Rudolf Jedele

Kaana


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Übergang in ein neues Leben und, obwohl der eine oder andere der Toten zuerst noch etwas zögerte, verschwanden sie nach und nach und kehrten nicht mehr zurück. Zum ersten Mal seit mehreren Monden konnte Joshara entspannt schlafen und sich erholen.

      Als es hell wurde, hatte er zwar nur kurz geschlafen, doch er fühlte sich wunderbar erholt und voller Tatendrang. Er fand noch Glut in der Feuerstelle und hatte deshalb rasch einen heißen Tee als Morgentrunk. Während er den Becher in seinen Händen hielt und vorsichtig an dem heißen Trunk nippte, erinnerte er sich an seinen Traum.

      Seltsam, die Erinnerungen an die grüne Frau Kaana, sie waren so deutlich in seinem Gedächtnis gespeichert, als hätte es sich nicht um einen Traum sondern um eine tatsächliche Begegnung gehandelt. Jede Silbe, jede Geste, alles war da. Selbst an die Kleinigkeit erinnerte er sich, dass er am Ende, als sie weg ging und vor seiner Wahrnehmung verblasste, noch ihre in einem kräftigen rot leuchtenden Handflächen und Fußsohlen wahrgenommen hatte. Wie war es möglich, dass sich eine Traumgestalt derart dauerhaft in seinen Geist eingraben konnte?

      Doch die Zeit zum Sinnieren und Grübeln blieb beschränkt, denn als sich die Sonne über den Horizont schob und einen weiteren, warmen und trockenen Frühlingstag ankündigte, begann Joshara seinen letzten und endgültigen Abstieg aus den Höhen des Hiron – Gebirges vorzubereiten. Er trat das Feuer aus, dann schob er den schweren Ballen mit all den Fellen und Ausrüstungsgegenständen aus seiner Beute an den Rand des Absturzes und warf ihn hinunter. Er verfolgte gespannt den Sturz des Packens und bemerkte zufrieden, dass er ganz in der Nähe des Packens aufschlug und liegen blieb, der Josharas persönliches Eigentum enthielt. Nun richtete er sich auf, sah sich noch einmal im Rund der um ihn herum aufragenden Gipfel um, atmete tief durch und nahm auf diese Weise stummen Abschied von der Welt, in der er geboren war, in der er gelebt hatte und die ihm dennoch nicht mehr länger Heimat sein konnte.

      Er ging letztendlich ohne Gram, denn bei allem, was er zurück ließ, hielt sich Gut und Böse die Waage. Azawas Verrat war bestraft und seinen Töchtern hatte er ein Leben in Schmach und Schande ersparen können. Die Rache an Kirgis war zwar nicht vollkommen, doch der Alte hatte ein Leben vor sich, das so ganz anders verlaufen würde, als jenes, welches er einst gewohnt gewesen war.

      Auch der Clan hatte seinen gerechten Lohn dafür erhalten, dass sie alle einem der Ihren in den Rücken gefallen waren.

      Joshara blickte auf sein Leben im Hiron – Gebirge zurück wie ein Mann, der etwas gebaut hat und damit nun fertig geworden ist. Er sah, was er richtig, aber auch was er falsch gemacht hatte, doch das Gebäude war errichtet und konnte weder wieder eingerissen noch auf andere Weise verändert werden. Die Fehler blieben, bis die Zeit das Geschehen auslöschte.

      Langsam und mit äußerster Vorsicht begann Joshara die Felswand hinunter zu klettern. In der Nachtkälte war die Feuchtigkeit am Gestein zu Eis geworden, jetzt, in der Wärme der aufgehenden Sonne begannen die dünnen Eisschichten zu schmelzen und die Griffe waren häufig derart schlüpfrig und schmierig, dass sich der Abstieg alles andere als ungefährlich gestaltete. Doch Joshara war – wie alle Jäger des Hiron – Gebirges - ein sehr erfahrener und deshalb auch umsichtiger Kletterer und so kam er trotz aller Widrigkeiten zügig voran. Er überprüfte seine Griffe stets mit den Füßen und den Augen, ehe er sich einen weiteren Schritt hinunter ließ und mehrfach konnte er im letzten Augenblick dank seiner Vorsicht dem Angriff einer Felsnatter ausweichen. Als er an der Zinne vorbei kam, an der er einen seiner Verfolger getötet hatte, waren die ersten Geier bereits im Anflug, während ein paar Krähen sich schon an der Leiche des Jägers gütlich taten. Es war kein schöner Anblick, der sich ihm bot, doch irgendwie war seine Einstellung zu Tod und töten verändert worden, seit er in seinem Traum mit der grünen Frau gesprochen hatte. Die Krähen hackten an einem bloßen Körper herum, das wahre Ich des Getöteten war längst in eine andere Welt, ein anderes Leben übergegangen.

      Als er diesen Gedanken fasste, wurde ihm plötzlich klar, dass auch er selbst in diesen Tagen und Monden eine Art Tod erlebt hatte. Der Clansmann Joshara war langsam gestorben. Sehr langsam und nun war er mitten im Übergang zu einem neuen Leben. Er hoffte in naher Zukunft ein Mann des Volkes Kaana zu sein und fragte sich, ob auch diejenigen, die er getötet hatte, ihren Übergang so bewusst erlebt hatten wie er es tat.

      Bis die Sonne im Zenit stand, hatte er gut zwei Drittel des Abstiegs hinter sich gebracht und das letzte Drittel schien ihm bedeutend leichter zu durchklettern, als alles, was er bereits hinter sich gebracht hatte. Er erreichte ein Felsband, das breit genug war, dass er sich darauf setzen und sogar hinlegen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er einschlief und im Schlaf vom Felsen rollte. Also legte Joshara an dieser Stelle eine Pause ein, stillte seinen Durst mit Wasser aus seiner Gürtelflasche, dann setzte er sich bequem und sah hinaus in die Steppe Kaana.

      Jetzt, da er gut siebenhundert Schritte tiefer stand, als am Nachmittag des Vortages, erkannte er, dass die Steppe keineswegs so flach und eben war, wie er es zunächst vermutet hatte. Jetzt konnte er Hügel erkennen und Täler. Weite, vom Wind zerzauste Flächen und geschützte Senken in denen irgendwelche Tiere weideten. Von Süden her bewegte sich ein dunkles und offensichtlich sehr großes Gebilde nach Norden und wenn Joshara alles richtig interpretierte, was er sah, handelte es sich bei dem Ding um etwas, das mit Menschen zu tun hatte. Er konnte aus der Entfernung nicht erkennen, ob sich dort mehr bewegte als nur der große, schwarze Fleck, doch manchmal meinte er auch kleinere Bewegungen wahrnehmen zu können. Was er ganz sicher wahrnahm, war die Tatsache, dass diesem ersten dunklen Fleck in einem beträchtlichen Abstand zwei weitere, ebenso große oder gar noch größere Flecken folgten. Keiner dieser seltsamen Flecken bewegte sich in gerader Linie nach Norden. Es gab immer wieder Abweichungen von einem geraden Kurs und diese Abweichungen waren größer, als es etwa einer zufälligen Abweichung entsprochen hätte.

      Joshara fragte sich, was das alles zu bedeuten haben mochte, doch nur kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Abstieg und den Beginn seines zukünftigen Lebens.

      Der Nachmittag war noch nicht zur Hälfte vorbei, als Joshara seinen Fuß auf dem obersten Saum der Geröllhalde aufsetzte und erneut zur Steppe hinunter sah. Die Höhe der Geröllhalde hatte von oben geringer ausgesehen. Es waren bestimmt noch einmal mehr als tausend Schritte Höhenunterschied, die es zu überwinden galt, ehe er endgültig die Steppe erreicht hatte. An diesem Tag auch noch die letzte Etappe in Angriff zu nehmen schien ihm deshalb überzogen zu sein. Er brauchte sich nicht mehr zu beeilen, denn es gab keine Verfolger mehr auf seiner Spur und es war ohne Bedeutung, ob er sein neues Leben nun einen Tag früher oder später beginnen konnte. Viel wichtiger war, dass er gesund dort unten ankam. So begann er zunächst seine beiden Packen zusammen zu suchen und zu einem Standort zu schleifen, der ihm für die Fortsetzung des Abstiegs günstig erschien. Dann wanderte er am Fuß der Felswand entlang ein gutes Stück nach Osten, bis er eine Stelle erreichte, an welcher die Wand scharf nach Norden abbog und die Geröllhalde plötzlich zu Ende war. Die Wand ragte an dieser Stelle bis ganz hinunter senkrecht auf und am Fuß des Fels entdeckte Joshara einen blau leuchtenden See.

      Etwa tausend Schritte bis zum Wasser?

      Hinunter zu springen war ganz sicher unmöglich, er würde einen solchen Sprung kaum mit heilen Knochen überleben. Er war als Bergbewohner schon häufig aus großer Höhe in ein Wasser gesprungen und wusste nur zu genau, dass Wasser auch ganz schön hart sein konnte. Doch wenn er seine beiden Packen bis hierher schleppte und ins Wasser warf, konnte er sich jede Menge mühseliger Plackerei sparen. Die Lederplanen, in die er seine Habe gewickelt hatte, waren sehr gut eingefettet und würden das Wasser lange genug am Eindringen hindern, dass die beiden Packen an der Oberfläche schwammen anstatt unterzugehen. Er selbst konnte dann in einem halben Tag den Abstieg durch das Geröll bewältigen und die beiden Packen wieder aus dem Wasser ziehen. Auf diese Weise konnte er den Aufwand erheblich reduzieren.

      Sein Entschluss stand rasch fest. Er kehrte um und begann seine Lasten am Fuß der Felswand entlang zum nächsten Abwurfplatz zu schleifen. Bis zum Abend hatte er diese Arbeit bewältigt und nun nutzte er das letzte Tageslicht, um die äußere Lederhülle noch einmal zu untersuchen. Er hatte großes Glück, denn beide Packen hatten den Sturz aus dem Fels und den Aufschlag im Geröll so unbeschadet überstanden, wie man es sich nur wünschen könnte. Die Speerschäfte waren zwar zersplittert,