Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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kennt Marzik meine Adresse? Die muss er doch von jemandem bekommen haben. Ich nehme mal an, die hängt nicht bei Ihnen am Schwarzen Brett rum?“

      „So etwas haben wir nicht. Ist alles im Computer.“

      Der beansprucht immer noch ihre Aufmerksamkeit.

      Oder weicht sie mir aus?

      „Ich habe sie ihm jedenfalls nicht gegeben und ihn auch nicht zu Ihnen geschickt,“ erklärt sie nebenbei. Mir bleibt nur, nachzuhaken.

      „Er kann einfach so, ohne Vorwarnung, bei mir auftauchen? Ist das normal? Und was ich ebenfalls befremdlich fand: Ich hatte den Eindruck, er wollte unbedingt in meine Wohnung.“

      „Ach, Sie haben ihn gar nicht reingelassen?!“

      „Wie komme ich dazu?!“

      Sie richtet sich auf, schaut zum Fenster und klingt beinahe erfreut.

      „Sehr schön, das hat man auch nicht oft.“

      „Sein Auftritt war gelinde gesagt beunruhigend. Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen.“

      Sie wendet sich vom Computer ab und sieht mich erstmals in dem Gespräch ruhig, fast nachdenklich an, beide Hände vor sich auf den Schreibtisch gelegt.

      „Damit das klar ist, Herr Berkamp: Unsere Ermittlungen geben das nicht her. Sie haben sich völlig korrekt verhalten. Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich kümmere mich drum.“

      „Danke sehr, Frau Haupt ... Frau Sandner.“

      „Nicht der Rede wert, Herr Berkamp“.

      Irgendetwas scheint sie zu beschäftigen.

      „Gefällt mir, dass Sie ihn nicht reingelassen haben.“

      Sie schüttelt kurz den Kopf, schaut flüchtig auf ihre längliche Armbanduhr und ergreift im Aufstehen die Tasche.

      „Tut mir leid. Ich muss. Kommen Sie, ich begleite Sie nach unten.“

       13

      Vor Jahren, nach der Scheidung von Gisela, hatte ich mehr als genug Zeit, über mich nachzudenken. In der Folge fand ich wieder den Mut, meine Neigung zu „höheren“ sinnlichen Wahrnehmungen ernst zu nehmen, sie sogar als wertvoll und hilfreich zu beachten.

      Dazu gehört eine Eigenheit, die Funktechniker als Übersprungsignal bezeichnen. Wenn man überraschend auf einer Leitung mithört, was auf der nebenan gesprochen wird. Wie es in meinem Kopf geschieht, juckt mich nicht; mit dem Ergebnis lebe ich bestens. Ich fühle Töne und menschliche Stimmen mit den Energiezentren meines Körpers – auch „Chakras“ genannt – als eine Art Kribbeln oder sanft kitzelnder Druck. Die meisten Menschen empfinden Sehen und Hören sauber getrennt in Auge und Ohr. Bei mir geraten die Wahrnehmungen durcheinander.

      Sobald ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, erscheinen Klänge in unterschiedlichen Farben; ein seltsames Mittelding zwischen Sehen und Fühlen. Angenehme Töne gleichen kreisenden farbigen Strudeln, die sich in das entsprechende Energiezentrum hineinzudrehen scheinen; unangenehme Töne prallen ab, werden zurückgestoßen und hinterlassen eine unbehagliche Empfindung in der Körpergegend.

      Wenn ich Nancy Sinatra singen hören, bin ich selig. Ihre Stimme fühle ich beglückend dunkelblau tief im Stirnzentrum. Stings „Fields of Gold“ öffnet einen silbern und violett funkelnden Lichtspringbrunnen über der Mitte meines Kopfes; dann wachsen meiner Seele Flügel und mir werden die Augen feucht. Im gewöhnlichen Alltag schenke ich diesen Eindrücken kaum Beachtung. Erstrecht nicht, wenn ich, wie seit heute Vormittag, aufgeregt bin und meine Gedanken voll mit anderen Dingen beschäftigt sind.

      Gelegentlich lenkt mich ab, was ich dabei wahrnehme. Wenn ungewollt innere Bilder dazukommen, die im ersten Eindruck nicht zu dem passen, was ich empfinde. Ich überbewerte diese Sinnesanstöße nicht, beachte sie aber. Meist helfen sie mir, das Wesen von Mitmenschen besser einzuschätzen. Früher bei Kollegen und Bekannten hat mir das gelegentlich Kopfschütteln eingebracht. Wenn mich – dank der heimlichen Sinneshinweise – geübte Schönredner, etwa Vorgesetzte in der Firma, bejubelte Fernsehgrößen oder Politiker unbeeindruckt ließen oder ich sie als unaufrichtige Rosstäuscher bezeichnet habe. Wenn ich die Frau Bundeskanzler reden höre ...; lassen wir das. Inzwischen ziehe ich es vor, meine Vorurteile dieser Art für mich zu behalten; obwohl ich sie im Laufe der Zeit häufiger bestätigt als widerlegt finde.

      Jetzt ist es wieder die einnehmende Handbewegung, mit der Frau Sandner ihre Haare seitlich über das linke Ohr wischt. Die den kleinen Kristallknopf an ihrem Ohrläppchen zum Glitzern bringt, und mich dazu, bewusst auf ihre Stimme zu achten.

      Nach einigen Schritten auf dem Gang hält sie kurz inne:

      „Übrigens. Das dürfte Sie interessieren und das kann ich Ihnen wohl verraten. Wenn Sie versprechen, es nicht an die große Glocke zu hängen. Ich habe heute Morgen mit einer Kollegin in Bad Vilbel telefoniert. Wegen dem Datum im Mai. Die hatten dort tatsächlich ein bemerkenswertes Vorkommnis.“

      In einem Autohaus Schwarzberger. Frau Sandner erinnert an Schusters kleine Überraschung, den Werkstattzettel der Firma in meinem BMW. In der Nacht zum 24. Mai wurde in den Betrieb eingebrochen. Die Kollegen vor Ort ermitteln weiter; denn etwas war seltsam. Sie gehen davon aus, dass jemand aus der Firma mitgeholfen haben muss. Es gab keine typischen Einbruchspuren.

      „Noch mal, ich sage Ihnen das unter uns, verstanden?“

      Wir gehen weiter.

      Kein Zweifel: Ihre Stimme löst offenes Druckkribbeln in meiner unteren Brustgegend aus. Annehmbar grün, wenn auch etwas matt; darunter ein orangerotes Gefühl wie ein leichter Luftdruck. Ich schaue an ihrem Gesicht vorbei, erwartungsvoll, sie weiter sprechen zu hören. Spüre einen handtellergroßen kreisenden grüner Wirbel. Mit diesem zum Herz weisenden Energiezentrum verbinden sich Ausgewogenheit, Wahrheit und Verantwortung. Etwas tiefer ... die hellrote Empfindung, kein kreisender Wirbel, eher ein behutsam prickelnder Druck. Hey! Ich schätze, die Dame hat mehr für mich übrig als äußerlich erkennbar.

      „Hallo, Herr Berkamp! Wie gesagt, vertraulich.“

      „Entschuldigung, ich war in Gedanken. Na klar, einverstanden. Also, der Werksatteinbruch. Und was war damit? War der Schaden groß?“

      Frau Sandner schüttelt den Kopf: „Das ist auch interessant. Schaden – schwer zu sagen. Das kommt drauf an.“

      „Worauf?“

      Wie mit einem tonlosen Aufhusten ergänzt sie:

      „Hm tja. Die Einbrecher haben gezielt einen Elektronischen Diagnose-Computer weggeschafft. Scheinbar kam es ihnen nur auf das Ding an.“

      Ein Kasten in der Größe einer kleinen Kommode mit Rädern; ein Herzstück jeder modernen Autowerkstatt. Man schließt ein dickes Kabel an, und schon analysiert der Computer das ganze Auto; alles, was elektronisch ist, Zündung, Antiblockiersystem, Lichter, Tacho. Einfach alles, was heutzutage in Autos mit Hilfe von zahllosen Computerchips überwacht und gesteuert wird.

      „Dazu muss man aber an den Stecker kommen, also in das Auto, in den Motorraum vermutlich?!“

      „Richtig.“

      Sie bewegt ihre Personalkarte am Rahmen der Sicherheitstür entlang.

      „Da wird die Sache für uns spannend. Die Kollegin aus Bad Vilbel erwähnte ein zweites Gerät, einen Scanner. Der ist tragbar, gleicht einem großen Taschenrechner.“

      Solche Scanner sind im freien Handel zwar verboten. Aber im Internet fragt kein Teufel danach. Jedenfalls kann man die Scanner mit dem Diagnose-Computer programmieren; wie, weiß Frau Sandner ebenso wenig wie ich. Klar ist nur, man geht mit dem Ding spazieren, sucht sich den BMW X-5 oder X-3, der einem gefällt, und hält es an den Türgriff. Der Scanner erkennt das elektronische Signal, das den Wagen aufschließt und das Zündschloss betätigt.

      „Einsteigen