Hedwig v. Knorre

DAS Erste Große BetrugsOpferBUCH


Скачать книгу

zwei Versuchsleitern(V), von denen einer die faktische Rolle des Versuchsleiters(V) übernahm, wohingegen der andere Versuchsleiter den „Schüler(S) spielte“, gingen 65 Prozent der Teilnehmer bis zum Maximum; nicht der allgemeine Status, sondern die situationsspezifische Funktion waren demnach ausschlaggebend.

      Bei einer weiteren Variation gab sich der Versuchsleiter(V) nicht als Forscher der renommierten Universität Yale aus, sondern als Wissenschaftler des fiktiven kommerziellen „Research Institute of Bridgeport“, dessen Räume sich in einem heruntergekomme-nen Bürogebäude eines Geschäftsviertels in Bridgeport (Con-necticut) befanden. Hier sank die Zahl der Probanden(L), die die höchste Spannung einsetzten, von 65 Prozent auf 48 Prozent. Dieser Unterschied ist allerdings nicht statistisch signifikant.

      Bei einer anderen Variation verließ Milgram den Raum und ließ einen Schauspieler, der sich als Proband(V) darstellte, das Experiment leiten. Hier sank der Anteil der Probanden, die bis zur Höchststufe gingen, auf 20 Prozent.

       Das Experiment

       ist in unterschiedlichen Varianten

       in anderen Ländern wiederholt worden.

       Die Ergebnisse bestätigten generell einander,

       was eine kulturübergreifende Gültigkeit

       der Ergebnisse zeigt.

       Reaktion der Versuchspersonen

      Alle Versuchspersonen(L) zeigten einen aufgewühlten Gemüts-zustand, hatten Gewissenskonflikte und waren aufgeregt. Besonders ein nervöses Lachen fiel Milgram(V) auf, das 35 % der Versuchspersonen(L) von sich gaben. Ein Beobachter beschrieb die emotionale Lage eines Lehrers(L) folgendermaßen:

      „Ich beobachtete einen reifen und anfänglich selbstsicher auftretenden Geschäftsmann, der das Labor lächelnd und voller Selbstvertrauen betrat. Innerhalb von 20 Minuten war aus ihm ein zuckendes, stotterndes Wrack geworden, das sich rasch einem Nervenzusammenbruch näherte. Er zupfte dauernd an seinem Ohrläppchen herum und rang die Hände. An einem Punkt schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und murmel-te: ‚Oh Gott lass uns aufhören‘. Und doch reagierte er weiterhin auf jedes Wort des Versuchsleiters(V) und gehorchte bis zum Schluss.“ (aus: Steven Schwartz: Wie Pawlow auf den Hund kam. München 1993)

      Es zeigte sich, dass Personen, die die persönliche Verantwortung für ihr Verhalten hoch veranschlagten, das Experiment eher abbrachen und dem Versuchsleiter widersprachen.

      Um den ethischen Aspekten gerecht zu werden, erhielten die Probanden(L) nach Abschluss der Versuchsreihe detaillierte Informationen über das Experiment und dessen Ergebnisse. Um eventuelle Langzeitschäden zu erkennen, wurden in einer Stich-probe die Versuchspersonen(L) ein Jahr nach dem Experiment erneut besucht und befragt. Das Experiment zeigte keine schäd-lichen Auswirkungen auf die Psyche der Versuchspersonen(L). 83 % der Teilnehmer gaben an, im Nachhinein froh zu sein, an dem Experiment teilgenommen zu haben. Nur ein Proband von Hundert bedauerte seine Teilnahme. Die meisten Teilnehmer gaben an, etwas über sich gelernt zu haben und Autoritäts-personen daher in Zukunft misstrauischer gegenüberstehen zu wollen.

       Folgen und Folgerungen

      Heutzutage würde ein vergleichbares Experiment von der Mehr-zahl der Psychologen als unethisch zurückgewiesen werden, da es die Versuchspersonen(L) einem starken inneren Druck aus-setzt und man sie über den wahren Zweck des Experiments täuscht. An vielen Universitäten stellte man als Reaktion auf diesen Versuch ethische Richtlinien über die Zulassung von psychologischen Experimenten auf. Ob das gewonnene Wissen bei Militär und Geheimdiensten Anwendung fand ist nicht bekannt.

      Milgram kommentierte die Ergebnisse seines Experiments so:

      „Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhn-licher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Test-personen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autori-tät fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“ (Stanley Milgram: The Perils of Obedience, Harper´s Magazine, 1974)

      Bis heute gilt der Autoritätsgehorsam theoretisch als nur unzureichend geklärt. Obwohl Milgram eine Persönlichkeits-basis für Autoritätsgehorsam und Verweigerung vermutete, konnte er diese nicht belegen. Statt dessen ging er von zwei Funktionszuständen aus:

       einem Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und

       einem „Agens-Zustand“, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Wünsche anderer wird.

      Das Experiment zeigte, dass die meisten Versuchspersonen(L) durch die Situation veranlasst wurden, sich an den Anweisungen des Versuchsleiters V) und nicht an dem Schmerz der Opfer zu orientieren. Die Veranlassung war am wirksamsten, wenn der Versuchsleiter(V) anwesend war und am wirkungslosesten, wenn die Instruktionen per Tonband oder Telefon erfolgten. Auch die Nähe zum „Schüler“(S) beeinflusste die Bereitschaft zum Abbruch des Versuches. So gingen ohne Rückmeldung der „Schüler“(S) praktisch alle Versuchspersonen(L) bis zur höchsten Schockstufe, während beim direkten Kontakt nur noch 30 Prozent die Höchststufe erreichten.

       Psychologische und soziologische Erklärungsversuche

      Milgram selbst war von den Ergebnissen des Versuchs überrascht. Studenten und Kollegen, denen er von dem Versuch erzählt hatte, schätzen die Zahl derjenigen, die bis zum Maximum gehen, äußerst gering ein. Von Milgram und anderen wurden verschiedene Gründe genannt, die zu solch einer hohen Zahl an gehorsamen Probanden führten. Als mögliche Begründung für das Verhalten der Versuchspersonen(L) kann der Wunsch der Testperson(L) gesehen werden, das freiwillig begonnene Experiment auch tatsächlich abzuschließen und den Erwartungen der Wissenschaftler zu entsprechen. Die zufällige Auslosung von Lehrer(L) und Schüler(S) schafft zudem eine scheinbar faire Situation. Hinzu kommt, dass die Versuchssituation für die Probanden(L) neu war und deshalb kein erlerntes Handlungsmuster existierte. Zudem hatten sie kaum Zeit, sich auf die überraschende Situation einzustellen.

      Ein anderer Erklärungsversuch zielt auf den graduellen Charakter des Experimentes ab, der psychologisch alltäglichen Verhaltensmustern entspricht, diese aber durch die kontinuierliche Steigerung der „Bestrafungsbereitschaft“ sukzessive in Richtung außerordentlicher Verhaltensweisen verschiebe. Dies mache die Abschätzung der Folgen für die Probanden(L) schwierig. Dazu passe, dass das Verhalten der Probanden(L) durch die Veränderung situationaler Variablen, etwa der Distanz zum Schüler(S) oder der Anwesenheit des Versuchsleiters(V), beeinflusst werde, nicht durch das Vorliegen einer charakterlichen Disposition.

      Soziologisch ist das Experiment daher als Beleg für die Wirksamkeit der Norm des Gehorsams gesehen worden. Über die Sozialisation erlerne das Individuum Gehorsam und Unterordnung. Zunächst im familiären System, später in der Institution Schule. In beiden gesellschaftlichen Kontexten, die für die Prägung des Individuums entscheidend seien, werde Folgsamkeit und Unterordnung positiv sanktioniert. Die Gehorsamkeitsnorm ist an Institutionen und Individuen gebunden, die über einen hohen sozialen Status und /oder Autorität verfügen. Denn wie sich in den Variationen des Versuches andeutete, sinkt mit dem sozialen Status des Versuchsleiters(V) die Bereitschaft zur Gehorsamsleistung. Insbesondere wenn die Autorität in einen bürokratischen Prozess eingebunden ist, der die Delegation der Verantwortung auf eine Institution ermöglicht, steigt die Chance auf Gehorsam selbst