Stephanie Wismar

Die Farben der Schmetterlinge


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Ich höchstens zwei Stunden. Die Sorge um Sarah hat mich wach gehalten. Ich machte mir Gedanken, wo sie bloß abgeblieben sein könnte. Nicht die geringste Idee kam dabei herum. Meinst du sie könnte sich,....“, Mary stockte. Sie brachte es nicht über die Lippen. Zu schmerzhaft war diese Überlegung.

      „Nein. Sarah geht es gut. Ganz bestimmt.“ Meine Stimme klang standhaft und fest. Sicherheit zu vermitteln, den Mut aufrecht erhalten war meine Intention. Innerlich sah es anders aus.

      „Komm mit in die Küche. Ich mach uns einen Kaffee. Der wird uns den Kopf frei machen für die weitere Suche.“

      Zaghaft hob sich ein Mundwinkel. Den Arm um sie gelegt, gingen wir herunter. Ich fragte während des Ratterns von dem Kaffeeautomaten, nach dem Wunsch etwas zu essen. Uns schien beiden sämtlicher Appetit verloren gegangen. Sorge war ein schlechter Begleiter. Er lag schwer im Magen. Dabei hatten wir Energie dringend nötig. Es blieb also nichts anderes über, als die Kraft einer äußeren Quelle zu beziehen. Kaffee zum einen. Die Hoffnung des Herzens, Sarah wieder bei uns zu haben zum anderen. Eines jedoch stand fest. Wir würden keine Ruhe geben, bis dieses Vorhaben erfolgreich abgeschlossen wäre. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Kaffee bildete die Vorhut, die uns rüsten sollte. Nachdem wir ausgetrunken hatten, begann die Telefonkaskade von Neuem. Wir kontaktierten jeden Einzelnen auf unserer Liste zum wiederholten Male. Die Möglichkeit bestand ja, dass sie inzwischen irgendwo aufgetaucht war. Doch wider Erwarten, kamen auch am heutigen Tage einzig negative Rückmeldungen. Dieses Umhergefrage zum wiederholten Male innerhalb eines kurzen Zeitraums, führte zu unbehaglichen Folgen. Es regte die Gemüter aller auf. Wir erhielten gefühlte hunderte „Warum? Was ist passiert?“, um Informationen von uns zu kriegen, nur der Erfüllung des Sensationsbedürfnisses dienend. Viele waren in ernsthafter Sorge. Der Klatsch würde schon unlängst die Runde gemacht haben. Vermutungen über Vermutungen würden geäußert werden, von denen nicht eine zutreffend war, die sich dann aber hartnäckig halten. Unsere Frustrationstoleranzgrenze war mittlerweile sehr niedrig. Ein Mensch konnte doch nicht einfach verschwinden. Erst recht nicht, wenn es in einer Kleinstadt wie Helmsforth passierte. Helmsworth wurde 1859 gegründet. Mit seiner Einwohnerzahl von 6.014 ein kleiner Ort. Das führt dazu, dass man sich in der unmittelbaren Nachbarschaft kannte. Besonders die älteren Leute liebten es, durch die anliegenden Straßen zu schlendern, sich im Park eine Verschnaufpause zu gönnen, um auf dem Rückweg ein Eis bei Giovannis Gelateria zu essen. Bei ihren Touren lernten sie alle möglichen Einwohner kennen. Manches Mal fingen sie spontan Gespräche an, ich denke, um ihre Neugier zu stillen. Waren sie nicht in Stimmung für Small Talk, suchten sie sich einer der vielen Bänke aus und beobachteten das Geschehen. Und wenn man sich so nicht kennenlernte, dann spätestens auf dem alljährlichen Helmsworth Summer Festival. Dies war ein Fest für Jedermann. Ob jung, ob alt- ganz egal. Jeder kam auf seine Kosten. Zur Auswahl standen Essstände verschiedenster Kulturen, ein Kinderaquapark, Getränkehäuschen, ein Tanzzelt, sowie kleinere Fahrgeschäfte. Wir waren jedes Jahr mit Ave hin gewesen. Sie hatte stets bis in die Abendstunden dort spielend zugebracht. Im Anschluss wurde sie oft von Mary abgeholt. Sie schlief dann bei ihren Großeltern. Wir blieben für die Party dort, tanzten, tranken Cocktails, machten das, was Paare tun, die eine Nacht kinderfrei haben.

      In Grübeleien versunken, stieg die Anspannung im Raum spürbar. Meine Schwiegermutter wanderte unruhig quer im Zimmer herum. Ihre Hände steif nach unten hängend, hatte sie zu Fäusten geballt, welche sich vor Anstrengung rot verfärbten. Auch ich wollte nicht weiter untätig bleiben. Die letzte halbe Stunde vergeudeten wir mit Gedankenspielerei. Dies würde uns kein Stück weiter bringen.

      „Hol deine Jacke!“

      „Was? Wieso? Kam eine Nachricht?“

      „Nein. Wir suchen die Straßen mit dem Auto ab. Ich werd noch verrückt hier!“

      „Was ist wenn Sarah zurückkommt?“

      „Glaubst du wirklich, sie würde urplötzlich wieder vor der Tür stehen? Sie ist derart abwesend, da können wir von Glück reden, wenn sie ein Bekannter aufliest.“, entgegnete ich. Obwohl ich mir nach wie vor ihr Verschwinden nicht erklären konnte. Sie hätte an uns vorbei gemusst. Der einzige Ausgang war die Haustür beziehungsweise die Terrassentür im Erdgeschoss.

      „Vielleicht sollte einer hier warten. Nur für den Fall der Fälle“, schlug Mary vor, die nervös ein Taschentuch mit beiden Händen bearbeitete.

      „Bitte. Komm mit mir. Ich möchte das nicht allein tun müssen. Sicher tut es dir ebenso gut, das Gefühl aktiv was zu unternehmen.“

      „In Ordnung.“

      Wir schnappten also unsere Jacken und los ging es. Wir fuhren mit meinem Pick up Richtung Innenstadt. Ich ließ den Wagen langsam die Straßen entlang rollen. So würden wir mehr sehen. Mein Blick durchkämmte die linke Seite, Sarahs Mum behielt die Rechte im Visier. Wir waren in der Aufgabe versunken. Die Arbeit forderte höchste Konzentration. So sehr, dass wir nicht ein Wort miteinander austauschten. Meine Tanknadel vom Auto sank Stunde um Stunde mehr gen null. Es gab keine Zwischenstopps. Mein Rücken schmerzte. Diese Sitzposition war sehr störend. Trotzdem kam Anhalten nicht in Frage. Ich biss die Zähne zusammen, verdrängte Gefühle von Hunger, Durst und Unwohlsein. Sicher fühlte Mary exakt gleich. Anmerken ließ sie sich nichts. Der Ausdruck in ihren Augen glich dem einer Löwin auf Beutezug. Die wilde Entschlossenheit stach einem regelrecht entgegen. Es war die Art, wie eine Mutter um ihr Kind kämpfte. Hart, unnachgiebig, ausdauernd.

      Eine komplette Tankfüllung verbraucht, riss uns das Signal, welches aufforderte, eine Tankstelle aufzusuchen aus unserer Aufgabe. Entnervt seufzte ich. Mein Kopf legte sich in meine übereinandergeschlagenen Arme, die vom Lenkrad gestützt wurden. Zuvor hatte ich den Wagen am Straßenrand der Kennedy Street geparkt. Sanft spürte ich Ihre Hand an meiner Schulter.

      „Hey. Lass uns heim fahren. Es ist spät. Wir haben unser Bestes getan.“

      Den Motor anlassend, sah ich im Winkel meines Blickes den traurigen Gesichtsausdruck. Sarah, wo bist du bloß? Der Zusammenbruch wäre lediglich eine Frage der Zeit. Wie lange könnten wir das durchhalten? Die Idee eines Suizides mussten wir zu dem engeren Kreis der möglichen Szenarien hinzufügen. Aktuell traute ich Sarah einiges zu. Sie war wie eine Fremde. Die Frau, die ich liebte, hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Eine viertel Stunde später kamen wir bei unserem Haus an. Die drückende Schwere hing belastend über uns. Bevor wir sie nicht wohlauf gefunden haben, würde sich dies kaum ändern lassen. Im Wohnzimmer ließen wir uns auf das Sofa fallen. Mary hörte nebenbei schon die Mailbox des Anrufbeantworters ab. Ich hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Mein Leben glich einem Albtraum. Eine Hiobsbotschaft wurde von der nächsten gejagt. Was würde ich tun, wenn Sarah nicht wieder gesund und lebendig zurückkehrt? Diesen Gedanken schob ich lieber ganz weit von mir. Mary tat es mir gleich. Sie gab sich ebenfalls der Erschöpfung hin. Wir hingen in den Seilen. Sich auch nur minimal zu bewegen, war absolut undenkbar.

      „Neuigkeiten?“, erkundigte ich mich, weiterhin nicht motiviert die Lider zu heben.

      „M m.“

      „Hunger?“

      „Ja“

      „Ich auch.“

      Trotzdem konnten wir uns nicht aufraffen, in die Küche zu gehen oder per Telefon eine Kleinigkeit zu bestellen. Es muss ein komisches Bild gewesen sein, wie wir total platt dort saßen. Doch spiegelte es perfekt unseren Gemütszustand wieder. Beißender als der Hunger nagte die Müdigkeit an uns. Mein Hintern musste ich zeitnah hochhieven, sonst würde die Couch mein nächtliches Domizil sein.

      „Ich denke wir sollten zu Bett gehen.“ Erschöpft reckte sich meine Schwiegermutter, den Mund zu einem weiten Gähnen geöffnet neben mir.

      „Das ist ein brillanter Einfall.“ Gäbe es nicht die Problematik, welche die innere Widerstandskraft mit sich bringt. Man ist sich ja selbst der stärkste Widersacher. Dem eigenen Ego gegenüber standhaft zu bleiben zeugt von immenser Stärke. Gerade in Anbetracht der leichteren Varianten, die zur Simplizität verführen. Mein Rückgrat bedurfte Entspannung. Dies hieß, ich brauchte ein Bett um mich komplett lang machen können. So musste ich mich motivieren, ins Obergeschoss zu gehen.

      „Komm.“