Norbert Rogalski

Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte


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noch nicht berechtigt gewesen, denn der unmittelbare Ausbildungsprozess entsprach nicht einem Studium, wenn man von wenigen hochschulnahen Unterrichtsformen absieht. Schüler waren wir aber auch nicht mehr, und somit konnten und durften wir uns Studenten nennen. Das war für Lernende an der ABF generell so üblich. Es war eine Aufwertung von unserem eigentlichen Status, die auch ein wenig stolz machte. Unsere Lehrkräfte, die überwiegend Männer waren, sind vor allem in den ersten Wochen und Monaten besonders bestrebt gewesen, uns an ein systematisches Lernen wieder heranzuführen. Im Bewusstsein, dass wir vor wenigen Wochen oder Tagen noch als Facharbeiter produktiv tätig waren und der Lernprozess nun völlig neue Anforderungen an uns stellte. Für bestimmte Fachgebiete, das betraf vor allem Chemie, Physik und Russisch, hatte die Mehrzahl der Seminargruppenmitglieder kaum Voraussetzungen. Ich gehörte dazu. Die ersten schriftlichen Arbeiten und Leistungskontrollen waren oftmals entmutigend. Mit pädagogischem Geschick gelang es den Lehrkräften, uns für die erfolgreiche Weiterführung des Studiums wieder zu motivieren und aufzubauen. Begünstigt wurde diese Haltung der Lehrkräfte dadurch, da sie in der Mehrheit über eine Ausbildung und Tätigkeit als sogenannte Neulehrer und weiteren Qualifizierungsmaßnahmen an die ABF gekommen waren und damit mehr Verständnis für die individuellen Probleme bei der Bewältigung der Lernanforderungen hatten. Das ABF-Studium war schon eine Besonderheit in der DDR, kein Schulbetrieb im engeren Sinne, eben schon eine spezifische Erwachsenenqualifizierung.

       Die pädagogische Arbeit des Lehrkörpers ist unmittelbar mit einem politischen Auftrag verbunden gewesen, der uns nach kurzer Zeit bewusst wurde, aber keinen Widerspruch hervorrief. Er bestand darin, junge Menschen aus der Schicht der Arbeiter und Bauern zielgerichtet zu erziehen und auszubilden und sie für akademische Berufe vorzubereiten. Dabei ging die Parteiführung der SED und die Regierung der DDR von der Erwartung aus, dass die Absolventen ihre erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten im Sinne der sozialistischen Gesellschaftsstrategie in der DDR im zukünftigen beruflichen Alltag einbringen werden. Die meisten Lehrkräften hatten diesen Auftrag auch verinnerlicht und handelten aus politischer Überzeugung. Erzieherische Möglichkeiten, die dem Unterrichtsstoff immanent waren, sind mehr oder weniger genutzt worden. Insgesamt bestand ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Lehrkräften und Studierenden an der ABF, da Lehrende und Lernende – zwar mit unterschiedlicher Aufgabenstellung – aber doch im Wesentlichen gleiche Ziele verfolgten. Die Jahre an der ABF waren für alle Beteiligten auch ein spannender Prozess, der beide Seiten immer wieder forderte und zu neuen Ansätzen im Denken führte, aber auch Resignation, Konflikte und Probleme im Studienalltag nicht ausschloss. Das war besonders bei einigen Studenten gegen Ende des 1. Studienjahres der Fall, als die Zensuren für einzelne Fächer feststanden und teilweise unbefriedigend ausfielen. Diesen Studenten musste empfohlen werden, das Studium nicht fortzusetzen, andere wiederum warfen selbst das Handtuch. Gründe waren oftmals Selbstüberschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit oder fehlender Wille, die verbleibende Freizeit optimal zum Lernen zu nutzen. Auch die Tatsache, dass der neue Berufsabschluss erst in mehreren Jahren erreicht sein wird, beeinträchtigte oftmals die Motivation für eine Weiterführung des Studiums. Ein Teil der Studenten war somit aus unterschiedlichen Gründen überfordert, gab auf und kehrte an den bisherigen Arbeitsplatz zurück.

       Das ABF-Studium war in dem Sinne ein Ausleseprozess, der vorhersehbar und vielleicht auch in der Art und Weise so angelegt gewesen ist. Jeder, der an der ABF immatrikuliert war, hatte objektiv die gleiche Chance, das Ziel „Abitur“ auch zu erreichen. Die meisten Studenten haben sie genutzt, andere eben nicht oder nicht nutzen wollen, als sie mit den Forderungen konfrontiert wurden. Fast ausschließlich waren es subjektive Gründe, wenn das Studium abgebrochen werden musste. Mit konservativer Begabtentheorie, dass Bürger aus bestimmten sozialen Schichten der Bevölkerung einen solchen Bildungsabschluss objektiv nicht erreichen können, hatte es nichts zu tun.

       Mein Studienjahrgang (1954 – 1957) reduzierte sich nach drei Jahren bis zu den Prüfungen zur Hochschulreife von anfangs 11 Seminargruppen auf 7 Gruppen. Zwischenzeitlich wurden immer einige Gruppen aufgelöst und die verbliebenen wieder aufgefüllt. Ich gehörte im 1.Halbjahr an der ABF zum untersten Drittel bei der Leistungsübersicht. Abgesehen von meinen bescheidenen schulischen Voraussetzungen fand ich keinen richtigen Rhythmus, um in der Freizeit Selbststudium zu betreiben und 5 bis 6 Stunden lang dem Unterricht aufmerksam zu folgen. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in der Fremdsprache konnte ich die Anforderungen anfangs nur schwer erfüllen. Mein fester Wille, den selbst gewählten Weg, der zu einem neuen Beruf führen sollte, erfolgreich abzuschließen, war letztlich die Ursache, dass die Leistungen besser wurden und ich mit durchschnittlich guten Zensuren das 1. Studienjahr an der ABF abschließen konnte. Auf keinen Fall wollte ich entweder in das Kaliwerk oder in die Tischlerei zu den ehemaligen Kollegen zurückkehren und mitteilen müssen: Mein Ziel war zu anspruchsvoll, ich habe das Studium nicht geschafft! So wurde eine eventuelle Blamage vor Kollegen, Bekannten, Sportfreunden und Verwandten zu einem weiteren Antrieb, das Lernen zu intensivieren und zunächst die Hochschulreife zu erreichen. Das gelang mir in den noch bevorstehenden zwei Studienjahren. Mit der Gesamtnote „gut“ erhielt ich im Juli 1957 das Abiturzeugnis mit der Unterschrift des damaligen Direktors der ABF, Horst Hecker, überreicht. Mit den Seminargruppenmitgliedern wurde dieses Ereignis ausgiebig gefeiert, bevor jeder in seinen Heimatort zurückkehrte, mehrere Wochen Urlaub verbrachte und sich gedanklich auf das Hochschulstudium vorbereitete.

       Die Jahre an der ABF, wie sie Herrmann Kant in seinem Roman „Die Aula“ treffend beschrieben hat, konfrontierten uns Studenten auch mit politischen Ereignissen, Verhältnissen und Situationen, die gerade in den 50er Jahren das gesellschaftliche Leben in der DDR umfangreich prägten. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) spielte unter der Jugend dabei eine dominierende Rolle, somit auch bei uns an der DHfK. Schon in der ersten Woche des Studiums trat die FDJ-Leitung der ABF an unsere Seminargruppe heran mit der Erwartung, eine FDJ-Gruppe zu bilden. Es war allgemein üblich an den höheren Bildungseinrichtungen, dass eine Seminargruppe gleichzeitig identisch mit einer FDJ-Gruppe gewesen ist, die Basis des strukturellen Aufbaus der FDJ insgesamt. Wir fanden uns zusammen und wählten die FDJ-Gruppenleitung, die aus drei Studienfreunden bestand, ein Mitglied der Leitung übernahm die Funktion des FDJ-Sekretärs der Gruppe. Auf die personelle Auswahl der FDJ-Gruppenleitung hatten wir verständlicherweise geringen Einfluss, wir kannten uns ja kaum. Die übergeordnete Leitung der FDJ und unser Seminarbetreuer, Herr Becher, machten deshalb auf der Grundlage der Bewerbungsunterlagen der einzelnen Studenten die Vorschläge. Inhalt, Aufgaben und Wirksamkeit der FDJ lernte ich das erste Mal unmittelbar an der ABF in meiner Seminargruppe kennen, obwohl ich bereits im Rahmen einer Delegation der BSG „Aktivst“ Bleicherode und Mitglied der FDJ am 1.Deutschlandtreffen der Jugend vom 27. bis 30. 05. 1950 in Berlin teilgenommen hatte. Die Reise zu diesem Treffen war auch der konkrete Anlass, mir das Blauhemd, das zu FDJ-Veranstaltungen und besonderen politischen Anlässen getragen wurde, anzuschaffen. Die FDJ war seit ihrer Gründung bis zur Auflösung 1989/90 in ihrer Hauptzielstellung eine politische Organisation mit antifaschistisch-demokratischer und sozialistischer Grundorientierung. Den politischen Zielen der SED stand sie stets sehr nahe, vereinigte aber in ihren Reihen auch Jugendliche aller sozialen, politischen, ideologischen und religiösen Schichten der Bevölkerung. Es war der einheitliche sozialistische Jugendverband der DDR, der aber ein breites Spektrum von politisch-ideologischen Auffassungen in sich vereinigte. Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten hatte die SED-Führung durch ihren Einfluss diesen ursprünglichen Charakter der FDJ verändert und einseitig auf ihre eigenen politischen Ziele festgelegt, indem sie den Jugendverband als „Kampfreserve der Partei“ betrachtete. Manch Jugendlicher fühlte sich dadurch in seiner Meinungsbildung eingeengt, ging auf Distanz zur FDJ oder wandte sich ganz ab. Bestimmte Einschätzungen, die nach der Wende von Politikern, Publizisten und Journalisten über den Jugendverband der DDR und ihre Arbeitsweise veröffentlicht worden sind, reduzierten die FDJ aber nur auf die politischen Aufgaben, die von der SED in den Jugendverband hineingetragen worden sind. Das widerspiegelt nicht annähernd die Wirklichkeit. Die FDJ-Arbeit, insbesondere in den Basisgruppen, war bedeutend umfassender als sie oftmals dargestellt wurde. Von dem, was die Gruppe selbst und ihre Funktionäre planten und realisierten, war das Leben in der FDJ vor allem abhängig. Diskussionsrunden zu aktuellen politischen und kulturellen Problemen, Film- und Theaterbesuche, Tanz- und Faschingsveranstaltungen, Sportwettkämpfe, gemeinsame Reiseerlebnisse waren keine Seltenheit und vielfach Hauptgegenstand der Zusammenkünfte der FDJ-Mitglieder. Mit diesen Inhalten gestalteten wir auch