Charline Dreyer

Mirabili


Скачать книгу

mich an der Schulter des Mädchens rechts neben mir fest. Sie schaut mich an, scheinbar besorgt – ich kann es nicht genau erkennen – und redet auf mich ein. Es hört sich an, als hätte sie mir eine Frage gestellt, doch ich verstehe sie nicht.

      „Was sagst du?“, stöhne ich. Mein Kopf schmerzt so sehr, als würde meine Schädeldecke zersplittern. Ich sinke zu Boden, halte mir die Ohren zu. Das Quietschen wird lauter und viele, viele schemenhafte Gestalten in bunter Kleidung betreten den Korridor. Ich kann so schlecht sehen, dass sie mir wie eine einzige, wabernde Masse vorkommen. Die Menge läuft einfach an mir vorbei, wie Wassermassen die den Gang fluten. Sie fließen um mich herum, engen mich ein, ich bekomme keine Luft mehr und - …

      „Das habe ich! Aber es war ein Notfall, verdammt!“ Jereds zornige Stimme donnert über mich hinweg. Worte, die mir wie aus der Luft gegriffen entgegen geworfen werden, einfach zusammenhangslos. „W- was ...“, völlig außer mir reiße ich die Augen auf. Die Kopfschmerzen sind weg, der Korridor, die Menschenmasse und meine verklärte Sicht ebenfalls. Ich sitze auf einem Pferd. Oder besser gesagt – einem Pferd, welches vom Körperbau eher einem Esel gleicht.

      „Das ist immer noch ein Maultier, Geneviève.“ Liest er Gedanken?! Doch dann scheint seine Wut verflogen, die er scheinbar vorher gegen mich gehegt hat und er blickt mich besorgt an. „Moment, ist alles in Ordnung? Ihr schaut so verblüfft.“ Der Krieger sitzt auf einem schwarzen, wunderschönen Rappen und reitet neben mir her. Ich betrachte die Landschaft um mich herum. Den atemberaubenden Gebirgskamm, der vor uns aus dem Horizont sprießt und das Licht des Feuerballs bricht. In den Bergen spukt es, sagte meine Großmutter immer. Sie ist als junges Mädchen oft dort gewesen und hat nach einer verwunschenen Quelle gesucht, die in einer alten Sage Badenden ewige Jugend verspricht. Ich sehe auch die Erde, wie sie mit dem Feuerball vor uns aufgeht. - Ich bin ganz klar wieder im Hier und Jetzt.

      „Muss ich mich sorgen? Warum seid Ihr so teilnahmslos?“, fragt der Krieger nachdrücklich und beide Tiere bleiben ruckartig stehen. „Geneviève, sprecht mit mir!“

      „Ich … das ist unmöglich“, stammele ich und versuche angestrengt, nicht in Panik auszubrechen. Was ist mir da passiert? „Gerade war ich noch in meinem Haus, es war Nacht und ich bin bewusstlos geworden, als jemand uns angegriffen hat!“

      Jared zieht die dichten Augenbrauen zusammen. „Richtig, das ist ein paar Stunden her.“

      „Ein paar Stunden?!“ Eher ein paar Minuten, wenn überhaupt!

      „Was ist los mit Euch?“, er wird wieder lauter und sein Blick ist bohrend.

      „Ich war im Haus, bin ohnmächtig geworden und bin an einem merkwürdigen Ort wieder aufgewacht ...“

      „Ich habe Euch in Schatten verhüllt und in Sicherheit gebracht, das Gespräch hatten wir doch bereits“, er klingt verzweifelt und rauft sich das schwarze Haar. „Es tut mir leid, dass ich Magie gegen euch angewandt habe, obwohl ich versprach, es nicht mehr zutun. Doch sagte ich auch bereits dreimal, dass es ein absoluter Notfall gewesen ist und ich Euer und mein Leben gerettet habe ...“

      „Lasst mich sprechen!“, bitte ich. „Ich bin an einem fremden Ort gewesen! Bis vor ein paar Sekunden, war ich nicht hier! Jedenfalls nicht bewusst ...“

      „Wie bitte? Nicht hier?“

      „Ich erinnere mich, wie ich bewusstlos wurde. Danach ist alles weg. Na ja, jedenfalls alles aus dem Hier und Jetzt.“

      „Ihr meint … Ihr hattet einen Blackout?“ Er steigt vom Pferd und ich tue es ihm nach. Meine Knie sind weich und ich wäre zusammen gesackt, hätte er mich nicht an den Schultern gehalten.

      „Ja … nein. Nicht direkt. Ich habe eine andere Erinnerung … Da war ein Korridor, helles Licht und merkwürdig gekleidete Menschen, die in fremder Sprache gesprochen haben ...“

      „Eine Vision?“

      Ich runzele die Stirn. „Ich kann es Euch nicht sagen! Ich… Bei den Monden ...“

      „Beruhigt Euch“, raunt er und streicht mit den Daumen über meine Haut. Ich trage noch immer mein Nachthemd und seine Hände liegen auf meinen nackten Oberarmen. „Was ist mit mir passiert, Jared?“, hauche ich verzweifelt und halte mir eine Hand vor die Stirn.

      „Von so etwas habe ich noch nie gehört“, gibt er zu. „Ihr könnt Euch wirklich an nichts erinnern? Daran, wie Ihr mich angepöbelt habt wie ein Bauer und Euch wegen jeder Kleinigkeit beklagt habt und ...“

      „Nein“, jammere ich und löse mich aus seinem Griff. „Ich habe gepöbelt?“, hake ich nach und kann mir ein Kichern nicht unterdrücken.

      „Und ob.“

      „Tut mir leid.“

      Er grinst schief. „Da war also ein Korridor, ja?“

      „Ich werde Euch erst mehr davon erzählen, wenn Ihr mir erzählt, was ich in der Realität verpasst habe.“ Seufzend streiche ich über das dunkelbraune Fell des Maultiers. „Das ist wirklich frustrierend und unheimlich.“

      „Nicht viel“, beginnt er tonlos, „ich bin mit Euch vor einem Spion geflohen, der mich im Auftrag der Herzogin beschatten sollte und habe Euch weit weg von Eurem Heimatdorf bis zum Morgengrauen schlafen lassen. Als Ihr dann aufgewacht seid, habt Ihr mich beschimpft und mir vorgeworfen, ich hätte mein Versprechen gebrochen. Die Gespräche waren einfältig und es ging ständig um Dinge, mit denen Ihr nicht einverstanden wart … Seid.“

      „Wow“, entgegne ich, „Ihr könnt ja richtig sarkastisch sein.“

      „Ist dem so?“ Lachend schüttelt er den Kopf. „Ich dachte eher, das ist Euer Fachgebiet.“

      „Ihr glaubt mir kein Wort, oder?“

      „Ich bin misstrauisch.“

      „Dann war ich wirklich so schlimm?“

      „Ihr wart wirklich schlimm.“ Er atmet laut aus, nimmt die Zügel seines Pferdes fest in die Hände und macht Anstalten, wieder aufzusteigen.

      „Wartet!“, rufe ich viel zu laut aus. Er sieht mich an, seine Augen wirken im hellen Morgenlicht noch blauer. „Ihr müsst mir glauben, bitte. Was hätte ich davon, Euch zu belügen?“

      „Ich weiß es nicht, Geneviève. Vielleicht eine weitere Gehässigkeit.“ Ich muss wirklich gemein gewesen sein.

      „Ich weiß nicht mehr, wie unhöflich ich zu Euch gewesen bin. Aber es tut mir aufrichtig leid. Was auch immer ich alles gesagt habe, ich … Es ist einfach zu viel.“ Ein Schluchzer verrät meine Unsicherheit und ich weiß, dass ich nicht in der Lage bin, jetzt weiter zu reiten.

      „Hört auf zu weinen. Bitte“, flehend sieht er mich an, lässt die Zügel wieder los und presst seine fein definierten Lippen zusammen.

      „Dann glaubt mir ...“

      „Ich glaube Euch.“

      „Danke“, schluchze ich. Eine leichte Böe weht unter mein Nachtgewand und ich beginne zu frösteln. Je näher man den Bergen kommt, desto kühler wird es.

      „Wir müssen Euch etwas Warmes zum Anziehen besorgen. Um den Gebirgskamm herum zu reiten, würde viel zu lange dauern“, wirft Jared ein und streicht mit seinem Zeigefinger über die Gänsehaut an meinem Arm. „Und Ihr erzählt mir mehr von diesem unbekannten Ort Eures Unterbewusstseins.“

      „Ja. Damit bin ich einverstanden.“

      Er lächelt. „Was Ihr nicht sagt, dass ich das noch aus Eurem Munde hören darf.“

      Ich verdrehe die Augen. „Vergesst einfach alles, was während meines … Blackouts geschehen ist. Scheinbar war ich nicht ich selbst.“ Bedauernd zucke ich die Schultern.

      „Da habt Ihr wohl recht.“ Er greift in seine Satteltasche und reicht mir einen schwarzen Umhang aus dünnem Stoff. „Der muss fürs erste reichen.“

      Ich nehme das Kleidungsstück entgegen und hülle mich hinein. Es riecht herb, nach Kiefernharz und