Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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Berufe der Menschheit; das wird seinen Grund haben. Trotzdem, wenn der Unterleib einen derart reinlegt ... Oh ne, lassen Sie uns das Thema beenden, Frau Sandner. Sonst landen wir bei Aussagen, die sehr privat und obendrein missverständlich werden. Reden wir lieber über Unverfängliches, um Sie noch eine Weile am Rückfall in Ihre Arbeit zu hindern.“

      *

      Das läuft besser als gedacht. Wir haben gemeinsame Anknüpfungspunkte. Nach dem Gespräch sagt sie bestimmt „Ja“, wenn ich sie demnächst zum Kaffee, besser Tee, einlade. In hübscherer Umgebung. Hallo! hält eine Stimme in meinem Hinterkopf dagegen. Das läuft auf eine richtige Verabredung hinaus. Na und, wäre doch nett, oder? Bis sie mitbekommt, welch sonderbare Dinge sich in deinem Kopf abspielen. Stellst du dich dann dumm? Oder machst du wage Andeutungen, um herauszufinden, ob du mehr sagen kannst?

      Ich kann mich beherrschen.

      Vergiss es, bei deinem Hand zur Ehrlichkeit?! Worauf sie davonrennt und kein Wort mehr mit dir wechselt. Wäre nicht das erste Mal, dass dich eine Frau für bescheuert erklärt oder sich zu ängstigen beginnt. Mich völlig verstellen finde ich unaufrichtig.

       Antrag wegen Unbelehrbarkeit abgelehnt.

      Der Klang und die Warnung dieser inneren Stimme ist mir längst vertraut. Sie ertönt ungebeten bei passender Gelegenheit. Auch wenn sie kaum zwei Sekunden dauert, diese Zwiesprache fühlt sich mehr wie eine Urteilsverkündung an. Die mich ratlos zurücklässt. Aber nicht hoffnungslos. Könnte doch sein? Sie wird meine Coaching-Kundin?

       Ohne Honorar und ohne das Coachen?

      „Zum Glück gibt es mehr auf der Welt als russische Kinderschänderinnen,“ erklärt Frau Sandner und lehnt sich in dem nicht sonderlich bequemen Sessel zurück. „Was ich Sie schon neulich fragen wollte – wieso lebt Ihre Tochter – Claudia? – in den USA, sagten Sie nicht in Santa Fe? Wie ist sie denn dahin gekommen?“

      Dass Frau Sandner weiter mit mir hier in diesem offenen, nicht gerade gemütlichen Bereich des Ladenzentrums sitzen und reden will, finde ich immer noch etwas überraschend, zugleich erfreulich.

      „Brandon, ihr Ehemann, kommt von dort. Claudia hat in Heidelberg Medizin studiert, Kinderärztin, und ein praktisches Jahr gemacht. Wie es der Zufall wollte in dem amerikanischen Militärhospital. Da traf sie diesen sympathischen und gutaussehenden Unfallchirurgen Dr. Cordova. So einfach kann das Leben spielen.“

      „Wie im Fernsehen.“

      Frau Sandner nickt mehr zu sich selbst.

      „Cordova klingt wie ein spanischer Name; nicht gerade amerikanisch.“

      „Stimmt. Aber typisch für die Gegend.“

      Was heute New Mexico heißt, war mexikanisch-spanisches Siedlungsgebiet. Weit über Santa Fe hinaus. Lange bevor es die USA gab. Deshalb sind spanische Namen dort geläufig. Und indianische Namen, vom Volk der Navajo. Am Anfang wurden die von den Spaniern drangsaliert. Bis beide Seiten begannen, miteinander Handel zu treiben. „Brandons Großmutter lebt noch, eine Navajo mit dem Namen Maria White Cloud – Maria Weiße Wolke – gertenschlank, aber hellwach im Kopf. Über fünfundachtzig Jahre alt; keiner weiß genau, wie alt sie wirklich ist.“

      Frau Sandner lächelt den heiteren Familientratschblick.

      „Enkelkinder?“

      „Zwei. Super, die beiden. Lupita Cloud wird demnächst sieben, Aguila Roberto ist fünf Jahre alt. Beide blond und blauäugig, nach der Mutter, also Claudia, aber amerikanisch wie im Bilderbuch. Aufgeweckte, pfiffige Kinder. Leider sehe ich sie meist nur zweimal im Jahr. Und wie schnell sind die groß. Lupita heißt übrigens „Kleine Wölfin“ und Aguila ist der „Adler“. Die Namen haben sie der Beharrlichkeit ihrer Navajo-Urgroßmutter zu verdanken. Brandon selbst hat wenig Sinn für indianische Tradition. Finde ich zwar schade, aber es ist deren Leben.“

      „Sie könnten dort hinziehen, bei ihnen wohnen. Wäre das nichts?“

      „Die Möglichkeit besteht. Aber richtig reizen tut es mich nicht. Obwohl ich zur Hälfte amerikanisch bin.“

      So sehr ich Santa Fe mag und natürlich meine Familie – es gibt eine Menge, was mich an der amerikanischen Gesellschaft stört. An der freundlich oberflächlichen Mentalität sehr vieler Menschen, an der kulturellen Dauerkatastrophe namens Fernsehen und am politischen System, in vieler Hinsicht noch verlogener als bei uns. Ich ertrage nur schwer, wie unverhohlen dort Konzerne die Politik kaufen und nach wie vor die Umwelt ausplündern. Kurz gesagt – ich bin jedes Mal gern dort, reise nach einigen Wochen aber genau so gern wieder heim.

      „Ich wollte immer mal hinfahren, in die USA,“ gesteht sie. „Auf Urlaub, die bunte Western-Landschaft mit den Tafelbergen sehen. Aber bisher habe ich es nicht geschafft.“

      Bemerkenswert, sie spricht nur von sich, nicht von weiterem Anhang.

      „Tja, schade,“ versuche ich es unverdächtig, „wie schnell einem heutzutage das Familienleben abhanden kommt. Und man kann niemandem wirklich Schuld geben. Also gibt man sie am Ende sich selbst.“

      Sie sieht mich ruhig und nachdenklich an.

      „Wohl wahr.“

      Plötzlich kommt meine Empfindung vom Mittwoch wieder hoch.

      „Sagen Sie, Frau Sandner, darf ich Sie etwas Persönliches fragen? Es berührt auch Ihre Arbeit. Falls Sie meine Frage aufdringlich finden, dann entschuldige ich mich.“

      Was ihr knappes Schulterzucken bedeutet, bleibt unklar. Sie schiebt die Unterlippe nach vorn.

      „Na gut, fragen Sie.“

      „Mit dem Oberkommissar Schuster ...“

      Sie errötet etwas.

      „Vertrauen Sie ihm?“

      Sie stutzt.

      „Vertrauen? Wie kommen Sie denn darauf?“

      „Also bitte nochmals, Entschuldigung. Eigentlich geht es mich nichts an. Ich hatte nur eine bestimmte Empfindung.“

      Sie sieht mich auffordernd an und schweigt.

      „Na ja, wie soll ich das erklären? Von Anfang an, schon in der Goethe-Straße, verstehen Sie? Okay, ich bin jetzt mal frech und geradeheraus: Ich empfand Ihr Verhalten immer sachlich und wohlmeinend. Bei Ihrem Kollegen habe ich jedoch meine Zweifel. Mehr sage ich dazu nicht.“

      „Na, Sie stellen vielleicht Frag ...“

      Ein kerniges „Bibibaba“ vom Anfang der Hardrock-Ballade „The Final Countdown“ aus ihrer Jackentasche unterbricht Frau Sandner in der Antwort.

      „Oh, tut mir leid, Moment, lassen Sie mich kurz ...“

      Die Klangfolge wiederholt sich und verstummt, als sie das Gerät antippt und zum Ohr führt.

      „Mona, meine Tochter, das muss sein,“ erklärt sie in meine Richtung, dreht sich zur Seite und spricht mit deutlich hellerer Stimme weiter:

      „Mona, Schätzchen, wie schön ...“

      Ihre Stirnfalten ziehen sich zusammen, sie senkt den Blick, beugt sich weiter weg von mir und hört eine Weile zu.

      „Das darf doch nicht wahr sein! Ist der jetzt völlig durchgeknallt? Das gibt ’s doch nicht! Wie lange ist das jetzt schon her?“

      Sie atmet heftig ein und aus, nickt mehrmals mit dem Kopf.

      „Ist klar, hab ich verstanden. Schätzchen, das geht so nicht weiter. Wir müssen etwas tun. Der hat sie doch nicht alle. Pass auf, ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Dann überlegen wir ....“

      Nach kurzem Stocken: „Wieso? Na komm, jetzt übertreibst Du aber. Hör mal, das ist gefährlich. Bist Du sicher?!“

      Ihre