ihm Madame Agnes einfiel, stiegen Tränen in seine Augen. In Waldeck hatte er auch seine Großmutter wiedergefunden, die er für tot gehalten hatte. Weder Leathan noch Annabelle hatten ihn darüber aufgeklärt, dass sie noch lebte. Nachdem seine Mutter Agnes bei seiner Geburt gestorben war, hatte er einige Monate bei seiner Großmutter gelebt, bis Leathan ihn von dort entführt und in seine Welt mitgenommen hatte.
Solange Leathans Bann wirkte, würde Richard die Schattenwelt nicht mehr verlassen können. Er musste einen Ausweg finden.
Nathan sah seinem Schüler an, dass er unglücklich war. Warum das so war, war nicht schwer zu erraten.
Nathan lächelte. Der Kleine war groß geworden und hatte sich zum ersten Mal verliebt.
Feuerhaar.
Magalies rothaarige Tochter war entzückend, er konnte Richard verstehen. Nathan konnte auch verstehen, warum Richard sich in dieses Mädchen verliebt hatte.
Sie ist ein Mensch wie er, dachte Nathan.
Keine der schönen launenhaften Feen hatte es dem Sohn des dunklen Fürsten bisher angetan. Oh, sie hatten versucht ihn zu umgarnen. Er war schließlich der Sohn des Fürsten und ein äußerst attraktiver junger Mann. Aber diese grazilen flatterhaften Geschöpfe konnten ihn nicht verführen.
„Vergiss es.“ Nathan schien seine Gedanken lesen zu können „Es gibt keine Möglichkeit zu fliehen. Aber dein Vater wird den Bann wieder aufheben.“
Richard lachte gezwungen auf „Oh ja, irgendwann, sobald er mich braucht.“
Wenn Leathan auftauchte, würde er versuchen ihn zu erweichen. Aber wie er seinen Vater kannte, standen seine Chancen nicht gut.
„Lass uns gehen, Maia wird mit dem Essen auf uns warten.“
Nathan trieb ihn zur Eile.
Richard musste lachen. Er wusste genauso gut wie Nathan, dass sie sehr ungehalten werden konnte, wenn ihre Geduld zu sehr strapaziert wurde. Langes Warten war ihr verhasst und Nathan fürchtete, wie jeder hier, ihren Zorn.
„Lach nicht“, grummelte sein Lehrer, „die Frau ist gefährlich, wenn sie ärgerlich wird.“
Grinsend ging Richard in Richtung des kleinen Wasserfalls, der am Ende der Halle aus dem Felsen hervorschoss. Er stellte sich unter das eiskalte Wasser und schloss die Augen.
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Madame Agnes
Wolle saß ohne Halsband heulend vor dem hohen Eisengitter, das den Hof des Internats zur Straße hin abschloss. Madame Agnes lief leise vor sich hin schimpfend durch Waldeck. Die Leine des Hundes, an deren unterem Ende das Halsband noch hing, hielt sie in der Hand. Das Hündchen, wie sie ihn immer noch nannte, war inzwischen groß wie ein Kalb und kaum zu bändigen. Sie ahnte, wohin er gelaufen war, und marschierte festen Schrittes Richtung Schule.
„Na warte“, murmelte sie in sich hinein.
Es war nicht das erste Mal, dass Wolle sich losgerissen hatte, um die Freunde ihres Enkels Richard zu suchen.
Und richtig, sie hörte ihn schon, bevor sie ihn sah. Lisa und Ben kamen zur gleichen Zeit wie Madame bei Wolle an, der sich vor Freude über dieses Zusammentreffen unentwegt um sich selbst drehte. Sein gesamter drahtiger Körper wedelte und sprang abwechselnd an Ben und Lisa hoch. Nachdem er sich fertig gefreut hatte, tapste er zu Madame Agnes und leckte ihr ergeben die Hand. Seine klugen Hundeaugen sahen um Verzeihung bettelnd zu ihr hoch. Dann setzte er sich und ließ sich brav das Halsband wieder über den Kopf ziehen. „Das ist viel zu locker.“ Lisa griff nach dem Lederband und zog es fester.
„Das arme Hündchen“, jammerte Madame.
Ben lachte. „Das ist kein Hündchen mehr, das ist eine riesige Nervensäge. Ich komme morgen und hole ihn ab“, versprach er. „Dann kann er sich mal wieder richtig austoben.“
„Ach Ben, das ist wirklich nett, manchmal ist Wolle furchtbar anstrengend.“
Madame Agnes sah Lisa und Ben forschend an.
„Habt ihr noch was von Richard gehört?“
Faith war gleich nach ihrer Entlassung aus Schwester Dagmars Obhut zu Madame Agnes gegangen. Die alte Dame hatte ein Recht darauf, so schnell wie möglich von ihrem Enkel zu hören. Nur leider waren die Neuigkeiten, die Faith mitbrachte, nicht gerade ermutigend. Sie hatte versucht, ihre Worte so zu wählen, dass sie nicht allzu beunruhigend klangen.
Aber wie konnte man das, was Richard geschehen war, tröstlich klingen lassen. Madame riss sich zwar zusammen, aber Faith spürte, wie nahe ihr das Schicksal ihres Enkelsohnes ging.
Verbannt in der Schattenwelt!
Dass Leathan ihn geschlagen und sogar getreten hatte, verheimlichte Faith ihr lieber.
Madame wusste, wie gerne sich ihr Enkel im Freien in der Sonne aufhielt. Faith hatte die Welt unter der Festung Leathans, die das Portal zur Schattenwelt bildete, nie gesehen. Deshalb wiederholte sie wörtlich das, was Richard ihr erklärt hatte: „Der größere Teil von Leathans Land liegt im Innern der Erde. Dort hat Richard die meiste Zeit seiner Kindheit verbracht.
Da scheint kein goldener Mond. Nur eine phosphorblaue Kugel, groß wie die Sonne, deren kaltes Dämmerlicht die „Schattenwelt“ kaum erhellt.“
Nein, das konnten sich weder Madame noch Faith wirklich vorstellen, aber es klang schrecklich.
„Wir werden ihn wiedersehen.“ Faith versuchte mehr Zuversicht in ihre Stimme zu legen, als sie selbst empfand.
„Es ist lieb, dass du mich trösten willst, mein Kind.“
Ihre Französischlehrerin hatte Faith’ Hand getätschelt und sich erhoben.
„Wenn du mir einen Gefallen tun willst, lass mir deinen Hund noch wenig. Er ist ein so liebes Tier.“
Auch wenn Wolle, den Lisa Faith zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, sie manchmal überforderte, war es doch ein Trost, diesen fröhlichen jungen Hund um sich zu haben. Zumal die Freunde ihres Enkels ihn regelmäßig mit in den Wald nahmen damit er sich richtig austoben konnte. Madame hatte ihn zu sich genommen, nachdem Robert in die Anderswelt entführt worden und Faith auf der Suche nach ihrem Vater ebenfalls dorthin verschwunden war. Solange die alte Villa verwaist war, musste jemand für Wolle sorgen.
Als Ben am nächsten Tag bei Madame Agnes klingelte, hörte er schon das aufgeregte Bellen im Inneren der Wohnung. Wolle wusste genau, dass für ihn die Stunde der Freiheit geschlagen hatte.
Nachdem sie Waldeck hinter sich gelassen hatten, befreite Ben den Hund von seinem Halsband und rannte mit ihm in den Wald. Er wollte die drei oder vier Kilometer bis zu Roberts alter Villa laufen.
Ben war ein guter Läufer, obendrein der beste Sportler der Schule. Wolle lief begeistert neben dem Jungen her, verschwand gelegentlich wie der Blitz zwischen den Bäumen, um gleich darauf mit hängender Zunge wieder zu erscheinen.
Und dann war der Hund endgültig weg. Er weiß, wohin wir laufen, dachte Ben. Wenn ich bei Faith ankomme, ist Wolle längst dort.
Robert hatte gerade die Gartenmöbel weg von dem leicht modrig riechenden Teich unter den Birken auf den Rasen gestellt, als er den Wolf sah.
„Murat?“
Gespaltenes Gesicht.
Ja, das war Leathans Wolf. Der Wolf, in dessen Gesellschaft er aus dem Feental geflüchtet war. Er hatte ihm den Weg gezeigt, den er gehen musste, um Leathan zu entkommen. Der dunkle Fürst glaubte an den bedingungslosen Gehorsam des Tieres und ahnte nicht, dass Murat, seit Richard ihm das Leben gerettet hatte, nur diesem treu ergeben war.
Was tat er hier?
Murat setzte sich in Bewegung, als sich hinter Robert die Küchentür auftat und Faith mit einem Tablett in den Händen erschien. Fast hätte sie es fallen lassen, als sie den Wolf sah. Vorsichtig setzte sie das Tablett auf dem Gartentisch ab und ging in die Hocke.
Als Ben aus dem