Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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Personen davonliefen oder uns verbargen, weil sie in der Entfernung dem Lackierer ähnlich sahen. In den Rocktaschen trugen wir beständig Steine, um gerüstet zu sein, wenn er etwa plötzlich aus einem Hinterhalt auf uns zustürzen sollte. Franz musste geloben, mit mir sein Leben zu wagen für unsere Ehre.

      Das schöne Tal.

      Die böse Not zwang uns zu der Probe, ob wir durch den Schulmeister einige Kenntnisse in der Fechtkunst erlangt hätten. Ich bildete mir ein, ein gelehriger Schüler gewesen zu sein, und wenn ich meinem Begleiter auseinandersetze, wie man es anfangen müsse, um recht mit Erfolg zu dalfen, erfüllte mich dabei das hohe Bewusstsein, dass ich ein tafter Kunde sei.

      „Nur immer recht forsch und herzhaft! Das ist die erste Hauptsache!“

      Wohl drangen wir herzhaft in die Bauernhöfe ein; wenn wir aber vor den Leuten standen und unsere Bitte vortrugen, machten wir dabei keine herzhaften Gesichter. Wir begingen den Fehler, dass wir Mitleid und Erbarmen zu wecken suchten. Der Lackierer hatte nicht gebettelt, er hatte gefordert und so getan, als seien die Menschen verpflichtet, reisende Handwerksburschen zu unterstützen. An vielen Orten wurden wir abgewiesen, oft mit Worten, die so weh taten, dass wir dem Weinen nahe waren. Andere Gaben als trockenes Brot und hier und dort einen Pfennig oder ein Zweipfennigstück bekamen wir nicht. Ich wusste ganz gut, dass es unklug von uns war, klägliche Elendsmienen aufzusetzen, statt lustig und keck aufzutreten; doch gelang es mir nicht, dem Beispiel des Lackierers zu folgen.

      Fünf oder sechs Tage zogen wir in Niederschlesien umher und dachten dabei nicht an die Möglichkeit, Arbeit zu finden; auch erörterten wir nicht die Frage, welchen Zweck unser Wandern habe und wohin es führen sollt. Die einzige Aufgabe, die wir uns an jedem Morgen stellten, war der Vorsatz: mit dem Dalfen nicht eher Feierabend zu machen, bis eine Mark beisammen wäre. Da wir immer frühzeitig aufstanden und bereits vor Sonnenaufgang marschierten, hielten wir den vor uns liegenden Tag für unendlich lang, und so glaubten wir, dass es eine Kleinigkeit sei, während der vielen Stunden hundert Pfennige zusammen zu fechten. Wir mühten uns fleißig; und dennoch, wenn der Abend dunkelte, betrug unser Schatz gewöhnlich nur vierzig bis fünfzig Pfennige. So schnell waren uns die Tage noch nie vorübergegangen. Als wir noch in der Werkstatt arbeiteten, wollten sie manchmal gar kein Ende nehmen.

      Nachtquartier fanden wir in Dorfwirtshäusern, wo wir keine willkommenen Gäste waren. Gewöhnlich murrten die Wirtsleute und meinten, es wäre besser gewesen, wenn wir in ein anderes Gasthaus gegangen wären. Behielten sie uns, so durften wir im Pferdestall oder auf dem Strohboden oder auf Streu in der Schenkstube schlafen. An Schlafgeld bezahlten wir gewöhnlich zwanzig bis dreißig Pfennige. Reichte das Geld aus, dann ließen wir uns am Abend eine Suppe oder einige Kartoffeln kochen.

      Einmal gingen wir in der Abenddämmerung durch einen stillen Wald. Der Tag war sonnenklar und warm gewesen; sein lachendes Leuchten hatte verklärend eingewirkt auf unsere Gemüter. Das Glück war uns beim Dalfen ungewöhnlich günstig gewesen; auch hatten uns zwei Tischlermeister, bei denen wir vorgesprochen, angenehm beschenkt. Dazu kam, dass wir bei einem Schmiedemeister ein gutes Mittagessen und in einem Hochzeithause jeder ein Stück Kuchen erhielten. Beruhig konnten wir der Nacht entgegensehen; unsere Kasse gab uns guten Trost… Feierlich still war der Wald. Kein Luftzug bewegt die Wipfel und Zweige. Fern in den Bäumen flötete ein Vogel. Ein Wandervogel vielleicht, der heimgekehrt war von der Reise. Franz bückte sich und pflückte ein Kräutlein. „Das ist heuer schon gewachsen“, versicherte er. Er war den Frühling gewahr worden, - er, dessen Empfindungswelt sonst nur Gedanken an seine Müdigkeit, an seine wunden Füße, an Hunger, Heimweh und Reue aufkommen ließ.

      „Wie alles schon wächst!“ sprach er, „Hier muss es im Sommer viele Heidelbeeren geben… Weißt Du noch, wie wir voriges Jahr bei mit zu Haus in den Heidelbeeren waren?“

      „Ja ich weiß! Deine Schwestern waren dabei.“

      „Und die Berta war so lustig. Die hat fortwähren Unsinn mit Dir getrieben.“

      „Die Berta ist meine Braut. Sie hat gesagt, wenn ich erst ein reiche Meister bin, soll ich zu ihr kommen und sie heiraten.“

      „Du irrst Dich! Das hat die Marie gesagt… Was mögen sie jetzt machen?“

      „Vielleicht die Kühe füttern und melken.“

      „Sie denken gewiss an mich… Wenn ich doch jetzt hinfliegen könnte!“

      Eine urmächtige Sehnsucht ergriff ihn, und er weinte. Er weinte lauter, immer lauter, und ließ sich nicht beruhigen. Ich bat ihn, kein einfältiges Kind zu sein und kein Narr; zürnend macht ich ihn darauf aufmerksam, dass er sich schämen müsste, wenn jemand zufällig des Weges käme. Da erklärte er in Jammerlauten, dass er nicht weiter mitgehen, sondern umdrehen wolle. Ärgerlich ging ich voraus, und langsam, widerstrebend, kam er hinterdrein. Er weinte noch immer und machte mir den Vorwurf, dass ich schuld sei an seinem Unglück. Er sei nicht willens gewesen, so weit in die Welt zu gehen; ich aber hätte ihn immer weiter und weiter gelockt. Zum ersten Male seit unserem Aufbruch sprach er in solch’ herber Weise zu mir. Ich empfand seine Worte als kränkendes Unrecht und verteidigte mich.

      Der Wald war zu Ende und der Weg machte eine Biegung. Überrascht blieben wir stehen. Ein wundersames Naturbild bot sich unseren Blicken dar. Wir sahen ein buntes Tal, das von dunklen, hohen Wäldern eingeschlossen war, und erkannten, dass wir uns auf einer beträchtlichen Höhe befanden. Zur Rechten des Weges stürzte sich ein felsiger Abhang schräg hinunter in eine Tiefe, deren Anblick mich so schwindelig machte, dass ich zaghaft auf die andere Seite des Weges trat. Unten am Abhang, Turmtief unter uns, standen einige kleine Häuser. Sie erinnerten mich an hölzerne Schäferhäuschen, wie sie die Kinder aus Spielzeugschachteln nehmen und auf den Tisch stellen; so niedlich und gering sahen sie aus auf der weiten grünen Fläche. Inmitten des Tals wohnten viele Menschen. Aus einem Gewirr von ziegelroten Dächern ragten zwei Kirchtürme schlank empor.

      „Wie das alles aussieht!“ sprach ich zu Franz. „Sieh nur die Dächer und die Türme! Als ob sie mit weißer oder roter Tusche auf dunkles Papier gemalt wären!“

      „Das ist eine Stadt!“ sagte Franz.

      „Meinst Du? Ich glaube eher, dass es zwei oder drei Dörfer sind, die nah beisammen liegen.“

      Auf allen den vielen Meilen, die wir gewandert, hatten wir keine Landschaft gesehen, die viel anders gewesen wäre, als die Gegen bei uns daheim. Die Welt, die sich jetzt vor uns aufgetan, war überraschend für uns. Nie vorher war mir klar geworden, dass eine schöne Gegend den Menschen entzücken könne. Jetzt auf einmal begriff ich die Menschen, von denen ich schwärmerische Lobreden auf die Herrlichkeit der Natur vernommen hatte. Natur war eben nur Natur für mich gewesen – etwas Selbstverständliches, das wir immerzu vor Augen haben und worüber zu reden sich nach meiner Ansicht nicht lohnte. Gemalte Bäume, gemalte Häuser, Flüsse, Teiche, Gärten, Felder und Wälder – ja, das war schön! Besonders, wenn die Bäume in Blüte standen, oder wenn Rosen und andere Blumen auf den Bildern prangten! Solche Bilder anzuschauen, ward ich nicht müde. Ein gemalter Schmetterling war für mich ein berückendes Wunder; dem Gaukelspiele des lebenden Schmetterlings sah ich gleichgültig zu.

      Ein Bild hatte eins einen unvertilgbaren Eindruck in meiner Seele erzeugt. Das war ein Prämienbild, das in der guten Stube der Gastwirtin in meinem Heimatdorfe hing. Diese Frau hatte einen Räuberroman in Lieferungen mit anderen Abnehmern gehalten und das Bild als Beigebe bekommen. Von meinem Vater war es eingerahmt worden. Das Bild hieß „Die Insel der Glückseligkeit“. Ich weiß nicht, waren es die bunten Farben, oder war es die märchenhafte Unterschrift, oder beides zusammen, was in der Knabenbrust so seltsam-phantastisch süße Regungen, so unendliche Sehnsucht wachgerufen. Oft in Stunden der Einsamkeit dachte ich an das buntprächtige Gemälde; im Geiste sah ich den von der Sonne beleuchteten Rasen der Gärten, die dunkelgrünen Schatten, die hohen, breit ästigen Bäume, die rot und blau und gelb und weiß blühenden Gebüsche, die Blumen auf den Beeten, die stillen, blauen Wasser und die weißen Häuschen, die gastlich aus der Tiefe der Gärten schimmerten – –, und ich bevölkerte diese Insel dann mit starken, klugen Männern und schönen Frauen, denen alle Erbärmlichkeiten der sonstigen