Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


Скачать книгу

ich hatte Sie schon gesehen, als Sie noch auf der Rolltreppe vor sich hingeträumt haben. Also, ich nehme mir jetzt einfach eine Nussecke. Oder beide, wenn Sie zu lange warten.“

      „Bitte, Frau Sandner, nehmen Sie; die haben noch mehr davon.“

      Kaum hat sie zu kauen begonnen, meint sie:

      „Sie haben mich eben verblüfft. Wie kommt ’s, dass Sie das mit der richterliche Anordnung beim Stalking wissen?,“ und wischt sich einen Gebäckkrümel aus dem Mundwinkel.

      „Reiner Zufall. Ich hatte im April einen Coaching-Klienten, ein Mann.“ Nachstellen geht auch andersrum. Der Mann war das Opfer einer Frau geworden, die unerschütterlich daran glaubte, dass er für sie und ihre Liebe geboren war. Die Frau hat ihn mehrfach verfolgt, sogar auf die private Gartenterrasse, auch um die Ehefrau zu verschrecken, die nach Meinung der Stalkerin den armen Mann gefangen hielt.

      „Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Jedenfalls habe ich dabei ein paar Grundbegriffe zum praktischen Umgang mit diesem bizarren Verhalten gelernt.“

      Frau Sandner schlürft vernehmbar ihren Tee.

      „Ich glaube, ich brauche gleich noch einen.“

      „Wollen wir uns noch eine Nussecke teilen? Bleiben Sie, ich hole Ihnen noch einen Tee.“

      Ich ziehe meine Jacke aus, lege sie auf den Sessel neben mir und gehe hinüber zur Theke der Backstube.

      „Wie kommt ’s, müssten Sie nicht um diese Zeit in Ihrer Dienststube hocken?,“ frage ich, während ich den neuen Tee und das Gebäck auf den Tisch stelle.

      „Nö, ich bin immer im Einsatz. Jetzt hier – zur Tatort-Recherche.“

      Sie nimmt die zweite Nussecke zügig in Angriff.

      „Wo? Da drüben im Supermarkt?“

      „Gerade dort! Sie machen sich keine Vorstellung, wie dreist hier geklaut wird. Die alten Raubritter waren Waisenknaben dagegen. Ohne zu zögern nehmen die einem da vorn fast das ganze Geld ab für zwei Tüten Müsli und eine Schachtel Vitaminpillen. Unglaublich.“

      So richtig nach Heiterkeit und Lachen sieht sie nicht aus.

      „Stimmt, klarer Fall für die Kripo.“

      Ich zögere, entschließe mich aber, sie ein wenig zu verunsichern.

      „Ehrlich gesagt, klingt für mich nach Galgenhumor.“

      Sie nickt langsam, atmet sichtbar aus, schaut gedankenverloren vor sich hin und greift zum Teeglas.

      „Also, erzählen Sie, wenn Sie mögen! Was ist los?“

      Frau Sandner setzt die Teetasse ab und lehnt sich seufzend zurück.

      „Sieht man mir das an?!“

      Ich hebe schweigend die Schultern. Na also.

      „Stimmt. Ich musste unbedingt raus, was anderes sehen und hören. Manchmal könnte ich einfach nur um mich schlagen. Aber das ändert ja nichts.“

      Sie nimmt das Teeglas wieder auf und beginnt, es zwischen beiden Händen hin- und herzudrehen. Ihr beiden Stirnfalten zeichnen sich deutlicher als sonst ab und ihr Mund wird schmaler. Dann schaut sie mich mit glänzenden Augen an.

      Ich nicke kurz: „Ich höre zu.“

      „Wissen Sie, was Facebook ist?“ fragt sie. Hängt sogleich an: „Hören Sie, Herr Berkamp, Sie müssen mir versprechen, das bleibt unter uns, wirklich.“

      *

      „Ganz einfach. Wenn Sie möchten, erkläre ich Sie zu meiner Coaching-Kundin, natürlich honorarfrei. Was ich mit meinen Klienten bespreche, behandele ich strikt vertraulich.“

      „Wenn das so einfach geht? Schön. Also, Facebook, ja?“

      „Ich weiß, was es ist und wie es funktioniert, halte mich aber davon fern,“ bekenne ich. „Ich misstraue diesen Daten-Kraken. Freunde sind für mich immer noch lebende Menschen und keine Facebook-Profile mit unehrlichen Gesichtern. Und meine Essgewohnheiten oder erotischen Phantasien behalte ich lieber für mich.“

      Sie holt tief Luft und nickt stumm.

      Mit einem schnaufenden Ausatmen beugt sie sich langsam vor zu mir, sieht jetzt erschöpft, beinahe niedergeschlagen aus.

      „Heute morgen ... ich habe fast drei Stunden an einer Vernehmung teilgenommen. Der Kollege wollte eine Frau dabei haben. Folgender Sachverhalt. Unglaublich; es ist einfach nicht zu fassen. Einer unserer „Sittenstrolche“ – das ist unser interner Spitzname für die Leute, die bei uns das Internet unter anderem nach Pädophilen durchstöbern – also, vor ein paar Wochen findet der auf einer Kinderporno-Website das Bild eines Mädchens, dreizehneinhalb Jahre alt. Das Üble daran, er kennt das Mädchen zufällig privat, die Tochter einer befreundeten Familie.“

      „Oh ne!“

      „Doch. Was sollte der Kollege tun? Er ringt sich dazu durch, die Eltern anzusprechen.“

      Entsetzliches Familiendrama; Vater, Mutter und der Kollege stürzen sich auf das Kind. Wie üblich mauert das Mädchen erst; dann gesteht sie, sie hat eine Facebook-Freundin. Die nennt sich Sonja, vierzehn Jahre alt, mit der hat sie regelmäßig gechattet. Natürlich gibt sie dabei die innersten Windungen ihrer Seelenfalten preis.

      „Ist mir völlig unerklärlich,“ erregt sich die Kommissarin, „aber egal, sie tut es halt. Wie süchtig nach Anerkennung durch eine Freundin. Weil die sich doch vertrauen, weil es cool ist und angeblich alle es tun.“

      Je länger sie spricht und ich Frau Sandner dabei ansehen darf, desto persönlicher und weniger durch ihre Polizeiarbeit bestimmt wirkt sie auf mich. Sie hält inne, hebt ihren Kopf ein wenig, wie um mich zu einer Bemerkung aufzufordern.

      „Verstehe ich auch nicht. Außer – das Mädchen ist wohl recht naiv und auf der Suche nach Bestätigung.“

      „Ja, ziemlich sicher. Jedenfalls meint diese Sonja, sie könnten sich doch mal treffen und lädt sie zu einer kleinen Party ein. Unser Mädchen freut sich sehr, macht sich hübsch.“

      Allerdings; was auf der Party geschehen ist, weiß sie nicht mehr. Einige Tage später wird das Bild auf die Website gestellt. Natürlich ohne Wissen der zur Schau Gestellten. ,Aurora’ nackt in einem schrägen Plüschsessel, die schlafende Sonnenkönigin, die geweckt werden will. Sonja lädt erneut zu einer Party ein, diesmal mit der Mutter und zwei fremden Männern. Wieder ist nicht klar, was dabei geschieht. Kurz danach kommt es zur polizeilichen Internet-Entdeckung des Bildes und dem erwähnte Familienkrach.

      „Oh nein, für Eltern der reine Albtraum.“

      „Mindestens. Zusätzlich, weil wir tätig werden müssen.“

      Strafrechtlich ist die Sache klar. Richterliche Anordnung, Observieren der Mutter dieser Sonja und deren Wohnung. Sie ist 34 Jahre, Sonja ihre Adoptivtochter, was die Polizei inzwischen bezweifelt, beide Russland-Deutsche angeblich aus einem Kaff bei Wolgograd. Die Mutter nutzt gleich mehrere Internet-Provider und Web-Adressen, die Websites laufen auf Servern in der Ukraine. Sie fährt einen geleasten Porsche Cayenne, hat stets reichlich Kleingeld, triff sich regelmäßig mit drei jungen Frauen, die nachweislich als Prostituierte arbeiten, zwei davon ebenfalls aus dem Osten, die jüngste, neunzehn Jahre, hier aus Frankfurt.

      Frau Sandners Blick bekommt etwas Erwartungsvolles.

      „Unser Glück: Stieftochter Sonja lädt ein anderes gleichaltriges Mädchen in ihre Wohnung ein, ebenfalls über Facebook kennen gelernt. Wir kriegen mit, die Mutter ist die ganze Zeit nebenan. Sie mischt dem Mädchen Gamma-Hydroxy-Buttersäure in die Cola, landläufige K.O.-Tropfen. Dann ziehen sie das Mädchen aus, machen Bilder, leicht veränderter Hintergrund. Die Stieftochter hilft kräftig mit.“

      „Widerlich,“ entfährt mir. Natürlich denke ich an