Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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Stadt. Dieser Mann, der den Namen Ulrich trug, war in Walters Alter. Mit seinen zweiundvierzig Jahren hatte er schon keine Haare mehr auf dem Kopf. Dadurch wirkte die große Nase äußerst hervorstechend und fehl am Platze. Ulrich war stets dafür bekannt, dass er immer etwas zu sagen hatte. Nie war er wortkarg oder auf den Mund gefallen. Doch diesmal war es anders. Kein Wort brachte er entgegen seiner Gewohnheit heraus. So sehr schien ihn diese Angelegenheit mitzunehmen. Als Walter herantrat und einen Blick durch die aufgebrochene Tür in die kamere warf, blieb sein Blick an der leeren Truhe haften. Sofort wusste er den Grund der außergewöhnlichen Versammlung.

      „Wir haben noch keinen Verdacht.“

      „So eine Gemeinheit.“

      „Das ist so schlimm, ich weiß nicht wie es weiter gehen soll.“

      „Nein“, ließ das Ratsmitglied Peter wissen, „wir müssen sofort etwas tun.“

      Das wurde allmählich dem ersten Bürgermeister Ludolp zu viel. In diesem Moment kam sein Stellvertreter, der zweite Bürgermeister Hermann, hinzu. Seit dem letzten Jahr hatte sich bei der Besetzung des Amtes des Bürgermeisters etwas geändert. Es sollte nun in Mulne zwei Bürgermeister geben. Der erste und der zweite Bürgermeister wurden direkt von der Bürgerschaft auf Lebenszeit gewählt.

      Als Hermann hinzutrat, informierte ihn Ludolp über das Vorgefallene. Die Farbe entwich sofort aus Hermanns Gesicht, und eine unnatürliche Blässe überdeckte es. Die beiden Bürgermeister sprachen kurz miteinander, bis der erste Bürgermeister an alle anwesenden Ratsherren appellierte.

      „Ich verpflichte Euch dazu, über diesen Diebstahl Stillschweigen zu bewahren. Kein Wort darf nach draußen an die Bürger gelangen. Niemand spricht zu Hause ein Wort darüber.“ Er drehte sich zum Schreiber Walter um. „Niemand, auch der Schreiber nicht.“

      Walter nickte, und Ludolp fuhr fort.

      „Wir werden unsere Nachforschungen betreff des Diebstahls heimlich anstellen. Heute Abend, bei Anbruch der Nacht, rufe ich eine Ratsherrenversammlung ein. Es sollen alle zehn Ratsmannen anwesend sein. Lasst es alle wissen. Aber geht dabei umsichtig vor, damit niemand Verdacht schöpft. Wir treffen uns im Ratssaal.“

      Walter ging zu seiner Schreibkammer zurück und setzte sich wieder an seine Urkunde. Aber die Feder wollte einfach nicht so gefühlvoll wie üblich die Buchstaben zeichnen. Bald ließ er davon ab. Seine Gedanken konnten sich einfach nicht darauf konzentrieren. Der Diebstahl in der Mulner Schatzkammer beschäftigte ihn einfach zu stark. Es wäre eine Katastrophe, sollte das Geld unauffindbar bleiben. Dies wäre für die Stadt ein Debakel, das auf viele Jahre hinaus Auswirkungen haben würde. Löhne könnten nicht gezahlt, und bauliche Vorhaben wie die geplanten wehrhaften Mauern der Stadt nicht ausgeführt werden. Auch ein großes Rathaus, oben auf dem Eichberg neben der Kirche, war eigentlich in ferner Zukunft geplant.

      Er fragte sich, was er beitragen könne, damit der Schaden von der Stadt abgewendet würde.

      Das Tageslicht ging an diesem Januartag früh zur Neige. Walter hatte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren können. Zu oft waren seine Gedanken abgeschweift. So verließ er seine Scrivekamere und ging einen kurzen Umweg, um noch bei Tageslicht nach Hause zu gelangen.

      Eigentlich waren am Fuße des Eichbergs im Süden die letzten Häuser der Stadt. Aber es hatte nun eine Stadterweiterung eingesetzt. Dadurch, dass die Dörfer gultzow und pinnow der Stadt geschenkt worden waren, hatte eine regelrechte Landflucht eingesetzt. Bürger der Dörfer waren in die Stadt gezogen, um die Stadtrechte genießen zu können. Ihre Hufe bewirtschafteten sie danach von der Stadt aus, indem sie täglich auf ihre Äcker gingen. Aber auch andere Menschen aus den umliegenden Dörfern waren sich der wachsenden Bedeutung Mulnes bewusst geworden. So wurden neue Häuser gebraucht und bald gebaut, und gleichzeitig entstanden dadurch neue Straßen. Es kamen die Pinnauerstrate, die Jodenstrate und im Südosten die Mühlenstrate hinzu. Die neue südliche Stadtgrenze sollte hernach die ebenfalls neu geschaffene Grubenstrate sein. Damit war die Stadt in kurzer Zeit um ein weiteres Drittel gewachsen.

      Walter durchschritt die neue Jodenstrate. Überall waren noch im Bau befindliche Häuser. Den Winter über hatten viele neue Bürger den Bau ihres Hauses gestoppt.

      In dieser kalten Januarluft zog Walter den Mantel enger um sich. Er fror, doch brauchte er dringend frische Luft. Er kam an einem rasor, einem Bartscherer vorbei. Er fasste sich an das Gesicht. Seine Bartstoppeln waren deutlich spürbar, doch verspürte er geringe Lust sich an diesem Tag rasieren zu lassen. Wenige Leute waren in den Straßen unterwegs. Einen von diesen kannte er nur zu gut. Er kam auch direkt auf ihn zu, als er ihn erkannt hatte.

      „Guten Tag, mein Sohn. Was führt dich in diese neue Straße?“

      Walter blickte in die gutmütigen Augen des ersten Pfarrers der Stadt. Florenz war seit 1238 Pfarrer in Mulne. Die Menschen hielten viel von dem Kleriker. Anders als viele seiner Amtsbrüder, die oft nur an ihr eigenes Wohl dachten, kümmerte Florenz sich wahrlich um die Sorgen und die Nöten der Menschen. Er besuchte sie daher oft zu Hause. Gerade kam er von einem jener Hausbesuche zurück, als er zufällig Walter auf der Straße gehen sah.

      „Ich musste ein wenig an die frische Luft.“

      Die Augen des Pfarrers verengten sich. Prüfend musterte er sein Gegenüber.

      „Du siehst auch ein wenig blass aus. Hat das etwas mit den Geschehnissen zu tun?“

      „Welche Geschehnisse? Ich weiß nicht wovon ihr redet.“ Walter wusste es nur zu gut. Aber er hatte dem Bürgermeister sein Versprechen gegeben zu niemandem etwas zu sagen. Dazu ge­hör­te selbstverständlich auch der Pfarrer, auch wenn es ihm schwerfiel.

      Also hatte sich doch schon ein Gerücht auf den Weg gemacht.

      Der Pfarrer sah ihn immer noch prüfend an. Aber dann kam ihm die Erkenntnis.

      „Ich gehe mal davon aus, dass dir verboten wurde, darüber zu sprechen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass du dein Versprechen brichst. Wie geht es den Kindern?“

      „Gut, Herr Pfarrer, sehr gut. Sie wachsen und gedeihen.“

      Die beiden Männer sprachen noch über belanglose Angelegenheiten, bis sie sich trennten. Inzwischen wurde es dunkel. Walter ging zu seinem Haus.

      „Was ist mit dir? Du siehst so blass aus.“ Seine Frau Sieglinde begrüßte ihn besorgt.

      „Nichts, gar nichts. Das liegt wohl nur am kalten Wetter.“ Es gefiel Walter gar nicht, dass in seinem Gesicht so leicht abzulesen war, dass ihn etwas bedrückte. Dennoch konnte und durfte er nichts sagen, auch wenn er dabei den Pfarrer und seine Frau belügen musste. Er hatte es nun einmal dem Bürgermeister versprochen.

      In der Stube brannte Feuer im offenen Kamin und verbreitete wohlige Wärme, deshalb zog er seinen Mantel aus, den er über den Stuhl legte. Dabei kullerte die Scheibenfibel heraus, die er am Morgen nach dem Fund in die Tasche gesteckt hatte. An die Fibel hatte er gar nicht mehr gedacht. Er hob sie auf und betrachtete sie im flackernden Licht des Kamins genau.

      Der Bürgermeister eröffnete die außerplanmäßige Ratssitzung.

      „Ratmannen der Stadt Mulne. Hermann und ich haben diese Ratssitzung einberufen, weil sich in unserer Schatzkammer ein dreister Diebstahl ereignet hat. Das gesamte Geld der Stadt wurde entwendet. Wir sind hier, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.“

      Der Ratmann Friedrich erhob sich. Er war zwar ein äußerst kleiner Mann, aber mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet. Seine Meinung wurde bei jeder Angelegenheit gern angehört.

      „Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, was passiert, wenn das Geld nicht wieder auffindbar ist. Wir alle wissen, dass das Geld dringend gebraucht wird. Nach der Stadterweiterung ist zum Schutze der Stadt eine allumfassende Stadtmauer geplant. Sie soll wehrhafte Türme und drei Tore haben. Darüber hinaus soll ein breiter Stadtgraben für unsere Sicherheit sorgen, damit wir nicht mehr allen Heeren schutzlos ausgeliefert sind, so wie ich es selber als Kind erfahren habe, als die Dänen die Stadt ohne Gegenwehr einnahmen. Aber dies alles kostet viel Geld.