Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


Скачать книгу

der im romanischen Stil gehalten war. An einen Kirchturm, bzw. eine Apsis war noch nicht gedacht. Erst Jahrzehnte später sollten sie errichtet werden.

      Für die Steine, die den unteren Bereich, also das Fundament, bilden sollten, hatte die Natur gesorgt. Die Eiszeit hatte sie als überall herum liegende Findlinge hinterlassen. Ringsherum auf den Feldern und in den Wäldern fanden Bauern größere und kleinere Steine. Auf ihren Karren und Fuhrwerken wurden sie zum Eichberg geschafft. Unablässig wurden die Steine herangeschafft. Die von Ochsen gezogenen Karren ächzten und knarrten unter der schweren Last. Mehr als einmal geschah ein Unglück. Entweder kamen die schwer beladenen Karren den Berg nicht herauf, die Steine purzelten aus der Karre den Berg herunter, oder eine Achse brach stöhnend unter dem Gewicht.

      Steinmetze bearbeiteten auch öfters noch an der Baustelle die größeren Steine. Als dies geschafft war, wurden eigens Backsteine gebrannt. Unendlich viele wurden hergestellt, und mit Mörtel verbunden aufeinander geschichtet. Dabei vergingen beim Kirchbau die Jahre.

      Der Regen hatte aufgehört an diesem trüben Junitag. Prabislaw hatte vor wenigen Tagen seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Aber ihm war nicht so recht zum Feiern zumute gewesen. Seine Freunde Thiedardus und Johannes und andere waren gekommen. Reinold war schon vor fünf Jahren an Altersschwäche gestorben. Der Lauf der Dinge war eben nicht aufzuhalten.

      Für Prabislaw galt aber eine andere Zeitrechnung. Er zählte die Jahre, bis Helene und die anderen Geiseln aus Dänemark zurückkommen würden. Jetzt waren es nur noch zwei Jahre, die er ohne sie ertragen musste. Er zählte rückwärts. Keine andere Frau war ihm seitdem ebenbürtig im Vergleich mit Helene erschienen. Keine war wie sie. Versuche anderer Väter ihn mit ihren Töchtern zu vermählen, waren an seiner harschen und verbohrten Art kläglich gescheitert. Heiratsfähige Frauen und deren Väter hatten bald gemerkt, dass Prabislaw ein hoffnungsloser Fall war, und gaben jeden weiteren Versuch auf. Er galt als Sonderling.

      An diesem Nachmittag war er schon früher zu Hause in der Seestrate und schnitze Holzfiguren. Für seine geschickten Finger war das in seiner freien Zeit eine entspannende Ablenkung.

      Geräusche drangen von der Straße an sein Ohr. Zuerst achtete er nicht darauf und schnitzte weiter. Aber dann wurden die Stimmen immer lauter. Sie waren bald in der Nähe seines Hauses. Er konnte laute Rufe heraushören, die Schmährufe beinhalteten.

      „Mörder.“

      „Hängt ihn auf.“

      „Du Schwein, in der Hölle sollst du schmoren.“

      Neugierig geworden, erhob er sich und trat an seine Tür. Vor sich erblickte er ein Bild, welches er noch nie in der Stadt gesehen hatte. Die Menschen der Stadt waren aus ihren Häusern getreten und standen überall Spalier. In ihren Händen hielten sie verdorbene Esswaren und Steine, die sie zum Werfen bereit hielten. In der vom Regen aufgeweichten Straße zog sich ein Trupp von sieben Reitern hin. Die Pferde sanken tief in den Matsch ein. Ihr Gang war daher mühselig, und die Tortur des Beworfenen dauerte dadurch länger.

      An der Spitze ritt Konrad Wackerbart. Stolz saß er auf seinem Pferd, welches eine verzierte rote Decke unter dem ebenfalls verzierten Sattel trug. Das Zaumzeug war auch mit kunstvollen Nieten beschlagen, welches den Reichtum des Reiters signalisierte. In Konrads Gesicht spiegelte sich vollkommene Zufriedenheit ab.

      Prabislavs Blick wanderte zu dem gefangenen Reiter hinüber. Er war das genaue Gegenteil des Lokators. Verdreckt mit lausigen langen Haaren saß er gefesselt und eingesunken auf dem Pferd, welches ihn bei jedem mühseligen Schritt durchschüttelte. Sein Körper, der sich durch die auf dem Rücken gefesselten Hände nicht richtig festhalten konnte, wurde so hin und her bewegt, dass es schien, er könnte jeden Moment herabfallen.

      Zuerst erkannte er den Gefangenen nicht. Doch als dieser auf der Höhe von Prabislavs Haus stand, sah dieser mit einem verächtlichen Blick auf den Schreiber herab. Das war der Moment, als Prabislaw den Gefangenen trotz des Dreckes identifizierte. Sein Herz blieb für eine Sekunde vor Schreck stehen. An diesen Mann hatte er seit vierzehn Jahren nicht mehr gedacht. Er war davon ausgegangen, dass er schon seit vielen Jahren tot sei. Gestorben bei irgendeiner seiner räuberischen Taten. Ungläubig starrte er den Gefangenen an.

      Dieser Mann war Zwentepolch.

      Prabislaw wusste nicht wie er reagieren sollte. Furcht und Verwirrung waren diese Gefühle, die ihn sofort ergriffen. Sofort erschienen die Bilder von dem Überfall an der Delbende wieder vor seinem geistigem Auge, die er eigentlich verdrängt hatte. Aber brauchte er denn Furcht vor diesem gefesselten Mann zu haben? Wohl eher nicht. Als er sich darüber klar wurde, war Zwentepolch auch schon an ihm vorübergeritten.

      Was er sah war, wie unablässig Gegenstände nach Zwentepolch geworfen wurden. Sie prallten ab. Dies schien dem Gefangenen nichts auszumachen. Aber in Prabislavs Erinnerung blieb dieser verachtende Blick, den er aufgefangen hatte. Er war sich sogleich sicher, dass Zwentepolch auch ihn erkannt hatte.

      Sollte er sich Sorgen machen? Er verneinte, und sah dem seltsamen Zug hinterher, der sich durch jede Straße Mulnes zog. Dies tat Konrad absichtlich, damit jeder sehen konnte welch großen Fang er gemacht hatte. Es gefiel ihm sichtlich, sich im Glanz des Ruhmes zu sonnen.

      Zwei Tage später wurde Gericht über Zwentepolch gehalten. Der Prozess fand in des Lokators Haus statt. Eigentlich war Konrad der Rychtevoghede der Stadt. Doch da er als Zeuge und Angegriffener bei dem Überfall selbst aussagen musste, gab er sein Amt an das Ratsmitglied Heinrich ab. Genauso verhielt es sich beim Schreiber der Stadt. Eigentlich wäre dies die Aufgabe Prabislavs gewesen. Da auch er der wichtigste Zeuge des Überfalls war, wurde ein Ersatz für ihn gefunden.

      Prabislaw hatte inzwischen erfahren, wie es zu der Festnahme Zwentepolchs gekommen war. Nach dem Überfall an der Delbende war es niemandem gelungen, Zwentepolchs Räuberbande Herr zu werden. Das lag nach wenigen Überfällen entlang der Via Regia auch daran, dass die Bande bald aus der Grafschaft Racisburg nach Osten verschwand. In der Grafschaft Gunzelins von Schwerin hatte Zwentepolch weiter sein Unwesen getrieben. Sie waren auch bis Wismar und Rostock gelangt. Jahrelang hatte sich die Räuberbande mit Überfällen auf Händlerkarren am Leben gehalten. Die Händler wehrten sich so gut sie konnten. Zwar fiel ein Kumpan Zwentepolchs nach dem anderen, doch dem Anführer war nicht beizukommen gewesen.

      Zuletzt waren nur noch er und Slaomir übriggeblieben. Ihre Taten wurden immer ver­zweifelter. Vor den Toren der Stadt Schwerin war es jedoch wackeren Leuten gelungen, Zwentepolch gefangen zu nehmen. Slaomir starb stattdessen an einem Schwerthieb.

      Bevor jedoch die einfachen Leute, angetrieben durch ihren verständlichen Gerechtigkeitssinn, den Räuber am nächsten Baum hängen konnten, bekam der Rychtevoghede Schwerins Wind von der Gefangennahme. Er ließ sich den Mann unter den Unmutsbezeugungen der braven Leute aushändigen und sammelte Beweise für die vielen Taten des Zwentepolchs in seinem Bereich.

      Da geschah es zufällig, dass sich Konrad Wackerbart zu Besuch in Schwerin wegen Geschäf­ten aufhielt. Er hörte von der Festname und war wild entschlossen, selbst den Prozess gegen Zwentepolch in seiner Stadt zu führen. Schließlich war der Überfall an der Delbende, der die Verwundung Reinolds und den Tod seiner Männer zur Folge hatte, Zwentepolchs erste Tat gewesen. Deshalb sah er für sich ein Vorrecht. Es begann mit dem Schweriner Rychtevoghede ein Gefeilsche. Nach Graf Gunzelins Zustimmung erhielt Konrad den Gefangenen gegen einen hohen Obolus ausgehändigt. Den zahlte Konrad gern.

      Heinrich eröffnete den Prozess und las die Anklage vor. Heinrich gehörte zu den vier Ratsmitgliedern der Stadt. Bei Gerichtsverfahren, die wegen mörderischer Bluttaten, Ent­schei­dungen über Grundbesitz und anderes Eigentum geführt werden mussten, wurden noch sechs weitere Bürger hinzugezogen. Diese waren jedoch bereits schon zuvor einmal Rats­mitglied gewesen. Das lübische Stadtrecht sah vor, dass nur vier Ratsherren sich ständig im Amt befanden, während für die restlichen sechs die Amtsbedienung ruhte. Nur bei besonders wichtigen städtischen Entscheidungen über Erbe, Eigentum und bei Mordtaten wirkte also der gesamte alte und neue Rat zusammen.

      Neben Heinrich saßen dementsprechend zehn Schöffen der Stadt. Danach wurden die Zeugen Prabislaw und Konrad Wackerbart vernommen. Ihre Aussagen deckten