Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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ist mir auch aufgefallen. Eine große Furcht liegt wie eine Nebeldecke über jedem Haus. Sie erdrückt nahezu jeden. Wir können halt nur abwarten und beten. Silent leges inter arma. Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze.“ Thiedardus seufzte.

      Prabislaw horchte auf, als Walter die knarrende Holztreppe herunterstieg. Zielgerichtet ging der zwölfjährige an den Männern vorbei und wollte zur Tür hinaus.

      „Halt, junger Mann. Wo willst du hin?“

      Walter stockte, als wenn er auf frischer Tat ertappt worden wäre. Er versuchte, entspannt zu klingen, was ihm nicht vollkommen gelang. Er belog selten seine Eltern und war daher nicht darin geübt.

      „Ich … ich gehe zu Henrik. Wir sind zum Spielen verabredet.“

      „Was, heute wo die Dänen praktisch durch unsere Straßen laufen?“

      „Warum nicht? Wir spielen bei ihm im Garten.“

      Prabislaw war nicht wohl bei dem Gedanken. Er wusste nur zu gut um das furchtlose Draufgängertum seines Sohnes. Er erinnerte sich noch daran, dass einmal Walter und Henrik mit Pfeil und Bogen geübt hatten. Vor lauter ungezügeltem Übermut hatte sich Walter mit gespreizten Beinen über einen ausgewachsenen Kürbis gestellt. Henriks Schuss ging leider knapp vorbei, und der Streifschuss an Walters rechtem Bein war sehr schmerzhaft. Die Narbe war gut sichtbar und gemahnte zur Vorsicht.

      „Also gut, aber verspricht mir, dass ihr nicht zu den Dänen geht, sondern nur bei Henrik hinterm Haus bleibt.“

      „Natürlich, Vater.“

      Walter schlug die Tür schnell hinter sich zu und lief zu Henriks Haus, bevor sein Vater ihn zurückrufen konnte. Oft fand er die Vorsicht seines Vaters übertrieben. Darauf entgegnete sein Vater stets, dass er in seiner Kindheit genauso draufgängerisch gewesen sei. Walter konnte dies nicht glauben angesichts der übertriebenen Vorsicht, die sein Vater in allen Lebenslagen walten ließ. Hatte er sich so verändert?

      Schnell schob Walter diese Gedanken zur Seite. Als er Henriks Haus erreicht hatte, klopfte er zweimal. Bald lugte auch schon Henriks schmaler Schädel heraus. Die Augen des blonden Jungen strahlten vor Unternehmungsgeist.

      „Komm.“

      Henrik huschte eilig durch die Tür und schloss sie leise, bevor seine Eltern mitbekamen, dass er weg war. Sie sollten nicht wissen, was die beiden Jungen vorhatten.

      Sie gingen nach Süden und waren bald aus der Seestraße heraus.

      Noch bevor sie es sehen konnten, hatte der Wind die Geräusche des Feldlagers hinüber­geweht. Und dann sahen sie es endlich. Tausende von dänischen Soldaten standen, lagen oder saßen herum. Einige lagen auf Mänteln, die sie auf die kalte gefrorene Erde gelegt hatten. Überall brannten Feuer, an denen sie sich wärmten. Es mochten hunderte sein. Der Rauch stieg allerorts in den Himmel, wo er sich baldigst in das natürliche Grau der Wolken auflöste und verschwand. Die Jungen waren fasziniert. Bunte Wimpel und Wappenstandarten empfingen sie. Überall sahen sie Helme, Rüstungen, Schwerter, Lanzen und Speere. Pferde, Ochsen und Wagen standen am Rand in einem extra bewachten Gehege.

      Der ganze südliche Werder war voller Krieger mit ihren Waffen. Jeder einzelne Däne war kriegsmäßig ausgerüstet. Dazu gehörten Waffen und Zubehör, Lebensmittel und Kleidung. Jeder Reiter hatte ein Schild und eine Lanze, ein Schwert und ein Kurzschwert, einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen darin. Auf den Karren erblickten die beiden Jungen Spitzhacken, Äxte, Bohrer, Beile, Schaufeln, Spaten und andere Sachen, die man bei einem Heer gebrauchen kann. Lebensmittel waren ausreichend vorhanden, sodass sie für ein paar Wochen reichen würden. Es schien an alles gedacht zu sein.

      Die Jungen gingen durch das Lager. Niemand der Kriegsleute störte sich daran. Jeder ging seiner Beschäftigung nach. Einige reinigten ihre Waffen, andere überprüften ihre Kleidung und Ausrüstung. Wieder andere schliefen. Walter kam an einem großen bärtigem Mann vorbei, der auf dem Rücken lag und schnarchte. Neben ihm lag sein Schwert aus Eisen. Es hatte einen kunstvoll verzierten goldenen Griff. Walter war gleich davon so fasziniert, dass er ohne nachzudenken wie von selbst danach griff. Er spürte die goldene Kälte in seiner Handfläche. Sofort fühlte er ein Gefühl der Unbesiegbarkeit und Stärke in sich aufsteigen. Mit diesem Schwert war er so unsterblich und würde wie Siegfried jeden Drachen töten, wie in dem Nibelungenlied, welches er kürzlich vernommen hatte. Er hob es an. War das schwer!

      Plötzlich schnellte eine starke Hand von unten hervor und umgriff seine kindliche Hand. Es war eine unheimlich große Pranke. Der Mann war so stark, dass er nur einmal kräftig zog und Walter vornüber flog. Beide ließen sie dabei das Schwert wieder zu Boden fallen.

      „Willst du, dass ich dich mit dem Schwert durchbohre? Was fällt dir ein, es mir zu stehlen?“

      „Entschuldige, mein Herr, ich wollte es nicht stehlen. Ich hätte es gleich wieder hingelegt, doch musste ich es einfach einmal in die Hand nehmen. So ein schönes Schwert habe ich noch nie gesehen.“

      Walter war noch immer verwirrt, dennoch sprudelten die Wort aus ihm heraus. Sie schienen jedoch den Dänen besänftigt zu haben. Er war nicht mehr so erzürnt.

      „Warum fragst du mich denn nicht, sondern nimmst es selbst? Da muss ich doch davon ausgehen, dass du ein gemeiner Dieb bist.“

      „Ja sicher. Ich habe darüber nicht nachgedacht.“ Unsicher erhob sich Walter langsam, den Blick auf die Augen des bärtigen Dänen gerichtet. Henrik stand unsicher daneben.

      „Komm her, Junge.“

      Walter gehorchte.

      „Hier, hebe das Schwert hoch, und zeige mir, wie du damit fechtest.“

      Zuerst glaubt Walter, sich verhört zu haben, doch dann kam er der Aufforderung nach. Er hob vorsichtig das Schwert an, wobei er es nicht gänzlich schaffte, die Spitze horizontal zu heben. Bald musst er es vor Erschöpfung niederlegen. Schwer keuchend stand er da. Der Däne, und einige herumstehenden Kriegsleute, lachten vor Schadenfreude.

      Walter war es peinlich.

      „Das macht nichts, mein Junge. Jeder war mal ein Kind. Wenn du älter bist, kommt die Kraft. Wie heißt du denn?“

      „Walter, und das ist mein Freund Henrik.“ Walter zeigte neben sich.

      „Mein Name ist Gram.“

      „Das ist aber ein seltsamer Name.“

      Gram lachte. Es war wie ein Grollen. Bei seiner Körpergröße und Stärke, dachte Walter, würde die Erde um ihn herum beben.

      „Es ist auch ein uralter Name. Ich komme aus einem Land, welche noch weiter nördlicher als Dänemark liegt. Der Name gehörte einst König Gram. Hast du noch nie von ihm gehört?“

      „Doch, aber König Gram wurde erschlagen. Das könnte auch dir geschehen.“

      Gram lächelte, als er diese Worte vernahm.

      „Ach, weißt du, wenn du dich dazu entschließt, in den Krieg zu ziehen, musst du jeden Tag damit rechnen, zu sterben. Ich habe schon so viele Freunde neben mir sterben sehen, und selber unendlich viele Feinde erschlagen, dass ich selbst keine Angst mehr vor dem Tod habe. Aber da ich auch abergläubisch bin, habe ich wie mein Namensgeber meine Waffe mit einem goldenen Griff versehen.“

      „Wann beginnt denn die Schlacht?“ Walter hatte seine Neugier nach einer kurzen nachdenklichen Pause wieder gewonnen.

      „Morgen bei Tagesanbruch sollen wir diesen Hügel, den du da siehst, erklimmen und dort Aufstellung nehmen. Das hat Graf Albrecht befohlen.“ Gram zeigte den Berg hinauf.

      „Ich hoffe, dass dir nichts geschieht.“

      „Das ist lieb von dir. Wie sieht es aus? Ihr seid doch sicherlich aus der Stadt. Seid ihr das erste Mal in einem Feldlager?“

      „Ja.“

      „Dann kommt mit. Ich zeige und erkläre es euch.“

      Die Augen der Jungen leuchteten auf und strahlten vor Freude. Sie folgten dem bärtigem Gram.