Ursula Tintelnot

Faith und Richard


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Er meinte, dass es gut sei, unabhängige selbstständige Wesen um sich zu haben. Und du warst klug. Manchmal ein bisschen zu sehr. Nicht umsonst führst du deine Schwestern. Ich denke, eines fernen Tages wird Lilly deine Stellung einnehmen können, meinst du nicht?“

      „Ich verstehe, was du mir sagen willst.“ Elsabe umarmte die Freundin. „Du warst immer klüger als ich. Ich danke dir. Trotzdem muss ich Lilly und Oskar finden. Er ist in Gefahr in der Schattenwelt. “

      „Wer ist Oskar?“

      „Er ist ein Glitter. Ich glaube, Oskar ist nicht ganz unschuldig am Verschwinden der kleinen Hexe. Magalie liebt ihn sehr. Er sollte nicht in Leathans Hände fallen. Leathan würde jede Gelegenheit ergreifen, deine Tochter zu verletzen.“

      Leicht amüsiert blickte Cybill Elsabe an.

      “Noch befindet Leathan sich in der grünen Muschel, oder nicht?“

      Elsabe berichtete der alten Herrscherin von ihrer Begegnung mit Odine. „Sie müssen Leathan loswerden, seine mörderische Wut tötet die Fische. Er muss dort verschwinden, bevor er das Leben im Neuen Meer vernichtet hat.“

      Das Lächeln war aus Cybills Gesicht gewichen.

      “Wir haben hier also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder zerstört er das Leben im Neuen Meer oder er versucht wieder die Macht, auch über die Lichte Welt, an sich zu reißen.“

      Ihr Blick wurde weich, als sie Magalie auf sich zukommen sah.

      Zum ersten Mal sah Magalie in Cybill nicht nur die alte Herrscherin, sondern auch ihre Mutter. Sie fragte sich, warum sie nie diese auffällige Ähnlichkeit wahrgenommen, nie zuvor dies warme Gefühl der Zugehörigkeit gespürt hatte.

      ~~~~~

      Nacht im Internat

      Faith berührte den winzigen Einstich, den der Stachel in ihrem Finger hinterlassen hatte. Noch immer war das zierliche grüne Mal zu sehen. Es war mehr ein Verschmelzen als ein Stechen gewesen. Sie hatte das Eindringen des Stachels nicht gespürt. Die stachelige Frucht mit dem Duft nach Salz und Meer, die sie damals in Leathans Burg in der Hand gehalten hatte, war geformt wie die Riesenmuschel, in der sie auf den Grund des Neuen Meeres gesunken war.

      War es möglich, dass dieser kleine Stich ihr das Leben gerettet hatte? Wie sonst hätte sie atmen und überleben können unter Wasser, eingeschlossen in der weichen Wärme der Molluske? Sie stöhnte auf. Nie würde sie die Welt ihrer Mutter verstehen. In einem Moment schien alles richtig, im anderen schien dasselbe falsch zu sein.

      Zauberwelt!

      Jetzt war Leathan in der Muschel gefangen. Sie sah ihn noch in den Schlund stürzen, dem sie gerade entkommen war, hörte Annabelles Gelächter. Sah, wie sich die Muschel um ihn schloss und versank, fühlte die Klauen des Adlers, der sie gepackt und Sekunden später vor ihrer Mutter abgesetzt hatte.

      Magalies Adler hatten sie zu den Grotten getragen.

      Faith hatte keine Ahnung mehr, was danach geschehen war. Merkwürdigerweise hatte sie das Gefühl, dass sich ihr Vater in Sicherheit befand. Sie würde ihn wiedersehen, dessen war sie gewiss.

      Sie erinnerte sich nicht, wie sie in ihre Welt zurückgekommen war. Jetzt lag sie hier und schmiedete Pläne, wie sie zurück in diese beunruhigende gefährliche Anderswelt gelangen konnte, der sie gerade erst entkommen war.

      Die Direktorin hatte darauf bestanden, dass sie, solange ihr Vater noch nicht wieder da war, bei Lisa im Internat schliefe. Lisa war längst eingeschlafen, aber Faith lag wach und überlegte, wie sie unbeobachtet und alleine den Weg in die Schattenwelt finden könnte. Sie wollte ihre Freunde nicht wieder in Gefahr bringen.

      Solange Leathan sich in der grünen Muschel befand, konnte sie sich sicher fühlen.

      Sie glaubte, dass Magalie Leathan nicht dort herausholen würde.

      Richard, dachte sie, bevor sie einschlief. Sie musste die Schattenwelt suchen, um den Freund zu finden. Wer würde ihr in der anderen Welt den Weg zu dem Ort zeigen, an den Leathan seinen Sohn verbannt hatte?

      Maia?

      Faith jagte finstere Flure entlang, die sich mit immer neuen Abzweigungen weiter vor ihr öffneten. Das flackernde Licht der Kerzen tauchte die Wände in ein diffuses gespenstisches Licht. Die Flammen knisterten und entließen kleine Rauchwolken, die an den Mauern entlang krochen, bevor sie sich auflösten.

      Weit vor sich glaubte sie Richard zu sehen, er hörte ihr Rufen nicht. Sie schrie, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle. Sie kam ihm nicht näher. Sie lief, bis sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden platzen. Faith rannte. Endlich hatte er sie gehört.

      Richard drehte sich langsam zu ihr um, aber es war nicht Richards Gesicht, in das sie sah. Leathans Miene verzog sich zu einem arroganten zynischen Lächeln. Violette Augen, verengt zu Schlitzen, ließen sie schaudern.

      „Hab ich dich endlich.“ Er hielt Faith fest. „Wenn ich dich habe, wird auch Magalie kommen.“ Sein höhnisches Gelächter wurde vervielfältigt und zurückgeworfen von den steinernen Wänden, brach dann jäh ab.

      Lisa stand vor Faith, die Hand noch auf dem Wecker. „Kannst du dir nicht mal eine Uhr mit einem leiseren Weckton anschaffen?“

      Faith fuhr sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn und befreite sich von dem zerwühlten Laken, das sich um ihre Beine gewickelt hatte.

      „Mach ich“, flüsterte sie. Sie hatte nur geträumt. Aber die endlosen Flure, durch die sie gelaufen war, kannte sie.

      Sie erinnerte sich an die Dunkelheit in Leathans Burg. Mit Richards Hilfe hatte sie von dort flüchten können. Richard hatte ihr erklärt, dass diese steinerne Festung nur das Portal zur Schattenwelt sei, dem eigentlichen Fürstentum Leathans. Die dunkle Welt hinter dem Portal war um ein Vielfaches größer und düsterer, als die, die sich darüber befand. Die Festung würde sie wiederfinden. Ja, sie wollte Maia bitten, ihr das Tor zur Schattenwelt zu zeigen.

      ~~~~~

      Schulstunden

      Nach ihren Erlebnissen in der Anderswelt konnte Faith sich kaum auf den Unterrichtsstoff konzentrieren.

      Die Mathematikstunden waren nicht nur öde, sie waren auch ärgerlich. Herr Wallch, der wie ein aufgeblähter Gockel durch die Klasse stolzierte, war immer auf der Suche nach jemandem, den er mit hämischen Bemerkungen klein machen konnte. Ein eitler Kerl, der es nötig hatte, die schwächeren Schüler vorzuführen. Die begabten Schüler förderte er, die weniger begabten wurden, wenn sie Glück hatten, links liegen gelassen, mit weniger Glück schikaniert.

      Patricia gehörte zu den Begabten und blühte in seinem Unterricht auf. Sie kokettierte mit ihrem Wissen und flirtete ganz ungeniert mit dem Lehrer.

      Valerie war eine der bedauernswerten Schülerinnen, die Herrn Wallchs sadistische Seite herausforderte. Sie schaffte es nur mit Hilfe ihres Zwillingsbruders Viktor und der Unterstützung Brunos, ihres hochbegabten Freundes, den Stoff einigermaßen zu begreifen. Was weniger an mangelnder Auffassungsgabe, als vielmehr an ihrer Angst vor dem unangenehmen Lehrer lag.

      Die Zwillinge hatten eine indische Mutter und sahen mit ihrem dunklen Teint und den großen, fast schwarzen Augen hinreißend exotisch aus.

      Faith hegte den Verdacht, dass das einer der Gründe war, der den Lehrer reizte. Auch Viktor und Jamal entgingen den ironischen Angriffen des Lehrers nicht, obwohl beide überdurchschnittlich gute Schüler waren.

      Jamal war schwarz wie die Nacht, und Viktor besaß genau wie Valerie die schöne, getönte Haut ihrer Mutter.

      Die Zwillinge, dachte Faith, könnten mit ihrem reizvollen Äußeren ganz gut der Anderswelt entstammen. Sie besaßen die gleiche Anmut wie die Feen und Elfen in der Welt Magalies.

      Valerie stand inzwischen an der Tafel und starrte die Formel an, die Herr Wallch für sie dort aufgeschrieben hatte.

      „Du wirst uns jetzt das Vergnügen machen, diese relativ einfache Kurvendiskussion durchzuführen.“

      Rote