„Wo ist die Fee mit dem Fledderhaar?“
Oskar sprach undeutlich mit vollem Mund.
„Weiß ich nicht. Sie heißt Atena.“
Lilly ging zu Tür.
„Wohin gehst du?“
Oskar lief mit vollen Backen hinter Lilly her ins Freie.
Die Eule, die geräuschlos neben ihnen landete, war groß, sehr groß und sehr hell. Ihre gelben ausdrucksvollen Augen waren starr auf sie gerichtet.
Gelb, wie das Sonnenlicht.
Langsam schlossen sich ihre Augenlider. Goldene Funken sprühten. Geblendet schlossen Lilly und Oskar die Augen.
„Ihr habt einen Tag und eine Nacht geschlafen.“
Lächelnd stand Atena vor ihnen, die Eule war verschwunden.
„Wo ist sie?“ Verwirrt blickte Oskar um sich.
Aber bevor Atena antworten konnte, vernahmen sie ein gedämpftes unheimliches Geräusch. Es kam näher, wurde lauter. Oskar hetzte durch den Hof. Da vorne war das Eisentor, durch das Lilly und er zwei Tage zuvor hereingekommen waren. Jetzt hörte er das scharfe Getrappel von tausend Hufen, das auf hartem Fels widerhallte. Hörte Gebrüll von aufgeregten Stimmen.
Schwarze Rösser, dunkle Reiter.
Er klammerte sich an die Eisengitter. Oskar rüttelte am Tor. Er musste näher heran. Seine kindliche Neugier war nicht zu bremsen. Was er sah, erschreckte ihn. Dennoch, obwohl er Atenas Ruf vernahm, öffnete er das Tor. Die schwarzen Umhänge und Uniformen der dunklen Elfen waren nur noch blutverschmierte Fetzen. Die Reiter hetzten, wie vom Teufel gejagt, an dem geöffneten Tor und dem Glitter vorbei. Viele der Pferde rannten herrenlos, mit hängenden Zügeln, hinter dem Tumult her. Keiner der panisch Flüchtenden achtete auf Oskar, bis auf einen.
Der athletische Elf erinnerte sich an den Kleinen. Bei der roten Fürstin hatte er ihn gesehen.
Sie hatte ihn herablassend behandelt. Damals war er mit einer Botschaft Leathans zu ihr gekommen.
Er hatte sich tiefer, als er wollte, vor ihr verbeugt. Sie hatte es ihm mit einem spöttischen Lächeln gedankt und ihn weggeschickt.
Damals hatte Kastor Rache geschworen. Er war tief in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt gewesen. Fühlte sich verhöhnt.
Heute hatte Magalie ihn und seine Männer wieder auf eine besonders demütigende Weise weggeschickt. Sie hatte sich dem Kampf nicht gestellt. Stattdessen hatte sie die Erde geöffnet und ihn und seine Männer in die Schattenwelt geschickt, geprügelt wie eine Horde ungezogener Schüler.
Dies war der Moment der Vergeltung.
Tief beugte er sich nach unten und erwischte den schockstarren grünen Elf an einem Arm. Er riss ihn zu sich aufs Pferd. Ohne eine Sekunde anzuhalten, raste er hinter den Gefährten her. Der dunkle Fürst würde zufrieden mit ihm sein. Wenn Leathan zurückkehrte, würde er ihm dieses kleine Pfand überreichen.
„Tu doch was!“
Hilflos musste Lilly zusehen, wie Oskar mit seinem Entführer davonjagte. Eine unsichtbare Hand schloss das schwere Eisentor vor Lilly. Wenn Atena sie nicht festgehalten hätte, wäre sie hinter den furchterregenden Gestalten hergeflogen. Sie zappelte verzweifelt, im unerbittlichen Krallengriff der Fee.
Krallen?
Lilly blickte sich um.
Auf den gekalkten Mauern, den Dächern sämtlicher Gebäude rings herum, auf dem stählernen Pfählen des Eisengitters und auf den Bäumen saßen sie, die größten Eulen, die Lilly je gesehen hatte. Mit gesträubtem sandfarbenem Gefieder und weit ausgebreiteten Flügeln saßen die Vögel und bedeckten das Verzauberte Tal, machten es unsichtbar.
„Halt still!“ Die Krallen packten fester zu.
Lilly schrie auf. „Du tust mir weh.“
“Es wird noch viel mehr wehtun, wenn diese wüste Horde uns entdeckt. Nur wenn das Tor geschlossen ist, bleibt das Tal unsichtbar. Wenn Leathans Elfen es nicht so eilig gehabt hätten, hätte Oskars Neugier uns verraten.“
Lilly erkannte Atena nur an der Stimme.
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Nebelnächte
Richard lag schlaflos in seiner Kammer. Es war eine besonders dunkle Nacht. Nicht einmal die blaue Kugel goss ihr kaltes Licht in die Finsternis. Durch die Fensteröffnungen drang feuchter Nebel in sein Zimmer. Er hatte ganz bewusst den kleinsten Raum, den er finden konnte, für sich ausgewählt.
Auch dieser Raum war noch groß wie ein Fußballfeld, aber kleiner und vor allem weiter entfernt von den Gemächern seines Vaters, als alle anderen. Dennoch hörte er den Lärm der Männer, die in dieser Nacht zurückkamen.
Er lauschte ihren lauten wütenden Stimmen, auch wenn er nicht genau verstand, was sie sprachen. Er hörte den Namen Magalies und glaubte zu verstehen, dass sie über Elsabe und ihre Schwestern sprachen. Unschlüssig lag er da. Sollte er wirklich durch die kalten Flure gehen, um zu hören, was die Männer besprachen?
Die Neugier brannte und Richard erhob sich fröstelnd. Der Nebel hüllte ihn ein, wurde immer dichter, füllte den Raum fast vollständig aus. Es fühlte sich an, als ob Mund und Nase mit feuchter Watte verstopft wären.
Diese Nächte in der Schattenwelt waren sogar für Richard unheimlich und beängstigend. Dies war eine der Nebelnächte, in denen die Hexen Leathans mit glühenden Augen durch die Dunkelheit flogen und die Kräuter ernteten, die sie für ihre schwarze Magie benötigten.
In diesen Nächten molken sie die Giftschlangen, indem sie den Zähnen der Reptilien ihr Gift entzogen, fingen Frösche und Spinnen für ihre Tränke. Die Elfen und Feen der Schattenwelt waren süchtig nach den Drogen der Hexen. Sie gaukelten ihnen Glück und eine Zufriedenheit vor, die es in dieser Welt nicht mehr gab, seit der alte Herrscher der Schattenwelt vergangen war.
Cybills und Maias Vater, der einst die Schattenwelt regierte, hatte die alten Riten respektiert, er hatte nie versucht in die Lichte Welt zu gelangen, um sich diese zu unterwerfen.
Maia hatte die Gene dieses Dunkelalben, ihres Vaters, geerbt, aber die dunkle Seite, die in ihr wohnte, ignoriert.
Cybill war offensichtlich geboren für die Lichte Welt. Ihre Jadeaugen waren hell und klar und nicht für die Dunkelheit gemacht.
Leathan und Annabelle besaßen die violetten Nachtaugen ihrer Mutter Maia und die ihres Großvaters. Aber sie hatten nicht wie diese gelernt, ihre dunklen Gelüste zu beherrschen. Annabelle war in der Lichten Welt geblieben. Sie besaß ein Fürstentum am Rande des alten Meeres. Leathan war der Erbe der Schattenwelt, aber das genügte ihnen nicht. Beiden war eine nicht zu beherrschende Gier nach Reichtum und Macht eigen und eine tiefe gegenseitige Abneigung.
Lange hatte Richard gebraucht, um diese verworrenen Familienverhältnisse zu durchschauen, hatte gelauscht und beobachtet und eins und eins zusammengezählt.
Nie hatte er Maia oder seinen Vater darauf angesprochen.
Er hatte gefürchtet, keine Antworten auf seine Fragen zu bekommen.
Was für eine Familie, dachte Richard, als er sich dem tumultartigen Lärm näherte, der ihm aus den Hallen entgegenkam, in denen die Spießgesellen seines Vaters ihre Nächte zum Tage machten.
Heute Nacht allerdings war der Lärm nicht das Gegröle betrunkener Männer, die mit ihren Taten protzten. Heute klangen die Stimmen wütend und aufgebracht. Richard betrat den Saal, aus dem ihm das Geschrei entgegenkam, nicht.
Er blieb vor der halb offenen Tür stehen und lauschte.
Hier konnte er sehen und hören, was in dem Raum vor sich ging. Die Verletzten hatten sich ihrer schwarzen ledernen Uniformen entledigt und ließen sich von den Hexen und Feen die Wunden auswaschen und Verbände anlegen.
Es würde nicht lange dauern, bis die äußeren Verwundungen