Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


Скачать книгу

gewerbliche Prostitution, Vergewaltigung Minderjähriger, Kinderporno, Drogenhandel; jede Menge Haftgründe. Und jetzt spielen wir ,wer packt als Erste aus’.

      Obwohl die Fakten klar sind, gestalten sich die Vernehmungen unglaublich mühsam. Alle warten mit gerissenen Sprüchen auf, wie antrainiert. Als wären die Beamten Deppen. Die Frau, die Mutter dieser Sonja, eiskalt, zeigt nicht die Spur von Schuldbewusstsein. Von Mitgefühl für die Prostituierten oder die jungen Mädchen ganz zu schweigen. „Im Gegenteil, inzwischen wissen wir, sie schlägt genau so brutal zu wie sonst die Macker. Vollkommen skrupellos, nur schnelles Geld machen, protzig auftreten wie ein Model, dafür aber andere zu Sklavenarbeit erpressen und abrichten. Einfach ... un...er...träglich.“

      Frau Sandner schlürft wieder hörbar einen Schluck Tee, setzt das Glas ab und sieht mich kopfschüttelnd an.

      „Es klingt vielleicht verrückt, doch meine ganz normalen Bankräuber sind mir hundert mal lieber als das. Da weiß man ungefähr, wie die ticken. Aber die Frau heute kommt näher an mich ran, übel. Ihr Anwalt sitzt blöd grinsend mit hängender Zunge dabei – wahrscheinlich bläst sie ihm regelmäßig einen – und labert von einvernehmlichem Sex zwischen Erwachsenen, Internet-Freiheit und davon, dass die Eltern hinter Gitter gehören, weil sie sich nicht um ihre frühreifen, gelangweilten Kinder kümmern. Dazu fällt mir kaum noch etwas ein.“

      Sie nickt kurz zu sich selbst.

      „Einmal wäre ich beinahe ausgerastet – ich war nahe dran, der Frau eine reinzuschlagen. Guckt mich rotzfrech an und fragt, ob ich eine Tochter habe, und ob ich mir nicht etwas Besseres vorstellen könnte als das beschissene Polizistenleben.“

      Ich versuche mir die Szene vorzustellen.

      „Die hatte es wohl darauf angelegt, Sie zum Ausrasten bringen?“

      „Klar, Mann, zuzutrauen wäre es ihr. Ich hätte ihr damit einen Riesengefallen getan. Die hätte garantiert einen Skandal daraus gemacht; und unser Fall wäre den Bach runtergegangen.“

      „Obendrein hätten Sie sich auf eine Stufe gestellt mit der Frau.“

      „Das ist ja das Hinterhältige. Das Miststück hätte alles gewonnen und ich alles verloren. Am Ende sogar meine Selbstachtung.“

      Frau Sandner trinkt den Rest ihres Tees und steckt das verbliebene Stück Nussecke in den Mund. Während sie langsam kaut und mich fragend ansieht, bekenne ich:

      „Wenn ich mir vorstelle , ... als unsere Tochter Claudia klein war ... ; klar habe ich solche Ängste gehabt und zugleich immer gehofft, darauf vertraut, dass ihr etwas Ähnliches nicht passiert. Oder später, als sie zu Partys eingeladen wurde. Auch damals sind Mädchen vergewaltigt worden, nehme ich an.“

      „Das stimmt, leider. Aber sich gezielt über Facebook besonders anfällige Mädchen, Kinder, auszusuchen, die neugierig oder zuwendungsbedürftig sind? Und dann mit solchen Bildern im Netz Geld scheffeln, das ist schon widerwärtig, infam. Verstehen Sie, ich musste da raus heute Mittag. Nur ... seit ich hier durch die Läden latsche und die vielen netten Mädchen sehe – es wird nicht besser. Diese dummen Hühner sind scheinbar ununterbrochen am Hin- und Hersenden von Textbotschaften. Völlig unbekümmert, wer da alles mitlesen kann. Ich schaue denen zu und frage mich, wie halte ich das aus?“

      Sie zögert, als will sie sich einen inneren Ruck geben.

      „Wie würden Sie denn mit solchen Tätern umgehen an meiner Stelle?“

      „Huh, dafür weiß ich zu wenig über Ihre Arbeit, Frau Sandner.“

      Ich brauche einen Augenblick, um die richtigen Worte zu finden – für eine ehrliche Antwort.

      „Sie erwarten jetzt nicht, Lob und Dank von mir zu hören für ihren heldenhaften Dienst, den Sie der Gesellschaft tun. Diese Art Sprüche fände ich billig und unaufrichtig. Ich ahne nur, dass Ihre Arbeit verdammt mühsam ist. Und ich spüre, wie sehr sie Ihnen an die Nerven geht. Dafür haben Sie meine Hochachtung.“

      „Das war nicht meine Frage,“ unterbrach sie mich, „so einfach lasse ich Sie nicht davonkommen. Stellen Sie sich vor, Sie hätte die Frau vor sich.“

      „Ich weiß es nicht, Frau Sandner. Weil ich mein Leben lebe und Sie Ihres. Wenn ich diese Zuhälterin leibhaftig vor mir hätte, kann sein, dass mich die kalte Wut packt. Jetzt aber ... Ich kann Ihnen nur sagen, was ich mache, wenn ich von derartigen Verbrechen höre oder von Irrsinnstaten wie der Amoklauf dieses Schülers in Winnenden.“

      „Ah ja, und was wäre das?“

      „Ich hüte mich vor einfachen Antworten.“

      Durch einige meiner amerikanischen Coaching-Trainer, die jahrelang solchen Fragen nachgegangen sind, hat sich mein Menschenbild verändert. Inzwischen glaube ich, der stärkste innere Antrieb ist nicht – wie viele meinen – der Überlebensinstinkt sondern das Streben danach, zu finden, zu erleben, was Menschen kennen, was ihnen von klein auf vertraut ist. Meine eigenen Erfahrungen, Regeln und Werte helfen dabei wenig. Für andere zählt nur ihr ganz persönliches Erleben. Und das kann Regeln gehorchen, die mir fremd sind.

      Frau Sandner tippt sich mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers an die Lippen und mustert mich.

      „Interessante Gedanken, aber bestimmt nicht die Mehrheitsmeinung. Was folgt daraus für die Russin?“

      „Bereits vorhin, als Sie die Dame beschrieben haben, habe ich mich gefragt: Was mag sie als Mädchen und junge Frau in ihrem russischen Dorf erlebt haben?“

      Was kennt sie als normales männliches Verhalten? Was gilt ihr als der vertraute Umgang mit Obrigkeit, Recht und Gesetzt? Welche Überlebensregeln hat sie in wahrscheinlich bitterer Armut begriffen? Wie kam die Frau zu der primitive Entschlossenheit, daraus um beinahe jeden Preis zu entfliehen?

      „Wenn ich mir solche Gedanken mache ... das ändert nichts an der Abscheulichkeit ihrer Taten hier und es entschuldigt keineswegs die Frau. Aber es hilft, das eigene Entsetzen zu mildern. Und die eigene Hilflosigkeit ertragen.“

      Ich zucke entschuldigend mit den Schultern.

      „Können Sie damit etwas anfangen? Mehr fällt mir dazu nicht ein ... ich erwarte keine Antwort auf meinen Gedankenschwall.“

      Frau Sandner hat mit hellwachen Augen zugehört.

      „Und Sie nehmen tatsächlich kein Honorar von mir?“

       15

      Als ich ihre Anspielung verstehe, muss ich grinsen.

      „Nein, natürlich nicht. Übrigens, als meine Kundin können Sie jederzeit aufstehen und das Gespräch beenden; ohne Angabe von Gründen.“

      Kleiner sprachlicher Fallstrick, der Menschen dazu bring, sitzen zu bleiben.

      „Wieso, müssen Sie weg, Herr Berkamp?“

      „Nein, Sie etwa?“

      „Ne, ebenfalls keine Eile. Die Zeit nehme ich mir. Allemal besser ... mit etwas Abstand und einem anderen Blickwinkel ...“

      „Na schön, dann lassen Sie mich noch einen Gedanken anfügen, der Ihnen wenig gefallen mag.“

      Neugierig geworden, richtet Frau Sandner sich etwas auf.

      „Versuchen Sie es. Mich schreckt so leicht nichts.“

      „Um so besser. Diese Russin, egal wie widerlich und brutal im Einzelnen, bietet eine Form von Dienstleistungen an, richtig?“

      Das geht aber nur, weil es einen fetten Markt dafür gibt, zahlungskräftige Nachfrage. Das macht mich mindestens ebenso wütend, aber vor allem ratlos. Zahllose Männer, inzwischen wohl auch Frauen, geben Geld aus – und nicht zu knapp – für diese Form des Selbstbetrugs mit sexueller Lust.

      Ihr Gesicht reglos, die Augen groß, der Mund halboffen verraten, die Frau Kommissarin hört mehr als aufmerksam