Norbert Rogalski

Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte


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Ich zog eine Niete. Damit stellte sich für mich und weitere Seminarmitglieder wieder die Frage: Wie kommen wir ohne Eintrittskarte in das Stadion? Folgende Variante führte zum Erfolg: Wir zogen den DHfK-Trainingsanzug an, der uns als Repräsentanten der DHfK auswies, und begaben uns gegen 10.00 Uhr am Spieltag auf die Nordanlage des Sportforums, die sich angrenzend an das Stadion befand. Das Spiel begann erst am Abend unter Flutlicht. Wir beschäftigten uns die vielen Stunden mit leichtathletischen Trainingsübungen, fielen damit den Kontrolleuren nicht auf und befanden uns bereits innerhalb eines größeren Absperrbereiches um das Stadion. Ohne Eintrittskarte war offiziell kein Durchkommen mehr. Ungefähr eine Stunde vor Spielbeginn sickerten wir unmittelbar in das Stadion ein, überlisteten die Ordner an den Eingängen und suchten uns einen Platz zwischen den Sitzplatzblöcken. Mit ähnlichen Tricks haben sich Hunderte von Fußballanhängern ohne Eintrittskarte die Möglichkeit verschafft, diesem Spiel direkt beizuwohnen, wie später bekannt wurde. Es war ein spannendes Spiel, Karl-Marx-Stadt hatte sich sehr gut gegen Kaiserslautern „verkauft“, obwohl 5:3 verloren wurde. In Erinnerung ist besonders das legendäre Hackentrick-Tor von Fritz Walter geblieben, das er im Hechtflug im Ergebnis eines Eckballs erzielte. Besonders unter den Umständen, wie wir uns zu diesem Spiel Zutritt verschafft hatten, war es ein Erlebnis, konnte aber zur Beantwortung der Frage, wie der Stand der DDR – Oberligamannschaften im Vergleich zum Fußball in der BRD einzuschätzen und wie die Entwicklung im Fußballsport der DDR weitergehen wird, die auch unter uns Studenten heftig diskutiert wurde, nichts beitragen.

       Ebenso wie die sportpolitische Problematik zwischen den beiden deutschen Staaten standen politische Ereignisse in den 50er Jahren in engem Zusammenhang mit Diskussionen im Studium. Im Jahre 1954 hatte die Regierung der BRD die FDJ und 1956 die KPD in ihrem Staat verboten. Der Jugendfunktionär Philipp Müller wurde von der westdeutschen Polizei bei einer Demonstration erschossen. Die BRD wurde Mitglied in der NATO, die militärische Aufrüstung in Form der Bundeswehr ist zügig vorangetrieben worden. Die Gefahr des Ausbruchs eines neuen Krieges war nicht nur Theorie, um nur einige Beispiele zu nennen. Etwa zur gleichen Zeit brach in Ungarn ein Aufstand gegen die Regierung aus, der von der sowjetischen Armee beendet wurde. Der XXII. Parteitag der KPdSU informierte über die Probleme des Personenkults mit Stalin, für uns Studenten kaum nachvollziehbar. Zweifel an der Praxis des vorgezeichneten sozialistischen Weges in zahlreichen Ländern Osteuropas traten auf. Die DDR wurde Mitglied des Warschauer Vertrages. Von Seiten der Regierung der DDR kam der Vorschlag, eine Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten zu bilden. In offenen Briefen, die in der Presse veröffentlicht wurden, kamen die SED-Führung und die SPD-Führung der Bundesrepublik zu der Auffassung, öffentliche Kundgebungen im jeweils anderen Staat über die Grundpositionen ihrer Politik und über Möglichkeiten der Zusammenführung beider Staaten durchzuführen. Diese Überlegungen hatten offensichtlich keinen ernsthaften Hintergrund, denn zu solchen Kundgebungen oder weiteren zwingenden Gesprächen zwischen den Spitzenpolitikern der SED und der SPD kam es nicht. Beide deutsche Staaten – eingebunden in die jeweiligen Bündnisse – hatten die Weichen anders gestellt, der „Kalte Krieg“ begann unerbittliche Formen anzunehmen, Feindbilder wurde entwickelt. Bis zum Beginn des Studiums an der ABF haben mich diese und weitere politische Grundfragen nur beiläufig interessiert. Das änderte sich mit dem Studium an der ABF. Besonders durch die Unterrichtsfächer „Geschichte“ und „Gesellschaftswissenschaften“ erfolgte eine systematische Auseinandersetzung mit politischen und ideologischen Auffassungen von Partei und Regierung. Ich wurde – wie alle anderen Studenten ebenfalls – mit der materialistischen Weltanschauung und Philosophie in ihren Grundsätzen vertraut gemacht. Einige Schriften von Marx, Engels und Lenin waren schon Gegenstand des Unterrichtes. Die Entwicklung der Gesellschaftsordnungen von der Urgemeinschaft bis zur Gegenwart, die Entstehung des ersten sozialistischen Staates, der Sowjetunion, lernte ich kennen und vergrößerte damit mein bisher nur oberflächliches Wissen auf diesem Gebiet. Besonders intensiv ist über die Ursachen von Kriegen und über den Widerspruch von Arbeit und Kapital gesprochen worden. Ich bekam in den Jahren an der ABF langsam eine wissenschaftliche Weltsicht. Gefördert wurde dieser Prozess durch einen parteilichen Unterricht der Lehrkräfte, durch die gesamte Atmosphäre, die an der ABF herrschte sowie durch die Weiterführung der inhaltlichen Auseinandersetzungen in der FDJ-Gruppe. Nicht immer waren wir unter den Seminarmitgliedern einer Meinung oder fanden keine Erklärung für manche aktuellen Entscheidungen der Regierung der DDR und der Warschauer Vertragsstaaten. Nach meiner Auffassung war die politische und weltanschauliche Erziehung und Ausbildung, wie ich sie an der ABF und auch im Hochschulstudium kennen lernte, nicht frei von Einseitigkeiten. Das Studium war nicht darauf ausgerichtet, sich auch mit den Ansichten und Schriften von Gesellschaftswissenschaftlern und Philosophen aus dem bürgerlichen Lager im Original befassen zu können und kritisch auseinanderzusetzen. Der Ausschließlichkeitsanspruch, der sinngemäß lautete, der Marxismus-Leninismus ist richtig, weil er wahr ist, schränkte den Streit um die besten ideologischen Ansätze der Gesellschaftsordnungen ein, verhinderte die kritische Begleitung des eingeschlagenen sozialistischen Weges. Das Ziel der Erziehung und Ausbildung, bewusste Staatsbürger im Sinne sozialistischer Ideologie heranzubilden, führte aber auch nicht zur politischen Unmündigkeit der Studenten und nur zum Nachbeten von Leitsätzen. Jeder Einzelne war selbst dafür verantwortlich, welche Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Ideologien und politischen Lehrinhalten daraus abgeleitet wurden. Die wissenschaftliche Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse stand stets im Mittelpunkt, die jedem Studenten ausreichend Möglichkeiten einräumte, seinen eigenen politischen Standpunkt und seinen Platz im Leben zu finden. Ich habe Studenten an der ABF kennen gelernt, die von anderen weltanschaulichen Standpunkten – aus welchen Gründen auch immer – ihr weiteres berufliches und persönliches Leben gestalten wollten und wenig Bezug zur materialistischen Weltanschauung und zum Atheismus fanden. Auch sie haben das Studium an der ABF mit der Hochschulreife beendet, vorausgesetzt, die Leistungen waren dazu ausreichend.

       Leben und Studium an der DHfK vollzogen sich nicht wie auf einer Insel, nur in Lehrräumen und Sportstätten. Wir waren in die gesellschaftlichen und politischen Prozesse der Stadt Leipzig und der umliegenden Kreise und Kommunen einbezogen. So wie wir am Bau des Leipziger Zentralstadions mithalfen, kamen weitere freiwillige Arbeitseinsätze in den Tagebauen der Braunkohle um Leipzig, bei Vorhaben im Häuser- und Straßenbau und vor allem in der Ernte der landwirtschaftlichen Einrichtungen in einigen Dörfern hinzu. Da ich heute nur unweit vom Naherholungsgebiet Kulkwitzer See in Leipzig-Lausen wohne, ist mir noch gegenwärtig, dass dieser See in den 50er Jahren ein Braunkohletagebau gewesen ist. Jeweils im Februar / März, in den Wochen komplizierter Witterungsbedingungen, unterstützten wir die Bergarbeiter. Unsere Arbeiten waren besonders im Schlamm versunkene Gleise wieder zu heben. Auf Grund unser insgesamt guten körperlichen Leistungsfähigkeit und der Überzeugung, dass diese Arbeitseinsätze zur Stärkung der Wirtschaft der DDR notwendig waren, sind wir stets von den Leitungen dieser Produktionsstätten gefragte Partner gewesen und wurden immer wieder zur Hilfe angefordert. Auch auf diesem Gebiet hatten sich die Studenten der DHfK insgesamt bei den staatlichen Dienststellen in Leipzig einen guten Namen gemacht.

       Wir erlebten während der Studienzeit mehrfach große politische Kundgebungen in der Stadt, die nicht ohne Wirkung auf uns blieben. Auf dem Markplatz und an anderen Orten sahen und hörten wir führende Funktionäre der DDR, anderer sozialistischer Staaten, aber auch aus Ländern, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung und um ihre Befreiung kämpften. Die meisten Studenten kannten solche großen Zusammenkünfte noch nicht. Für mich waren sie anfangs ebenfalls mit besonderen Eindrücken verbunden. Ähnlich verhielt es sich zum 1.Mai. Wie allerorts in der DDR, wurde der 1.Mai, als Kampf- und Feiertag der Werktätigen bezeichnet, mit großen Demonstrationen begangen. Die DHfK mit ihren Lehrkräften, Arbeitern, Angestellten und Stundenten nahm stets als eigenständiger Marschblock, an ihren Trainingsanzügen gut zu erkennen, daran teil. In den 50er Jahren gab es an der DHfK einen Fanfarenzug der Studenten. Wir marschierten mit den Klängen des Fanfarenzuges an der Spitze vom Hochschulgebäude durch die Jahn-Allee zum festgelegten Stellplatz und weiter an der Ehrentribüne vorbei. Das dauerte mehrere Stunden und war mit einigen Zwischenaufenthalten verbunden. Man konnte eine optimistische, gute politische Stimmung der Bevölkerung in den 50er Jahren daran ablesen. Der Marschblock der DHfK, auch überwiegend alle anderen Teilnehmer an der Maidemonstration, wurden von der Leipziger Bevölkerung mit Beifall begleitet. Viele Tausend Menschen säumten die Straßen, aus den Fenstern winkten die Bewohner. Man spürte in diesen Jahren eine Zuwendung zur Politik der DDR und eine