Rudolf Jedele

Kaana


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Das Feuer war längst herunter gebrannt und erloschen, seine Augen suchten außerhalb der überhängenden Felsklippe den Nachthimmel nach Sternbildern ab, in der Hoffnung in diesen vielleicht Trost und Ablenkung von den Bildern des Todes zu finden. Der Himmel war aber dicht bewölkt, kein einziger Stern war zu sehen und dann begann es wieder zu schneien.

      War es der Tanz der Schneeflocken, die in Josharas Gehirn plötzlich Entspannung einkehren ließen? War es die Gewissheit, dass er in dieser Nacht ganz sicher nicht mit einem Angriff seiner verbliebenen Verfolger rechnen brauchte?

      Was immer es war, plötzlich schlief Joshara doch ein. Er schlief tief und fest. Den Schlaf eines Handwerkers in einer festen und sicheren Behausung, nicht den seichten Schlaf des Jägers und Flüchtlings.

      Preis der Freiheit

      Als Joshara in der Morgendämmerung des nächsten Tages erwachte, fühlte er sich frisch und stark wie lange nicht mehr. Er sah unter der Felsklippe hinaus auf einen bleigrauen Himmel, an dem schwere graubraune Wolken dahin zogen, die noch weiteren Schneefall verkündeten. Er überlegte sich, ob er seinen Weg bei einem solchen Wetter überhaupt fortsetzen konnte und kam zu dem Ergebnis, dass er einen weiteren Ruhetag unter diesem Überhang einlegen würde. Einen Tag oder wenn es sein musste auch mehrere Ruhetage, denn auch seine Verfolger konnten in diesen unglaublichen Massen schweren, nassen Frühjahrsschnee nicht in den Bergen herum steigen und nach ihm suchen. Sie würden in ihrer Beweglichkeit ebenso eingeschränkt sein, wie er selbst.

      Joshara kroch aus seinen Fellen, suchte in den Büschen unter der Felsklippe dürres Reisig und brennbares Holz, dann fachte er sein Feuer wieder an und kroch in die Felle zurück. Er blieb bis weit in den Tag hinein einfach in seinen Fellen liegen, denn dort hatte er es angenehm warm und trocken und verbrauchte praktisch keine Energie. In seinem Teetopf schmolz er Schnee und hatte damit genug zu trinken. Sein Körper dankte ihm für diese Erholungsphase, in dem er mit einem immer wiederkehrenden Schlafbedürfnis reagierte. Erstaunlicherweise gelang es ihm jetzt, bei Tageslicht, weitaus besser, die Bilder der toten Söhne Kirgis aus seinem Kopf zu verbannen und so brachte er mehrere Schlafphasen hinter sich und nach jeder dieser Phasen fühlte er sich frischer und stärker. Doch dann, im Laufe des Nachmittags, begann Joshara unruhig zu werden. Er spürte, dass sich das Wetter änderte. Es hatte aufgehört zu schneien, die Wolkendecke war aufgerissen und nun konnte er unter dem Überhang hervor einen makellos hellblauen Himmel erkennen. Die Bäume an den Berghängen hingegen wirkten schwarz und bedrohlich und es blies ein leichter Wind von der Steppe herauf, der deutlich wärmer war als alles andere, das er in den letzten fünf Monden gespürt hatte.

      Der Fön war gekommen und ohne sich groß anzustrengen, konnte er zusehen, wie der warme Südwind den Schnee schmolz und in beängstigender Geschwindigkeit schwinden ließ.

      Drei Tage lang blies der Fön und es wurde von Tag zu Tag wärmer. Am dritten Tag war der gesamte Schnee bis weit hinauf unter die Gipfel weggetaut und überall begann bereits junges Gras durchsetzt mit Frühlingsblumen und blühenden Kräutern zu sprießen. Die Berge hatten sich über Nacht mit einem lindgrünen Schleier überzogen und es wurde allerhöchste Zeit, dass er seine Flucht fortsetzte.

      Er brach unmittelbar nach Sonnenaufgang auf und erreichte im Verlauf eines einzigen Tages eine Stelle, die er unschwer als das erkannte, was sie auch tatsächlich war.

      Hier war die Grenze des Hiron – Gebirges. Seine Flucht ging langsam aber sicher zu Ende. Nur noch ein einziges, aber gewaltiges Hindernis war zu überwinden:

      Eine nahezu senkrecht abfallende Wand, schroff und wild und gefährlich. Sie dehnte sich sowohl nach Osten als auch nach Westen aus und in keiner Richtung konnte er ein Ende oder einen etwas einfacheren Abstieg erkennen.

      Er blickte über die Kante der Felswand hinunter und sah vielleicht tausend Schritte unter sich eine Geröllhalde, die vermutlich noch einmal um die tausend Schritte hinunter führte und erst dort unten, am Fuß dieser Geröllhalde begann die Welt, die er sich als Ziel auserkoren hatte.

      Unter ihm und vor ihm lag Kaana.

      Joshara hielt unwillkürlich die Luft bei dem Anblick an, der sich ihm bot. Er starrte hinaus in die grüne Unendlichkeit der Steppe. Auch dort unten war es Frühling und nach der Schneeschmelze dehnte sich ein smaragdgrüner Ozean aus wogendem Gras bis an alle Horizonte. Nirgendwo konnte er ein Ende der Steppe entdecken, nirgendwo eine Grenze erkennen. Die Weite des Graslandes von seiner Position aus zu sehen, war beängstigend. Seine Augen waren die Bergwelt gewohnt, wo es kaum einmal größere Entfernungen gab in die man blicken konnte, ohne dass das Auge sich an irgendetwas festmachen konnte. Die Berge begrenzten alles und ließen es scheinbar überschaubar werden. Die Steppe Kaana hingegen schien ihm Unendlich zu sein.

      Unendlich und wie es schien, absolut eben.

      Die Luft war frühlingshaft klar und seine Blicke wurden deshalb durch nichts gestört. Kein Dunst, keine Wolke, kein auch noch so kleiner Nebelfetzen, nichts das ihn daran hinderte, in diese Unendlichkeit hinaus zu schauen und … Furcht in sich aufsteigen fühlen.

      Es war nicht die konkrete Furcht vor einer unmittelbaren Gefahr, die er heran kriechen fühlte, es war eher ein vages Gefühl, eine aus der Tiefe seines Ichs kommende Beklemmung. Ein Gefühl, das langsam im stärker wurde und dazu führte, dass er sich fragte, ob seine Entscheidung zur Flucht aus den Bergen und weg von seinem Clan vielleicht doch nicht richtig gewesen war.

      Wäre es nicht doch vernünftiger gewesen, sich den Forderungen und der Tyrannei des alten Kirgis zu beugen?

      Was, wenn er darauf verzichtet hätte, sich wegen Azawa mit Kirgis Sohn zu duellieren? Wenn er Azawa einfach freigegeben und sich einen andere Gefährtin gesucht hätte? Auswahl hatte es im Clan und auch bei den Nachbarclans für einen Mann seiner Qualität schon gegeben.

      Und weshalb war es so wichtig, die Geheimnisse des Eisens für sich selbst zu bewahren?

      Vielleicht hätte Kirgis ja gar nicht so sehr nach persönlicher Macht gestrebt, sondern das Wissen auch mit den anderen Clans des Hiron – Gebirges geteilt.

      An dieser Stelle unterbrach Joshara sich selbst und den verwirrenden Strom seiner Gedanken.

      Er erinnerte sich an die Tatsachen.

      Er rief sich das Bild des alten Mannes ins Gedächtnis zurück und seine despotische und oft grausame Art, mit Menschen umzugehen.

      Er erinnerte sich an die Nächte mit Azawa und an ihre Liebesschwüre und dann daran, wie sie sich willig und ohne das kleinste Zögern in das Bett des Alten begeben hatte und ihm sogar Josharas sorgsam gehütetes Geheimnis schon in der ersten Nacht verraten hatte.

      Er erinnerte sich, wie der alten Mann mit Hilfe seiner Söhne oft ein Regiment des Terrors und der Angst geführt hatte und, dass diese Söhne in den Clans der Berge als gefürchtete Schläger gegolten hatten

      Nein, seine Entscheidungen waren nicht falsch gewesen. Dessen wurde er sich nun wieder bewusst. Er stellte sie nur vor sich selbst in Frage, weil ihm als Mann der Berge diese weite Steppe dort unten unheimlich war. Wer aus den Bergen kam, war es nicht gewohnt, dass seine Blicke derart in die Ferne schweifen konnten, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Er würde sich an diese Weite gewöhnen und er würde dort unten ein Leben beginnen, das dem seines Lebens im Clan mindestens gleichwertig sein sollte.

      Joshara richtete sich auf und ordnete seine Traglast, dann drehte er sich um und sah ein letztes Mal zurück in die Welt, die zu verlassen er nun endgültig im Begriff war. Er ließ seine Augen auf seiner eigenen Spur zurück schweifen und dieser letzte, etwas wehmütige Rückblick rettete ihm vielleicht das Leben.

      Er selbst war vor kurzer Zeit erst über einen Bergsattel gestiegen, dessen Südhang ihn hier herunter geführt hatte. Im selben Augenblick, da seine Augen über diesen Sattel wanderten, betrat ein Mann die Gratlinie, zeichnete sich für ein paar Lidschläge lang scharf gegen den hellen Himmel ab und verschwand dann vor dem graubraunen Hintergrund des Hangs. Ein weniger erfahrener Mann als Joshara hätte vielleicht