sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die Bewohner dieser Unterstadt hatten keinerlei Rechte. Keiner von ihnen durfte je den hellen Teil der Anderswelt betreten. Die Ausflüge in die Lichte Welt hatten Richard das Leben erträglicher gemacht, aber auch die Sehnsucht nach Sonne und Freiheit in ihm geweckt, die diese Ärmsten der Armen nicht einmal dem Namen nach kannten.
Die Brüder, die wie alle anderen hier von Betrug und gelegentlichen Diebstählen oder Überfällen lebten, waren ihm auf einem seiner einsamen Streifzüge aufgefallen.
Er hatte mit angesehen, wie sie versuchten, einen der dunklen Elfen zu bestehlen, die hier unten patrouillierten.
Das war tollkühn und dumm gewesen und obendrein lebensgefährlich.
Richard war dem Elf gefolgt.
Die beiden Burschen, die ungefähr in seinem Alter waren, hatten ihm Leid getan. Er hatte damals all seinen Mut zusammengenommen und war dem überraschten Wächter von hinten auf die Schultern gesprungen.
Diesen Bruchteil einer Sekunde nutzten die Beiden, um sich loszureißen und aus dem Staub zu machen. Als der Wächter sich wutschnaubend umdrehte, sah er im kalten blauen Blick Richards, was der ihn sehen ließ. Nämlich nichts.
Hypnose war doch eine überaus nützliche Gabe, hatte er damals gedacht und war, wie die beiden jungen Diebe, blitzschnell und sehr zufrieden im Gewirr der Gassen untergetaucht.
Die Brüder hatten auf ihn gewartet.
Seit dieser Zeit besaß er zwei Freunde, Jesse und Julian, von denen allerdings niemals jemand erfahren durfte. Leathan hätte diese unpassenden Gefährten seines Sohnes getötet.
Für ihn wären sie Abschaum.
Einmal hatte er die Brüder mit in die Lichte Welt genommen. Mit der Fähigkeit, Andere zu täuschen, hatte er es geschafft, sie durch das Portal zu schmuggeln.
Nur eine hatte ihn durchschaut.
In Magalies Gärten hatten sie so viele von den herrlichen Früchten in sich hineingestopft wie möglich. Nie hatten Jesse und Julian solchen Überfluss gesehen.
„Nehmt euch so viel ihr mögt.“
Jesse und Julian fuhren herum.
Die Sprecherin vor ihnen hatte ihren Wallach kurz angehalten, ignorierte Richards kalten Blick vollständig und musterte die Brüder aufmerksam.
Sie konnte sie erkennen! Richard hatte keine Macht über Magalie.
Sein Gesicht glühte, als sie sich, ohne ihn weiter zu beachten, abwandte. Mit einem Schnalzen gab sie Chocolat ein Zeichen und ritt davon. Als sich die drei Jungen von ihrem Schrecken erholt hatten, waren die Fürstin und das herrliche Pferd längst nicht mehr zu sehen. Jesse und Julian aber waren in Panik geraten.
Dieser einzige Ausflug war auch der letzte gewesen. Die Brüder konnten gar nicht schnell genug zurück in die Schattenwelt gelangen. Wenn sie verraten worden wären, hätte das ihren sicheren Tod bedeutet.
Der Durchgang, den Richard jetzt leise betrat, war so schmal, dass er mit den Schultern die schmutzigen Häuserwände berührte. Es stank nach Katzenpisse, Unrat und Verwesung.
Ein paar aufgescheuchte Ratten brachten sich in Sicherheit.
Kaum war er aus dem stinkenden Gang in den kleinen Innenhof getreten, als ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden.
„Verdammt ihr Idioten, lasst mich los.“
Sofort lockerte sich der Griff. Grinsend standen Jesse und Julian vor ihm.
„Wolltest du dich anschleichen? Wir dachten, eine Horde trampelnder Trolle würde uns überfallen.“
Jesse boxte Richard freundschaftlich gegen die Schulter.
„Was gibt’s, alter Freund? Was tust du mitten in der Nacht in der Unterstadt?“ Julian war der Ältere der Brüder und ernster als Jesse. Er spürte, dass Richard nicht zum Spaß hier aufgetaucht war.
Richard berichtete, was er gehört hatte und warum er gekommen war.
„Ich will ihn nur kurz sehen und ihm sagen, dass er nicht allein ist. Oskar ist noch jung und nicht daran gewöhnt, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Er wird sterben, wenn wir ihn da nicht rausholen.“
„Und was stellst du dir da vor, sollen wir die Hexen verhauen?“
Jesse feixte.
„Halts Maul.“
Julian trat Jesse gegen das Schienbein, dann wandte er sich wieder an Richard.
„Dein Onkel?“
„Mein Onkel macht da zwar immer noch den Aufseher, aber er ist der größte Feigling, den ich kenne, und doof wie Stulle.“
„Bitte“, beschwor Richard Julian, „es muss doch eine Möglichkeit geben, in den Keller zu kommen.“
„Und du sagst, der Kleine gehört zu der Frau mit den Obstgärten, die uns hat laufen lassen?“
Richard nickte wortlos.
„Dann lass mal überlegen.“
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Roberts Bitte
Frau Dr. Kirchheim – Zschiborsky hielt den Hörer des Telefons so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Bitte nicht schon wieder, dachte sie. Das halten meine Nerven nicht aus. Aber konnte sie Robert diesen bescheidenen Wunsch wirklich abschlagen?
„Die Mädchen könnten hier in der alten Villa übernachten. Ich bin nur wenige Tage unterwegs, allerhöchstens eine Woche. Es wäre mir einfach lieber, wenn Faith nicht alleine sein müsste. Dazu ist es, nach den Aufregungen der letzten Zeit, vielleicht doch zu früh.“
Dass Murat aufgetaucht war, erzählte er ihr lieber nicht.
Die Direktorin schnappte hörbar nach Luft.
Die Lebensgefahr, in der sich Faith, einige ihrer Freunde und Robert in den letzten Monaten befunden hatten, als „Aufregungen“ zu bezeichnen, war die Untertreibung des Jahrhunderts.
Drei Monate hatte sie gebangt und gelitten, bis alle ihre Schüler mehr oder weniger wohlbehalten wieder ins Internat zurückgekehrt waren, aus einer Welt, von der sie bis dahin nicht geglaubt hatte, dass sie existierte.
In der alten Villa, in der Faith mit ihrem Vater lebte, hatte das, was Robert als „Aufregung“ bezeichnete, begonnen. Und jetzt wünschte Robert, dass sie zwei der ihr anvertrauten Schülerinnen wieder dorthin schickte. Das war zu viel.
Sie konnte verstehen, dass er seine Tochter nicht alleine in dem großen Haus lassen wollte. Aber Lisa und Valerie wieder in die alte Villa zu schicken, widerstrebte ihr. Ganz gegen ihre Überzeugung antwortete sie:
„Also gut, Robert, ich werde es mir überlegen und mit den Mädchen darüber sprechen. Wenn die beiden nicht einverstanden sind, werden sie Faith klar machen müssen, dass sie hier bei Lisa schlafen sollte.“
Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Robert konnte so überaus überzeugend sein. Hinzu kam, dass sie eine uneingestandene Schwäche für diesen anziehenden Mann hatte.
Frau Dr. Kirchheim – Zschiborsky legte den Hörer auf die Gabel ihres altmodischen Telefons. Sie hatte sich überreden lassen. Warum hatte sie nicht einfach nein gesagt? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit wurde. Madame Agnes erwartete sie zum Tee.
Wolle begrüßte sie begeistert, sprang an ihr hoch und riss sie fast um, als Madame ihr die Tür öffnete. Er benahm sich so ungezogen, wie ein junger Hund nur sein konnte.
„Er war in der Hundeschule, aber ich bin nicht streng genug mit ihm. Ich glaube, er wäre doch besser bei Faith aufgehoben.“ Madame Agnes seufzte. „Gibt es etwas Neues?“
„Eben hat Robert angerufen. Er bat mich, Lisa und Valerie eine Woche bei Faith übernachten zu lassen. Er muss verreisen. Aber es widerstrebt mir, ehrlich gesagt,