Detlef Wolf

Sail Away


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einem unfreundlichen, kalten Tag im Spätherbst im Nieselregen, an dem man sie in die Grube hineingelegt hatte aus der sie nie, nie wieder herauskommen sollte. Alles war so sinnlos gewesen damals, an diesem Tag, vor nunmehr fast zehn Jahren, an dem er am liebsten zu ihr in die Grube gesprungen wäre, um endgültig und für immer bei ihr zu sein.

      Inken hatte ihn damals davon abgehalten. Und auch Jenny und Johannes und André Schindler und René und Reto. Sie alle hatten ihn mit Trost und Liebe zugeschüttet. So lange und so gründlich, bis er wieder zur Besinnung gekommen war.

      Inken, die Tochter des Hafenmeisters aus Neustadt, seine beste Freundin aus Kindertagen. Wie sehr hatte er sie gemocht. Immer schon. Im Kindergarten und in der Schule, bis er wegging von zu Hause. Und auch dann wieder, nach Franziskas Tod. Aber lieben konnte er sie nicht. Sie war eine Freundin. Die Beste, die man je haben konnte. Aber nicht mehr. Sie hatte das verstanden und war ihm niemals böse gewesen. Jetzt war sie längst verheiratet, glücklich verheiratet und hatte zwei reizende Kinder, die er liebte und denen er Geschenke mitbrachte von wo immer er war in der Welt.

      Jenny und Johannes, das widersprüchlichste Paar, das man sich nur vorstellen konnte. Noch immer waren sie zusammen. Jenny, die quirlige, lebenslustige und Johannes, der schüchterne, zurückhaltende, der kaum den Mund aufbrachte, nicht einmal im Bekanntenkreis.. Aber Jenny war verliebt in ihn wie am ersten Tag, als er Franziska Martins Brief überbrachte und vor Verlegenheit nicht wußte, was er sagen sollte. Da hatte er sich in Jenny verliebt, und diese Liebe war geblieben, unerschütterlich fest, bis zu diesem Tag. Die Beiden wohnten zusammen in München, wo sie auch studiert hatten und Jenny inzwischen in der Marketingabteilung eines Münchener Fernsehsenders arbeitete. Johannes hatte Jura studiert und inzwischen sein zweites Staatsexamen bestanden. Jetzt bereitete er sich auf seine Promotion vor. Danach wollte er in die Kanzlei seines Vaters einsteigen, der damals Martin aus dem Gefängnis geholt und vor Gericht vertreten hatte. Irgendwann wollten Jenny und Johannes auch heiraten, aber sie hatten es nicht sonderlich eilig damit.

      Dann war da René Schindler, der sich um Franziska gekümmert hatte, als ihre Mutter sie in dem Internat in der Nähe von Genf interniert hatte. Dem Internat, in dem sie später so viele glückliche Stunden verbracht hatten. Aber zuvor war René für Franziska dagewesen, hatte die Briefe besorgt, die er und Franziska einander schrieben und hatte sie getröstet, wenn einmal keine Briefe geschickt werden konnten. Sissi hatte er sie genannt, weil sie das ewige “Franzi“ verabscheute, hatte seinen Freund Reto in ihr Geheimnis eingeweiht und war ein treuer Freund geblieben bis heute. Beide, René und Reto wohnten inzwischen in New York, nachdem René einige Jahre in London als Investmentbanker gearbeitet hatte. Aber dann waren sie das Versteckspiel um ihre Beziehung leid gewesen und hatten sich entschlossen, Europa zu verlassen. Renés Vater hatte ihnen den Weg geebnet und auch Retos Eltern hatten schließlich ihren Segen gegeben.

      Ebenso ein treuer Freund war Renés Vater geblieben, der mächtige André Schindler, der schließlich Franziskas Tod gesühnt und ihre böse Mutter beruflich vernichtet hatte. Nie wieder würde Angelika von Weerendonk als Schauspielerin arbeiten können, dafür hatte er gesorgt. Doch nicht das war es, das Martin jedesmal, wenn er von Bord eines Schiffes kam und in den Urlaub gehen konnte, zuerst in die Schweiz fahren ließ, um André Schindler zu besuchen. Es war die tiefe Dankbarkeit, die er empfand, dem Mann gegenüber, der ihm wie niemand sonst neuen Lebensmut gegeben hatte und ihn auf den Weg gebracht hatte, den Weg, der ihn schließlich zum Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff führte. Jetzt, mit neunundzwanzig Jahren, war er dort angekommen. Und da saß er nun, nachts um drei Uhr, achtern, wo ihn niemand sah, in der lauen Nacht und weinte.

      Er weinte, obwohl er sein Ziel erreicht hatte. Er war der “Große Kapitän“ geworden, von dem sie immer geträumt hatten, er und seine “Kleine Krabbe“. Aber dann hatte er sie verloren auf dem Weg dorthin. Und hatte diesen Verlust nicht verwinden können, bis heute nicht.

      ***

      Oh, er hatte ins Leben zurückgefunden, das schon. Ziemlich schnell sogar, dafür hatten seine Eltern und seine Freunde gesorgt. Schon wenige Wochen nach Franziskas Tod hatte er auf einem Frachter der großen Hamburger Reederei angeheuert, um dort sein Praktikum zu machen, wie es erforderlich war, bevor er mit der Ausbildung zum nautischen Offizier beginnen konnte. Das halbe Jahr auf See hatte ihm gut getan. Er wußte, daß er seine Berufung gefunden hatte. Ein Leben auf dem Schiff, das war seins. Auch wenn er als “Moses“, als Lehrling und jüngstes Besatzungsmitglied die am wenigsten angenehmen oder anspruchsvollen Aufgaben übernehmen mußte, arbeitete er wie ein Besessener. Es half ihm, mit seiner Trauer fertig zu werden, und gleichzeitig schuf es die Grundlagen dafür, später ein guter Seemann zu werden.

      Als er nach sechs Monaten das Schiff verließ, war er auf dem besten Wege dorthin. Der Kapitän ließ ihn nicht gerne ziehen, denn er hatte seinen “Moses“ als einen zuverlässigen Mann schätzengelernt, einer, dem keine Arbeit zu viel war, der zuverlässig war, vertrauenswürdig und obendrein noch ein guter Kumpel, den alle in der Mannschaft mochten. Auch wenn er bei den feucht-fröhlichen Abendrunden meist fehlte und sich statt dessen lieber auf der Brücke herumtrieb, von wo aus er stundenlang reglos und in Gedanken versunken auf die nächtliche See hinausstarren konnte. Die Wachhabenden hatten schnell begriffen, daß sie ihn dann nicht anzusprechen brauchten. Er würde sie nicht hören, so weit weg war er. Manchmal hatten sie auch das Gefühl, er weinte, aber sie scheuten sich davor, darauf einzugehen. Irgendetwas war mit dem “Moses“, das fühlten sie mehr als daß sie es wußten. Aber da er es offensichtlich für sich behalten wollte, ließen sie ihn in Ruhe. Am nächsten Tag war er wieder der aufgeräumte, gut gelaunte Kamerad, als den sie ihn kannten, der auch bei ihren manchmal derben Scherzen auf seine Kosten nicht seinen Humor verlor.

      ***

      Nach dieser ersten großen Reise begann er mit dem Nautikstudium an der Maritimen Hochschule in Bremen. Eingeschrieben hatte er sich dort schon, bevor er sein erstes von zwei verpflichtenden Praktika an Bord eines Seeschiffes antrat. Als er ein halbes Jahr später nach Hause zurückkehrte, fand er dort einen Brief von André Schindler, der ihn bat, schnellstmöglich auf ein paar Tage in die Schweiz zu kommen. Es gebe etwas zu besprechen. Ein Rückflugticket Hamburg-Genf-Hamburg hatte Schindler gleich mitgeschickt.

      Martin hatte nicht die leiseste Ahnung, was Schindler mit ihm zu besprechen haben sollte, und auch seine Eltern konnten ihm diesbezüglich keine Auskunft geben. Sie hatten lediglich Schindlers Brief entgegengenommen und ihn für Martin aufbewahrt. Der hielt sich dann auch nicht lange mit Rätselraten auf, sondern machte sich schon am folgenden Tag auf den Weg. Er freute sich, André Schindler wiederzusehen.

      Schindlers altgedienter Chauffeur, Henry Bourant, erwartete ihn am Flughafen in Genf und brachte ihn gleich zu Schindlers prächtigem Haus in den Bergen. Der begrüßte ihn mit gewohnter Herzlichkeit.

      „Komm rein, mein Junge, und such Dir einen Platz. Ich freu mich, daß Du gekommen bist. Erzähl mir von Deiner großen Reise. Wie hat’s Dir gefallen? Du bist ja mächtig weit rumgekommen.“

      Und Martin mußte erzählen, den ganzen Nachmittag hindurch und auch beim Abendessen und danach. Schindler hatte sich viel Zeit für ihn genommen, was höchst selten vorkam, denn er war ein vielbeschäftigter Mann. Zwei Flaschen Wein leerten sie über Martins Bericht. Dann erst war Schindler zufrieden. Sein Gast durfte ins Bett.

      Wie schon bei seinen Besuchen zuvor, nahm er das kleine Gästezimmer. Das andere, große, in dem er so viele glückliche Stunden mit Franziska verbracht hatte, hatte er nie wieder betreten, geschweige denn, darin eine einsame Nacht verbracht. Sein Herz klopfte heftig, als er an der geschlossenen Tür dieses Zimmers vorbeiging.

      Nach dem Frühstück am folgenden Morgen bat Schindler ihn in sein Arbeitszimmer, wo er vor dem Schreibtisch Platz nehmen mußte. Schindler setzte sich dahinter und sah ihn mit ernster Miene an.

      „So, Martin, jetzt sollst Du auch erfahren, warum ich Dich gebeten habe, hierher zu kommen. Ich nehme an, Du planst noch immer, in Bremen Nautik zu studieren?“

      Martin nickte heftig. „Jetzt um so mehr, nachdem ich ein halbes Jahr zur See gefahren bin. Eingeschrieben hab ich mich schon, jetzt brauch ich nur noch ‘n Zimmer, und dann kann’s losgehen. Vier Semester Theorie, dann nochmal ein halbes Jahr aufs Schiff für das zweite Praktikum