Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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mischt sich in meine Rückschau eine Regung, stärker als ein Wunsch. Ich werde Frau Sandner wiedersehen, schneller als gedacht. Diese Art Empfindung ist mir vertraut. Ich spüre sie anders als ein beliebiges Wunschdenken. Sie gleicht mehr einer Vorhersage, klingt wie eine Ankündigung.

      Tatsächlich geschieht es.

      Dank dem unverhofften Zutun eines Kollegen.

      Ein silbern und blauer Polizei-Vectra mit zwei Uniformierten darin, der langsam in den Innenhof rollt, holt mich zurück aus meinen Denkwolken. Der Beamte auf dem Beifahrersitz nickt mir zu – ich winke zurück und muss lachen: In meiner Phantasie springen die beiden plötzlich aus ihrem Dienstwagen und umstellen mich mit gezogenen Pistolen: Ganz klar bin ich schuldig: Verdächtig langes Stillsitzen in einem auffallenden Fahrzeug am falschen Ort. Kommt mir irgendwie bekannt vor.

       11

      Mittwoch, 27. Juli

      Es kann verführerisch sein, wenn es dir wirtschaftlich gut geht. Wenn du nicht tagein, tagaus für deinen Lebensunterhalt arbeiten oder stets erneut Klienten zum Coachen anwerben musst. Es verführt zur Bequemlichkeit. Die zieht, wie an einem unsichtbaren Schlepptau, Genügsamkeit und Denkfaulheit hinter sich her. Vom allmählichen Verkümmern der Muskeln ganz zu schweigen.

      Zum Glück – und Dank meiner Oma – erfüllte mich die Vorstellung, körperlich und geistig einzurosten, mit Abscheu, soweit ich mich zurückerinnern kann. Mehr als einmal hat Oma Anna ermahnt:

      „Betet nicht um leichtere Lasten sondern um stärkere Schultern.“

      Früher in der Firma, wenn sich die Kollegen zum Arbeitsbeginn oder nach dem Mittagessen schwätzend in die Fahrstühle zwängten, bin ich unentwegt das kahle Treppenhaus hinauf zu meinem Arbeitszimmer im fünften Stockwerk gestiegen, stets zwei Stufen auf einmal.

      Joggen war mir immer unangenehm; dafür fahre ich gern Fahrrad, wenn auch ohne Ehrgeiz. Ähnlich halte ich es mit der Hantelbank, über deren Anschaffung ich mich ein bis zwei Mal pro Woche freue. Wenn die Muskeln in Schultern und Armen sanft zu kribbeln beginnen. Nach ein paar Tagen melden sie sich zuverlässig erneut; als ob sie danach rufen, wieder belastet zu werden.

      Ohne Kopfarbeit geht bei mir gar nichts. Ich lese gern und viel, schreibe gelegentlich Texte für Fachzeitschriften und bereite mich gründlich auf die Coaching-Sitzungen vor. Im Internet zu werben halte ich für verzichtbar. Mich erheitert die Vorstellung, ein Student in Wesel hinter Hamburg oder eine Hausfrau auf einer Westantillen-Insel könnten beim Surfen im weltweiten Netz zufällig auf meine Homepage stoßen, aufspringen und beschließen: ,Toll, zu diesem Coach muss ich unbedingt sofort hingehen’; wobei ich nicht weiß, in welcher Sprache die Hausfrau auf den Westantillen das sagen würde.

      Hin und wieder lege ich Werbezettel bei einer Massagepraxis und im Warteraum eines Physiotherapeuten hier im Ort aus. Die meisten neuen Kunden finden zu mir, weil frühere Klienten mich weiterempfohlen haben. Gleichwohl sitzt bei vielen Menschen das Geld für die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst längst nicht mehr so locker wie noch vor einigen Jahren.

      Wie immer, wenn du dich gerade im Arbeitszimmer niedergelassen hast, klingelt das Telefon in der Diele. Mein Schreibtisch steht direkt am Fenster, was mir einen wohltuenden Ausblick auf die Bäume in unserer kleinen Parkanlage gestattet. Ich leiste mir den Luxus von mehreren Computern, leistungsfähige Kästen nur für Textverarbeitung und für Bildgestaltung; für E-Mails und Internet-Suche benutze ich einen Laptop. Weil ich mich ungern während einer Coaching-Sitzung stören lasse, steht das Telefon auf einem schmalen Wandregal in der Diele.

      „Na, Herr Berkamp, wie geht es Ihnen.“

      „Danke sehr, Herr Dr. Hemmerle, „ich kann nicht genug klagen. Und am liebsten geht es mir gut.“

      Berthold Hemmerle ist Rechtsanwalt in einer großen Frankfurter Kanzlei und einer meiner Klienten, die mich in unregelmäßigen Abständen aufsuchen oder mit dem einer oder anderen Denkarbeit beauftragen. Er neigt zum Sprechen ohne Punkt und Komma; ansonsten gestaltet sich der Umgang mit ihm sehr angenehm.

      „Was gibt ’s, Herr Hemmerle?“

      „Ich muss mal wieder einen Vortrag halten, diesmal vor jungen Kolleginnen und Kollegen unseres neu eröffneten Berliner Büros. Ich habe die wesentlichen Stichworte schon mal zusammengeschrieben, Kernsätze und einige Gedanken, die mir wichtig sind. Arbeitsbereich Betriebszusammenschlüsse, nicht zuletzt mit Blick auf die europäische Ebene, europäisches Mitbestimmungsrecht Pipapo, das hatten wir ja letztens bereits als Thema, Sie erinnern sich. Aber ich muss mich dringend um einen Kunden kümmern, der abspringen will, und irgendwie klemmt es bei mir im Kopf gerade. Mir fehlt eine zündende Idee, die das zusammenbindet, eine Art ...“

      „So etwas wie ein Leitmotiv ...?“ werfe ich ein.

      „Ja, genau, ja, Leitmotiv ist gut. Also, Sie wissen schon. Und dazu die persönliche Ansprache; ich hänge zu oft in meinem Anwaltsdeutsch fest, sofern man das als Deutsch bezeichnen kann.“

      „Bis wann brauchen Sie meine Ausarbeitung?“

      „Warten Sie, der Vortrag ist ... in ... Freitag in drei Wochen. Das müsste Ihnen doch entgegenkommen, Herr Berkamp. Aber bitte rechtzeitig genug, dass wir den Entwurf vorher besprechen können.“

      „Einverstanden, Herr Hemmerle, geht in Ordnung.“

      „Halt, halt, Herr Berkamp, das ist wichtig. Lassen Sie uns das per Fax machen, nicht mit E-Mail. Wir haben einen unschönen Verdacht, egal, jedenfalls, man weiß nicht genau, ob nicht noch jemand heimlich mitliest. Ich schicke Ihnen meinen Rohtext per Fax und Sie retour ebenfalls per Fax an mich ... ne, noch besser, schicken Sie das Fax zu mir nach Hause, Moment, wo ist die Nummer ... ja, hier.“

      „Habe ich, Herr Hemmerle, auf Ihrer Visitenkarte.“

      „Ja ja ja. Und was das Honorar betrifft, wie immer? 130 Euro plus Mehrwertsteuer?“

      „Einverstanden, danke sehr. Ich erwarte Ihr Fax. Machen Sie es gut.“

      Nach solch einen angenehmen Auftrag habe ich einen Tee verdient.

      *

      Noch ehe ich den Heißwassertopf in der Küche in Gang setzen kann, klingelt es an meiner Tür. Diese Klingel schnarrt etwas leiser und heller als wenn jemand den Klingelknopf unten am Hauseingang drückt.

      Vielleicht steht ein Mitbewohner vor der Tür. Der Blick durch das Guckloch in der Tür fällt auf den Rücken einer hellblauen Jeansjacke, in der ein schlankes männliches Wesen mit schwarzen Haaren steckt. Ich warte; die Klingel ertönt nochmals.

      „Sie wünschen?,“ frage ich durch den engen Türspalt, den der eingehakte Sicherheitsbügel freigibt. Vor mir steht ein schlaksiger Mann um die dreißig in selbiger Jacke, beigebraunem Karohemd und schwarzen Jeans. Er ist mindesten einsfünfundachtzig groß, hat ein schmales, längliches Gesicht, tiefschwarze Augen, die dicht neben einer großen Adlernase liegen. Sein dunkler Dreitagebart passt zu seinen schwarzen, leicht gelockten kurzen Haaren. Erstes Prüfergebnis: Finsterer Geselle. Je länger ich ihn mustere, desto unruhiger erscheint er mir. Der Daumen seiner langen linken Hand reibt fast ununterbrochen den Zeigefinger und er bewegt die Lippen, noch ehe er spricht. Sogleich empfinde ich einen unangenehmen, kribbelnden Druck auf der Stirn etwas über der Mitte meiner Augenbrauen.

      „Ja, äh, guten Tag. Sie sind Herr Berkamp?! Herr ... Robert Berkamp?“

      Das klingt irgendwie amtlich. Seine rechte Hand geht hoch, drei Finger streifen kurz das Kinn; schließlich hakt sich der Daumen vorn am Hosengürtel ein. Ich mag solche offenen Bücher. Ohne zu wissen, wer er ist und was er will, habe ich bereits entschieden, Abstand zu wahren.

      „Ich bin Kriminalobermeister Marzik. Also, ... es geht noch mal um Ihren Auto-Überfall.“

      Kriminalobermeister? Eine