Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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der vom Mondlicht erhellten Nacht. Der Schlag war mit solcher Härte ausgeführt, dass die Vibration durch Prabislavs gesamten Körper hindurchging.

      Aber er kannte noch Zwentepolchs Kampfstil von früher und wusste, was ihn erwartete. Dem war auch so. Schlag auf Schlag kamen die Schwerthiebe; es war eine Folge jahrelanger Übung Zwentepolchs. Tapfer parierte Prabislaw jeden einzelnen von ihnen, bis die gleichmäßige Schlagfolge abrupt abriss.

      Er sah unerwartet den dunklen Schatten Zwentepolchs auf die Knie niedersinken, sah dessen Schwert mit der Hand in den Dreck fallen. In diesem Moment wusste er, dass er weiterleben konnte. Weiterleben, um Helene sehen zu können.

      Aber Zwentepolch war nicht tot.

      Durch den Lärm und die Rufe alarmiert, waren die Fronknechte und Nachtwächter herbei­geeilt. Seit den Anfängen der Stadt galt für die Borger eine Wachtpflicht. Für diese Nacht waren die Brüder Hinrik und Nikolaus Smylowe abgestellt twe wachte, zwei Wächter, zu stellen. Sie waren auf ihrem Rundgang durch die Seestrate gewesen, als sie der Hilferuf ereilte. Eifrig, wie die zwei jungen Männer waren, liefen sie durch die dunkle Straße, als sie die Umrisse eines Mannes mit langen Haaren erkannten. Intelligent wie sie waren schlossen sie sogleich richtig, dass es sich um Zwentepolch handeln müsse. Hinrik reagierte gleich, indem er seine Lanze hob und warf.

      Seine Lanze traf von hinten in Zwentepolchs rechtes Bein. Zwentepolch war auf die Knie gesunken. Dann folgte ein einzelner präziser Schwerthieb, von Nikolaus geführt, der Zwentepolchs erhobene rechte Hand sauber abtrennte. Kampfunfähig war Zwentepolch daraufhin zur Seite gekippt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er da und starrte nur auf Prabislaw. Starrte ihn nur hasserfüllt an, während sein Blut ungehindert aus dem Stumpf des Unterarmes in den Morast der Seestrate rann. Kein Schrei des Schmerzes kam derweilen über seine Lippen.

      Die Bürger, die aus ihren Häusern herbeigeeilt waren, sahen diesem Spektakel fasziniert zu. Wann wurde ihnen ansonsten in ihrem trostlosen Alltag so eine Abwechslung geboten?

      Am nächsten Morgen wurden die Mulner nicht um ein weiteres Schauspiel gebracht. Wann gab es in dieser neuen Stadt denn schon einmal eine Hinrichtung? Zwentepolch war notdürftig behandelt und die Blutung mit dicken Verbänden provisorisch vom Bader gestillt worden. Jedenfalls nur soweit, dass er seine eigene Hinrichtung noch erleben konnte.

      Vor der Stadt, auf der Südseite des Werders, war ein Galgen errichtet. Es war der kräftigste Baum ausgesucht worden. Am starken Ast, der nach Süden wuchs, baumelte ein Seil herab, das in einer Schlinge endete, durch die gerade ein Kopf hindurchpasste. Darunter war eine hölzerne Kiste aufgestellt. Zwentepolch wurde auf die Kiste gestellt, die Schlinge um seinen Hals gelegt und daraufhin zugezogen, bis sie eng an seinem Hals anlag.

      Der Rychtevoghede stellte sich vor dem Todgeweihten auf. Da die Hinrichtung kurz bevor­stand, las er von einer Rolle jenen Spruch ab, den das Ritual für diesen Anlass vorschrieb.

      „Da Zwentepolch vom hohen Gerychte verurtheilt, so buytt ich den Radt, sie sollen sein Leben auf der heilgen Erd außlyschen, so er kann erlanghen den Himmel. So Gott wyill. Und dies Gedechtnuß unsrer Stadt bleibt, den großen Herren Gedencken lang, von derlei Synd reine.”

      Heinrich war gezwungen, sich peinlichst genau an das vorgeschriebene Prozedere zu halten. Was würde denn geschehen, wenn ihm ein Fehler bei der Hinrichtung unterliefe? Der Schaden wäre immens groß und nicht wieder gutzumachen. So könnte die Seele des Toten nicht in den Himmel aufsteigen, und die Blutschuld wäre nicht von der Stadt genommen. Ewig würde dies Unrecht auf der Stadt lasten, und der Grund für Unglücke und Krankheiten sein. Ein solcher Fluch sollte nicht durch seine Schuld auf die Stadt fallen.

      „Durch das Blutgericht wurde der Beschuldigte zum Tode durch den Strang verurteilt. Er soll so lange gehängt werden, bis der Tod eintritt. Das Urteil wird jetzt vor den Bürgern Mulnes unter den barmherzigen Augen Gottes vollstreckt. Die Schandtat des Zwentepolch sei somit vor dem Gesetz gesühnet. Möge Gott dem Sünder verzeihen. Das Gesetz kann es nicht. Möge sogleich das Urteil vollstreckt werden.“

      Heinrich trat zurück und sah auf die Menschenmenge, die im Halbrund stand. Beinahe alle Bürger Mulnes – welche an Zahl schon einige hundert waren – hatten sich versammelt. Keiner wollte sich das Schauspiel entgehen lassen. Gespannt blickten sie auf den Todgeweihten. Einige Kleinkinder weinten, ansonsten herrschte gespenstische Stille.

      Zwentepolchs Gesicht war von seiner langen Haarpracht teilweise bedeckt. Lange verdreckte Strähnen fielen ihm vornüber. Seine Augen blickten leer. Sie hatten kein genaues Ziel anvisiert. Ob er die Worte überhaupt vernommen und ihren Sinn verstanden hatte, konnte keiner wissend sagen. Heinrich hob die Hand, woraufhin der Henker die Kiste unter den Füßen wegstieß. Zappelnd baumelte Zwentepolch wenige Minuten lang, bis der Tod eingetreten war. Endlich war der Gerechtigkeit genüge getan, und alle Leute gingen zufrieden nach Hause. Schnell löste sich die Ansammlung auf. Zwentepolch wurde abgeschnitten und sein Leichnam außerhalb des Werders ohne großen Aufwand schnell vergraben.

      Jetzt konnte wieder Ruhe in die Stadt einkehren.

      Zwei Jahre später stand Prabislaw erwartungsvoll an der Holzbrücke, die nach Norden führte. Ihn hatte Kunde erreicht, dass die Geiseln nach zehnjähriger Haft in Dänemark heute wieder in ihrer Heimatstadt eintreffen würden. Er stand nicht alleine erwartungsvoll dort. Neben ihm warteten all die Angehörigen der Geiseln, soweit sie noch lebten und sich erinnerten. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. König Waldemar hatte sein Versprechen gehalten und die dreißig Geiseln pünktlich in Marsch gesetzt. Doch trübte ein Gerücht die Vorfreude der Wartenden. Es besagte, dass von den ursprünglich dreißig Geiseln nicht alle wieder­kehren würden. Es hieß, einige von den Geiseln hätten im Laufe der Jahre geheiratet und sich zwangsläufig dafür entschieden, in Dänemark zu bleiben. Eine genaue Zahl und die Namen wusste niemand zu benennen. Ungewissheit war deshalb allenthalben. War es gerade der eigene Sohn oder die eigene Tochter, die man nicht wiedersehen würde? Gerüchte konnten grausam sein.

      Prabislaw fragte sich desgleichen, ob seine Helene einen Dänen geehelicht haben könnte. Dann wäre das Leben für ihn sinnlos geworden und sein langes Warten umsonst gewesen. All die einsamen Nächte und Tage des Ausharrens wären dann plötzlich nutzlos geworden.

      Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wie ihm ging es allen Freunden, Geliebten, Vätern und Müttern.

      Ein Reiter kam den Berg von Norden heruntergeritten. Langsam führte er sein Pferd über die Holzbrücke. Dann blieb er stehen und wartete. Bald darauf zogen Karren ebenfalls den Berg herunter. Als sie auf der Brücke angelangt waren, ritt der Reiter, der unschwer als dänischer Soldat zu erkennen war, weiter. Die Karren folgten ihm. Ebenso die dreißig dänischen Reiter, die im Hintergrund blieben.

      Die Menschen reckten ihre Hälse und versuchten einen Blick auf die Leute auf den Karren zu werfen. Die ersten Jubelrufe ertönten, da die ersten Heimkehrer schon früh erkannt worden waren. Aber zehn Jahre sind eine lange Zeit, und die Menschen verändern sich. Aus Kindern werden Erwachsene, sodass das Erkennen bei den meisten schwer fiel.

      Prabislaw zählte schnell durch. Einundzwanzig. Es waren nur einundzwanzig Leute zurück. Neun waren demnach also in Dänemark geblieben.

      Oh Gott, dachte er sich. War seine Helene auch dabei, die einen Mann und ihr Glück in Dänemark gefunden hatte? Sein Herz mochte fast zerspringen.

      Da fiel sein Blick auf eine Frau, die ein Kopftuch trug. Sie hielt den Kopf gesenkt und war von den anderen meist verdeckt gewesen. Deshalb hatte Prabislaw sie nicht gleich erkannt.

      Unsicher stand sie auf und folgte den anderen ehemaligen Geiseln vom Karren herunter. Überall waren Freudenrufe zu vernehmen, Jubelrufe des Wiedererkennens. Die Menschen fielen sich in die Arme. Glück war in den meisten Gesichtern zu lesen. Aber nur in den meisten. Die Angehörigen der neun Geiseln, die in Dänemark geblieben waren, blickten traurig. Sie hatten niemanden zu begrüßen. Als Trost wurden ihnen Briefe ausgehändigt, in denen die neun ihre mannigfaltigen Beweggründe darstellten. Es konnten jedoch nicht mehr als ein schwacher Trost sein. Aber das Schicksal hatte es nun einmal so bestimmt. Bald zogen sich diejenigen mit gesenkten Köpfen in ihre Häuser zurück.

      Prabislaw