Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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berufen seien, die Welt von allen Übeln zu befreien. Noch ungefähr fünf Jahre werde es dauern, dann seien fast alle Menschen Sozialdemokraten. Die gegenwärtige Regierung hole dann der Schinder. Sämtliche alten Gesetze würden abgeschafft und durch neue ersetzt. Der gesamte Ackerboden werde als Staatseigentum erklärt und zu gleichen Teilen unter die Menschen verteilt, bis jeder ein Stück Acker habe. Auf seinem Felde könne dann jeder nach Belieben arbeiten; sonst aber sei zu Vermeidung der Überproduktion das überflüssige Arbeiten bei Gefängnisstrafe verboten. Das Militär werde abgeschafft. Jeder Mann müsse schießen lernen, wie es Sitte sei in der Schweiz, und wenn es zu einem Kriege komme, müsse jeder sein Gewehr nehmen und das Land verteidigen. Richter brauche man dann nicht mehr, das es keine Spitzbuben mehr geben werde. Jeder Mensch hätte ja satt zu essen, und somit sei das Stehlen überflüssig. Die Mörder würde man durch Volksgerichte verdonnern, manchmal auch freisprechen. Wenn nämlich jemand einen schlechten Kerl totschlage, sei das kein Verbrechen, sondern eine gute Tat. Heutzutage strotze die Erde von Ungerechtigkeit. Der eine besitze zehntausend Morgen Land, der andere nichts. Wenn aber ein armer Teufel sich ein wenig ins Gras lege, so komme der Gendarm und sperre ihn ein. Das sei erklärlich, da doch die Gesetze von reichen Ruppsäcken gemacht würden. Später werde das Volk die Gesetzte machen. Heute sei es so: wer Millionen zusammengaunere und stehle, bekomme Orden; wer aus Hunger eine Wurst stibitze, komme ins Zuchthaus. Der Dummkopf könne heute, wenn er Beamter sei, gescheite Menschen anschnauzen; später würden die Dummköpfe das Maul halten müssen. Zum Schluss erfuhr ich noch, dass die Sozialdemokraten große Staatswerkstätten gründen werden, aus denen jeder Staatsangehörige jährlich zwei Anzüge, zwei Paar Stiefel und viele andere Dinge bekommen solle, die zum Leben nötig seien. Dafür habe dann der Empfänger weiter nichts zu zahlen, als seine Steuern.

      Nachdem ich diese Erklärungen vernommen, war ich nicht mehr nationalliberal. Sozialdemokrat aber auch nicht; denn obzwar ich jetzt den Schulmeister als einen Propheten und Welterretter betrachtete, gelang es mir nicht, den Widerwillen gegen die Sozialdemokraten aus meiner Seele auszurotten. Er war darin zu fest gewurzelt. Mir wurde klar, dass es zwei Sorten von Sozialdemokraten gäbe: ein, die klug sei und die man lieben, eine andere, die Branntwein trinke und die man fürchten müsse. Der klugen Sorte, zu der ich den Lackierer zählte, gehörte mein Herz. Sehnlich wünschte ich die baldige Ankunft der glücklichen Zeit, die er verkündet hatte, und wenn er verlangt hätte, ich solle schwören, dass ich mich an der ausbrechenden Revolution beteiligen werde, würde ich sofort mit ehrlichem Gewissen geschworen haben. Doch ich wollte kein Sozialdemokrat sein; das Wort hatte für mich einen abscheulichen Klang.

      Ob Schiller ein Sozialdemokrat gewesen war?… Die Frage kam mir plötzlich in den Sinn, und ich zögerte nicht, sie auszusprechen.

      „Schiller? Und ob der einer war, Du Schafskopf! Schiller und Goethe gehören zu uns! Kennst Du nicht das Lied: Zu Mantua in Banden?“

      „Den Anfang kenn’ ich!“

      „Solche Lieder muss man ganz auswendig kennen. Das hat Schiller gedichtet und das ist ein sozialdemokratisches Lied, Du Holzkopf!“

      Ich hatte das Gedicht in dem Buche von Schiller nicht gefunden und glaubte daher, dass es in einem der Bänder enthalten sei, die ich nicht kannte. Meine Bewunderung wuchs immer mehr; ich zählte den Lackierer jetzt zu den Gelehrten und Gebildeten, da er Schiller und Goethe kannte. Ich bat ihn, das Lied einmal aufzusagen, damit ich es auswendig lernen könne; diese Bitte verdross ihn aber und er sagte nur – dabei begann er zu springen und sich zu schütteln – das Lied sei viel zu gut für mich; ein solcher Einfaltspinsel, wie ich, brauche es nicht zu hören! Das war die schlimmste von allen Schmähungen, die ich bisher durch ihn erduldet hatte. Er hielt mich nicht für würdig, ein Gedicht von Schiller zu hören – mich, der ich doch die innerste Überzeugung hegte, dass Schiller der beste, der edelste und berühmteste aller Menschen war, und der ich doch Bescheid wusste in der Dichtkunst. Ich war ein unbeholfener und erbärmlicher Mensch; ich gab dem Lackierer im stillen recht, wenn er mich einen Schafskopf, einen Holzkopf und einen Einfaltspinsel nannte; doch in meinem Innern lebte etwas Heiliges, Hohes, Großes und Starkes, durch das ich zuweilen emporgehoben wurde aus meiner Niedrigkeit – hoch empor, so dass ich mich geistig verwandt fühlte dem großen Friedrich von Schiller; und wenn dieses wunderbare Heiligtum meines Lebens verkannt und verhöhnt wurde, so lehnte mein Stolz sich trotzig auf und der Zorn bewegte mir die Lippen zu scharfer Abwehr des verletzenden Hohns. Aber ich war gezwungen, die Lippen geschlossen zu halten und die Schmähung still zu erdulden. Hätte ich dem Lackierer erklärt, dass ich selbst ein Dichter sei und vielleicht einmal ein sehr berühmte Mann sein werde, würde er mir keinen Glauben geschenkt und mich entsetzlich verspottet haben. Er hielt mich ja für so grenzenlos dumm… O, hätte ich ihm doch das vertauschte Kind vorlesen können! Aber – er ließ mich ja nie zu Worte kommen!… Wenn ich doch Arbeit fände! Und wenn der Meister ein freundlicher Mann wäre! Wie ich dann schuften und nebenbei dichten wollte! Und Ruhm wollte ich mir dann erwerben, gewaltig viel Ruhm, dass die Welt über erstaunen sollte! Dann müsste auch der Lackierer zu mir kommen und reuevoll eingestehen, dass er mich einst böse verkannt habe. Um Verzeihung sollte er mich bitten und zu Strafe das Lied „Zu Mantua in Banden“ hersagen. An diesem Gedanken richtete sich mein verwundeter Stolz wieder auf – und der ohnmächtige Grimm legte sich…

      Auch der Lackierer wurde wieder guten Sinns. Er zog einige gedruckte Papiere aus der Tasche und sagte, das seien sozialdemokratische Flugschriften. Eines der Blätter gab er mir zur Ansicht und erklärte, es sei von allen Blättern das Beste. Als er zum ersten Male gelesen, habe er sich halb tot darüber gelacht. Ich las es, doch verstand ich den Sinn des Inhalts nicht recht. Es handelte von einem Oberst in Dresden. Er war mit Namen genannt und führte den Beinamen Quarkmichel. Seine Soldaten hießen Latschkenfritzen.

      Der Schulmeister entriss mir das Blatt. „Du verstehst ja doch nicht davon, Du Dämlack!“ rief er grob. „Mit so einem Säugling lässt unsereiner sich ein!… Geh’ mir aus den Augen!“ Wütend erhob er die Haselgerte zum Schlage, und ich wich zurück. In Zickzacklinien trippelte er ein Stück vorwärts, wandte sich dann nach mir um und schalt mich ein nationalliberales Luder. Ich wagte irgendein keckes Gegenwort und reizte ihn dadurch noch mehr zu Wut. Er drohte, mich totzuschlagen und in den Graben zu werfen, hielt mir wieder die Feigheit vor, deren ich mich dem Leutnant gegenüber schuldig gemacht, und schrie, ich hätte einen Kunden schändlich in Stich gelassen, weshalb kein tafter Kunde mehr mit mir reden und mit mir tippeln dürfe. Eine miserable Schildkröte sie ich, ein Lump. Vor Hunger solle ich im Graben krepieren, und die Raben mögen mich dann fressen…

      „Komm, Kleener, wir beede tippeln zusammen!“

      Diese Aufforderung war an Franz gerichtet, der bislang schweigend und teilnahmslos, nur über sein Unglück nachsinnend, hinter uns drein marschierte. Jetzt blieb er stehen und schien unschlüssig zu sein, welcher Partei er sich anschließen solle. Ich erkannte an seinem Gesicht, dass er geneigt war, meinem Feinde zu folgen. Da ergriff ich ihn fest am Arme – ich weiß nicht, aus welcher Ursache – und schrie ihn an:

      „Du gehörst zu mir!“

      Durch diese Heftigkeit gewann ich ihn für mich. Auf sein unentschlossenes Gemüt wirkte sie entscheidend.

      „Na, kommste, oder kommste nicht?“ rief der Lackierer fragend.

      Da presste ich den Arm des Freundes noch fester. „Du gehörst zu mir!“

      „Nehmen Sie’s nicht übel! Er ist mein Lehrkollege!“ sagte Franz bittend.

      Der Lackierer lachte gell, und sein Lachen war Wut. „Nehmen Sie’s nicht übel!“… äffte er in verzerrten Lauten meinem Begleiter nach und wand sich dabei vor Wutlachen. „Einen Kunden redet diese Kreatur mit „Sie“ an. Und mit solchen Mücken hab ich mich abgegeben!“ Er stand vor uns, höhnte, schimpfte, fuchtelte mit der Hasengerte und drohte, uns umzubringen. In weiter Runde war kein Mensch zu schauen, der uns hätte zu Hilfe eilen können; dem Zorne des schrecklichen Menschen waren wir preisgegeben. Langsam wichen wir zurück; er aber kam uns immer näher, und seine Gerte fauste dicht vor meinem Gesicht. Ich hielt Franz noch immer fest. Darüber ärgerte sich der Lackierer anscheinend am meisten; aus seinen Schimpfreden ging das hervor. - - Wir befanden uns in der Nähe eines Fahrweges, der von der Landstraße ab nach einem Dorfe führte,