Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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aus der Tür, die sich dann quietschend öffnen ließ.

      „Leise, habe ich gesagt.“

      „Ich kann doch nichts dafür, wenn die Tür quietscht“, flüsterte der Kleine erbost zurück.

      „Psst …“

      „Halte doch selber endlich die Klappe.“

      Der Größere sah sich um. Niemand schien von dem Krach beim Öffnen der Tür aufmerksam geworden zu sein. Auf leisen Sohlen betraten sie vom Flur aus die Amtsstube des Kämmerers. In dem geringen Licht, welches durch die Tür hineinschien, konnten sie ihr anvisiertes Ziel erkennen. Der Raum war spärlich mit einer Truhe, einem Tisch und einem Stuhl eingerichtet. Regale, gefüllt mit Pergamentrollen, standen auf beiden Seiten der Wände.

      „Dort ist sie.“

      Sie gingen zur Truhe, die an der hinteren Wand stand, und erbrachen das Schloss mit der Eisenstange. Einen Moment verharrten sie beim Anblick der Tausenden von Münzen. Die Truhe war bis zu zwei Drittel gefüllt. So viel Geld hatten sie niemals zuvor in ihrem Leben an einem Ort gesehen. Der Größere reichte seinem Kumpan einen leeren leinenen Sack.

      „Fülle soviel rein, wie du tragen kannst.“

      „Ich bin ja nicht blöd“, antwortete im Flüsterton der kleinere Mann, sichtlich von den Bevormundungen seines Kumpans genervt.

      Als sie die Säcke gefüllt hatten, wollten sie diese über die Schulter werfen. Doch sie waren so schwer, daß sie sich nur mühsam schultern ließen. Ächzend und gebückt unter der schweren Last verließen sie die Schatzkammer. Kurz vor der Tür an der Rückseite des Hauses, jene, durch die sie in das Haus eingedrungen waren, rutschte dem kleineren Mann der schwere Sack von der Schulter.

      Er stöhnte auf, als der Sack mit einem klimpernden Geräusch auf dem Boden landete. Er holte tief Luft, als er den Sack wieder über die Schulter hieven wollte. Dabei verrutschte ihm sein wollener Umhang, der wie gewöhnlich unterhalb des Halses mit einer Fibel befestigt war.

      „Verflucht noch mal.“

      „Sei endlich leise. Wir wollen so kurz vor dem Ziel doch nicht entdeckt werden. Sie hängen uns augenblicklich.“

      „Ich weiß, aber mein Umhang ist verrutscht. Die Fibel löste sich.“

      „Warum hast du auch den Umhang mitgenommen. Der stört doch nur. Sieh, ich habe keinen.“

      „Weil wir Januar haben, und da ist es bekanntlich winterlich kalt, du Ochse.“

      Der kleine Mann schritt beleidigt hinter seinem Kumpan hinterher. Zankend wie immer, verließen sie das als Rathaus dienende Gebäude mit ihrer Beute. Draußen angekommen, hielten sie nach der Nachtwache Ausschau. Doch ihnen war das Glück hold. Sie verschwanden mit der Kasse der Stadt auf den Schultern im Schutze der unbeleuchteten Straße.

      Walter betrat das Rathaus. Als Schreiber der Stadt hatte er seine Scrivekamere neben der hinteren Eingangstür. Er kramte den schweren länglichen Schlüssel hervor und bückte sich, um den Schlüssel einzuführen. Dabei fiel sein Blick auf seine Füße. Links davon entdeckte er einen Gegenstand, der zuerst wie eine geprägte Münze aussah. Er bückte sich, um die Münze aufzuheben. Als er sie in der Hand hielt, erkannte er jedoch, was er wirklich aufgehoben hatte. Es war eine Scheibenfibel, die auf der ebenen Seite wie eine Münze geprägt war. Doch auf der hinteren Seite war deutlich eine Nadel zum Gewandschließen angebracht. Sie konnte für Umhänge, Mäntel oder Kleider benutzt werden. Er konnte eigentlich niemanden benennen, dem sie gehören könnte, denn in diesen kalten winterlichen Januartagen liefen viele Männer und Frauen mit Mänteln und Umhängen herum, die mit Fibeln verschiedenster Art oder mit Tasseln zusammengehalten wurden. Achselzuckend steckte er sie in die Tasche seines Mantels. Es würde sich der Eigentümer schon melden.

      Walter setzte sich, wobei er seinen Mantel anbehielt. Zum einen, weil seine Scrivekamere unbeheizt war, da sie über keinen Ofen verfügte, und zum anderen wegen einer ehemaligen Verletzung, die er bei diesen Witterungen immer spürte. Als Kind war er fast tödlich bei der Möllner Schlacht von einem Pfeil in den Rücken getroffen worden. Die Wunde war in den vergangenen dreißig Jahren eigentlich gut verheilt, dennoch ließ seine Wetterfühligkeit die Erinnerung an seine schwere Verletzung immer wieder aufleben. Sobald es nasskaltes Wetter gab, schmerzte ihn der Rücken.

      Aber in all den Jahren hatte er gelernt, mit dieser Beeinträchtigung zu leben. Er war froh, dass er die Arbeit eines Schreibers trotzdem ausführen konnte. Es war deswegen nicht daran zu denken gewesen, körperlich schwer als Handwerker zu arbeiten.

      Als sein Vater Prabislav vor zehn Jahren verstarb, kurz nachdem seine Mutter Helene verstorben war, war er als Schreiber in die Fußstapfen seines Vater getreten und übernommen worden. Zuvor hatte er von seinem Vater, der ihm gleichzeitig ein Lehrer war, alles gelernt. Zufrieden lebte er nun mit seiner Frau, seinen zwei Söhnen und einer Tochter in dem geerbten Haus in der Seestrate.

      Walter holte die Urkunde hervor, von der er gerade eine Abschrift fertigte. Es war ein herzögliches Dokument, ausgestellt vom Herzog Albrecht.

      Nachdem die Dänen vor dreißig Jahren vertrieben worden waren, lag die Grafschaft Racis­burg zuerst vakant da. Die Grafschaft fiel anschließend an das sächsische Geschlecht der Askanier, dessen Oberhaupt Herzog Albrecht war.

      Diese Urkunde aus dem Jahr 1254, welche Walter vor sich liegen hatte, war voller wichtiger Mitteilungen. Zum einen hatte der Herzog der Stadt Mulne zwei Dörfer geschenkt. Es handelten sich dabei um die Dörfer Gülze und Pinnau. Das Dorf Gülze lag nordöstlich des Mulner Sees. Es brachte zehn Hufen Land mit. Das zweite Dorf mit zwölf Hufen Land hieß Pinnau und lag westlich des Pinnsees.

      Walter schrieb ab, dass die höve gultzow und pinnow der Stadt geschenkt wurden. Die Borger sollen sie gebrauchen to erer vuringe, mastinge, vischkery, weidinge und beteringe der hüser und Statt.

      Der nächste Absatz, den Walter abschrieb, handelte von der Bestätigung der bisherigen Wahl und der Amtszeiten der Ratsmitglieder, wie sie bereits seit der Mulner Stadtgründung vor über vierzig Jahren praktiziert wurden.

       Dess scholen ze Borger iarlikes veer vrame borger weelen, de ene undt der Stadt mit Rade vorwesen men ane Nutte noch Neete, wen de dat iar weldedigt en hebben. So schal de olde raat in sine borgerlike stede stan, und veer Nye borger to vorstande der Statt weelen und dat schal me zo iarlik holdende wesen ane benetinge, were den sake de to blode effte gode drepe de de ver to raade nicht en schlichten kunden, so scholen ze noch VI olde borger mit rade bevragen unde de sake to godes und aller hilligen lave to der betasten, dat wy nehmen walt don late am live effte gode. Ock scholen unse borger seker zin, wo unse vruw effte wy effte unse lude in de stat kamen und teeren.

      In diesem Passus der Urkunde garantierte der Herzog Albrecht die Sicherheit der Bürger, wenn seine Leute – die herzogliche Familie und der von ihm eingesetzte Vogt Henricus – sich in der Stadt aufhielten. Dies taten sie ausschließlich in der neuen herzoglichen woninghe. Diese woninghe befand sich nun auf dem Grundstück, welches vorher dem inzwischen verstorbenen Lokator Konrad Wackerbart gehört hatte.

      Zum Schluss der Urkunde bestätigte der Herzog noch, dass kein Bürger ohne Grund mit Gefängnis bestraft werden solle. Er lege wert darauf, dass Verbrechen und die verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis stehen sollten. Jeder Nachteil, der sich für einen Bürger ergab, solle ihm berichtet werden.

      Walter tauchte seine Schreibfeder in das Tintenfass hinein. Gekonnt zeichnete er die Buchstaben mit ihren kunstvollen Schwüngen ab. Es war eine Arbeit, die viel Konzentration verlangte. Dies fiel ihm nicht schwer, da er in dieser Arbeit aufging. Deshalb bekam er anfangs auch nicht den außergewöhnlichen Lärm und die Rufe mit, die an diesem frühen Morgen ertönten.

      Aber dann wurde er doch neugierig und verließ seine Scrivekamere. Er ging den anderen Flur entlang und folgte den aufgeregten Stimmen. Vor der Schatzkammer hatten sich viele Leute versammelt. Aufgeregt sprachen sie durcheinander. Walter erkannte die vier aktiven Ratsmitglieder, sowie den ersten Bürgermeister Ludolp. Zwei weitere Ratsmitglieder, deren Ämter gerade ruhten, waren auch anwesend.