Günter Billy Hollenbach

Die Hexe zum Abschied


Скачать книгу

      „Beneidenswert. Kriminalistisch seid ihr zwei ein verblüffendes Gespann,“ erklärt Frau Conrad, nachdem ich meine Erkenntnisse vom Besuch der Ärztin und der Fahrt zu ihrem Wohnhaus mitgeteilt habe.

      Der Hinweis ist deutlich genug.

      Für Vera steht fest, Corinna spricht regelwidrig mit mir über Einzelheiten des Falls. Unklar bleibt nur, ob darin eine vorsichtige Warnung an die Chefin oder ein Funke Neid über unser Vertrauensverhältnis steckt.

      „Jedenfalls ergänzt ihr euch gut in der Art, wie ihr die Einzelheiten des Angriffs zerpflückt und beurteilt. Ich stimme dafür, wir gehen öfter miteinander Essen. Wer stimmt dagegen?“

      Sie hebt winkend ihre linke Hand, schaut mich auffordernd an.

      Ich warte ab, wie Corinna sich äußert. Die begnügt sich mit einem matten Lächeln und der Feststellung:

      „Kann sein. Uns beflügeln Nähe und Abstand gleichermaßen.“

      Ein wenig leiser ergänzt sie hintersinnig: „Solange jeder die Zuständigkeiten und Zwänge des Anderen achtet.“

      Na denn, mein Schatz, auf weiterhin gute Zusammenarbeit.

      Wir hocken in Corinnas Arbeitszimmer, trinken Tee; Corinna genüsslich schlürfend hinter ihrem Schreibtisch, Frau Conrad halb stehend, halb sitzend auf einer flachen Bürokommode links daneben, ich in einem Besucherstuhl beiden Frauen zugewandt. Corinna schreibt hin und wieder Stichwörter auf ein Blatt Papier. Ihr Computerbildschirm bleibt – durchaus bemerkenswert – während des ganzen Gesprächs unbeachtet.

      „Ich finde Ihre Hinweise sehr hilfreich, Herr Berkamp,“ meint Frau Conrad. „Nach der Sachlage erscheint es mir ebenfalls schlüssig, von zwei Tätern auszugehen. Aber wieso hat die Neskovaja mir den Einstich verschwiegen?“

      „Nicht verschwiegen, Frau Conrad,“ verbessere ich. „Sie war sich dessen nicht bewusst bei Ihrem Gespräch.“

      „Ach so! Und Sie, sim-sala-bim, fördern die tiefsten Tiefen ihres Gedächtnisses zutage, kaum dass Sie vor der Frau stehen. Dann sollte ich mich vor Ihnen in Acht nehmen oder nur im Beisein ...“

      „Tja, mit etwas Geduld und ...“

      „Geduld?!“ Frau Conrad verdreht die Augen in gespielter Entrüstung. „Ich war die Gelassenheit in Person, habe null Druck gemacht ...“

      „Vera, wahrscheinlich hat Robert die Frau hypnotisiert und damit ...“

      „Wie bitte?!,“ fährt die Kollegin hoch.

      Hypnose? Das sei unzulässig, Herr Berkamp!

      „Für Sie vielleicht. Bei mir gehört sie zum Handwerkszeug, als Coach mit einer entsprechenden Ausbildung ... ich tue es einfach.“

      „Ohne ihre Zustimmung?“

      „Die Dame war einverstanden. Abgesehen davon; vieles in der Werbung und fast jede Musik wirkt wie Hypnose, ohne dass Sie es merken und ohne Ihre Zustimmung. Was erschreckt Sie daran?“

      Frau Conrad schaut mich verblüfft an, geht aber nicht näher darauf ein.

      „Na schön. Sie sind sicher, der Buchstabe auf dem Briefkasten wurde kürzlich dorthin geschmiert und war ein „H“?! Wozu ein „H“?“

      Mit Blick auf die „Geräte“ im Schlafzimmer des Angriffsopfers fällt ihr dazu nur das Wort Hure ein. Will sagen, der Buchstabe könnte eine Bedeutung für den Fall haben, selbst wenn wir seinen Sinn noch nicht kennen. Demnach, überlegt die Conrad laut, hätte der Täter Pinsel und Farbtopf bei sich gehabt. Ob das die Kapuzenfrau war? Ein Phantombild von ihr dürfte nichts bringen.

      „Sehe ich auch so,“ hakt Corinna ein. „Abgesehen davon; die Brille wird Tarnung gewesen sein. Was diesen Buchstaben „H“ angeht, kein Wort dazu nach außen. Das halten wird strikt unter der Decke.“

      „Finde ich gut. Und wir sind uns einig: Der Angriff war geplant, keine Gelegenheitstat,“ ergänze ich. Das nährt meine Befürchtung, es steckt mehr dahinter; eine weitergehende Absicht.

      Corinna tippt den Druckknopf ihres Kugelschreibers gegen die Lippen und nickt versonnen.

      „Möglich, ein „H“ als Symbol, das zum Tatort gehört. Insgesamt hat das Verhalten einen Ankündigungscharakter.“

      „Also, Corinna,“ bietet Vera an; „schauen wir nach, ob es andere Taten ähnlicher Machart gibt. Wie weit? Raum Frankfurt?“

      Die schaut immer noch gedankenversunken vor sich hin.

      „Einverstanden, nimm West- und Mittelhessen dazu. Ankündigung und zwei Täter? Sollen wir von zwei Tätern ausgehen? Dann liegt der Gedanke an Überzeugungstäter nahe. Erfahrungsgemäß folgen die einer Art Plan, berufen sich auf einen höheren Auftrag; zum Beispiel religiöse Fanatiker ... oder andere Spinner.“

      „Erklär mal genauer,“ bitte ich.

      „Meist sind es Männer; und meist finden sich bei ihnen schwere Sexualstörungen. Sinn der Übung: Frauen bestrafen, die es in ihren Augen verdient haben. Jemand hält die Neskovaja aufgrund einer Fehlinformation für eine Prostituierte oder will sie entsprechend abstempeln; was weiß ich. Falls wir mit der Annahme richtig liegen, wären jedenfalls weitere Frauen in Gefahr.“

      Corinna kritzelt erneut Stichwörter auf ihr Papier, sagt halblaut:

      „Was mir Schwierigkeiten bereitet: Zwei Täter, ja. Aber einer davon eine Frau? Nee! Zumindest wäre das ungewöhnlich. Obwohl ich unsicher bin, wie diese Kapuzenfrau ins Bild passt. Die könnte rein zufällig nach der Wohnung der Ärztin gesucht haben. ... Andererseits, ich glaube nicht an einen Zufall.“

      „Also, was tun, Boss?,“ fragt OK Conrad nach einer Weile allseitigen Schweigens.

      „Geduld, mehr Befragungen. Wir müssen den Blickwinkel erweitern.“

      Die Injektion zu Beginn des Überfalls beunruhigt sie. Der sollte dringend nachgegangen werden. Darf aber auf keinen Fall öffentlich erwähnt werden. Sie betrachtet die Spritze als Teil des Vorgehensmusters. Womöglich finden sich ähnlich gelagerte Fälle. Dann hätte einer der Täter zumindest medizinisches Grundwissen. Womit die Spur ins Arbeitsumfeld der Ärztin führen könnte.

      „Okay, ich spreche mit Neskovajas Chef im Nordwest-Krankenhaus, ob es dort Auffälligkeiten gab. Und wie leicht oder schwer verwendete Medikamente zugänglich ist.“

      „Schön, mach das. Aber offiziell sprechen wir wie bisher nur von einem Täter. Verstanden?!“

      25

      Unsere Besprechung neigt sich dem Ende zu.

      Wie sie lächelt, will Frau Conrad etwas Nichtdienstliches in meine Richtung loswerden. Das Klingeln des Telefons kommt ihr zuvor.

      Corinna beugt sich zur Seite, fragt achselzuckend in unsere Richtung: „Anruf von draußen?“

      Und hebt den Hörer ab.

      „Sandner.“

      Sie steht auf, schaut verständnislos zur Zimmerdecke, drückt die Aufzeichnungstaste ihrer Telefonanlage.

      „Ja, ... wie heißt Du denn? ... Aha. ... Feuerteufel, wo bist Du? ... Ich meine, von wo rufst Du an? ... Und das soll ich ... sagen?“

      Als Corinna die Betonung verändert und die Aufzeichnung stoppt, ist der Anruf bereits beendet.

      Sie legt den Hörer auf und setzt sich langsam.

      „Seltsam! ... Was war das jetzt? Eine Kinderstimme, ein Mädchen, vielleicht acht, neun Jahre alt. Hier, hört einfach selbst.“

      Sie schaltet das Gerät auf Lautsprecher und startet die Aufzeichnung.

      Nach kurzem Geräteknacken tönt in einem hallenden Raum mit lauten Hintergrundgeräuschen: