund hatte gewollt, dass ich Bauernknecht werde; er hatte gesagt, für das Handwerk fehle mir die nötige Grütze. O, wie war ich dumm und verblendet gewesen, als ich darauf bestand, Tischler zu werden! Jetzt sah ich meinen Untergang kommen! Es wäre ja frevelhaft von mir gewesen, einen Meister um Arbeit zu bitten, da doch bald die Zeit kommen musste, die allen Tischlermeistern durch Überproduktion den Zwang auferlegen würde, selber zum Bettelstab zu greifen!

      Ich erfuhr durch den Schulmeister, dass die Ursache dieser schauderhaften Übelstände in dem vielen Arbeiten zu suchen sei. Wenn man täglich nur zwei bis drei Stunden arbeiten wollte – etwa von acht Uhr früh bis zehn oder elf Uhr vormittags –, dann wäre die Welt gerettet, dann würde man so viele Arbeitskräfte brauchen, dass jeder Kund bald Arbeit bekäme und keiner mehr zu tippeln brauchte. Alle Menschen könnten dann gute Tage erleben; die Löhne wären auf einmal hoch, die Überproduktion hätte ein Ende, die fertigen Waren fänden den raschesten Absatz.

      Gegen die Forderung, dass der Mensch jeden Tag nur drei Stunden arbeiten solle, sträubte sich mein Gemüt. Es fiel mir ein, dass wir einmal einen Sarg zu bauen hatten. Für eine dicke Gastwirtin war er bestimmt. Alle in den Sargmagazinen vorrätigen Särge hatten sich als zu schmal erwiesen. Hätten wir täglich nur drei Stunden arbeiten dürfen, wäre der Sarg erst nach Tagen fertig geworden und zu spät gekommen. Gegen die Forderung des Schulmeisters sprach übrigens auch das Gebot Gottes, das da sagt, dass der Mensch sechs Tage arbeiten und erst am siebenten ruhen solle. Sie erschien mir als etwas Ungeheuerliches, das ich nicht zu erfassen vermochte. Eine andere Stimme meines Innern jedoch raunte mir zu, dass der Schulmeister vielleicht auch in diesem Punkte klüger sei, als ich, und dass ich mich daran gewöhnen müsse, solche großartigen Gedanken zu begreifen. Mein anfänglicher Glaube, von Politik mehr als der Schulmeister zu wissen, war bereits kläglich zerstoben; daher beugte ich mich vor seiner Klugheit. Nicht um mein Wissen zu bereichern, sondern um ihm fühlbar zu machen, dass ich imstande gewesen, seiner Rede zu folgen, richtete ich die Frage an ihn, wie man es den Menschen beibringen könnte, täglich nur drei Stunden zu arbeiten. Weshalb ihn diese Frage beleidigte, weiß ich nicht. Wir Brausewasser fuhr er auf, schnellte plötzlich seitwärts, bebte vor Wut und sagte:

      „Du bist tümmer, wie ein pulsches Weib! Der reene Kürbis bist Du! Die reene Wassertonne! Ein ausgemachter Strohwisch! Um jedes