Norbert Rogalski

Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte


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Ring um die Stadt geschlossen wurde, was Mitte Februar geschah, sollten Frauen mit Kindern und ältere Menschen ab 60 Jahren die Stadt laut Befehl des deutschen Stadtkommandanten zeitweise verlassen. Es gelang den damaligen Machthabern nicht mehr, eine Evakuierungsbewegung, wie man sie anfangs nannte, organisiert abzuwickeln. Die geschürte Angst der Nazi-Propaganda unter der Bevölkerung vor der heranrückenden Sowjetarmee veranlasste Zehntausende, die Stadt zu Fuß, mit Hand-und Kinderwagen, Pferdegespannen oder privaten Pkw spontan zu verlassen. Das Elend dieser Flüchtlingstrecks, das für zahlreiche Betroffene oftmals mit dem Tod endete, wurde später vielfach beschrieben und mit Filmen dokumentarisch belegt. Ich hatte das „Glück“, meiner Geburtsstadt Breslau noch etwas angenehmer mit der Bahn den Rücken zu kehren, meine Mutter als Beschützerin an meiner Seite. Für mich als Kind war es ein Schock, in wenigen Stunden die Wohnung und die Stadt nur mit Rucksack und Tragetaschen verlassen zu müssen, liebgewonnene Gegenstände, Spielzeug usw. nicht mitnehmen zu können. Es gab aber die Hoffnung, die von den Gesprächen der Erwachsenen genährt wurde, nach dem „Endsieg“, also mindestens nach der Befreiung der Stadt von den „Feinden“, wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Auf dem Bahnhof in Bautzen empfingen uns Angehörige der Wehrmacht, Zivilisten mit Hakenkreuzarmbinden und wieder Helfer des Roten Kreuzes, die uns zu Lastkraftwagen begleiteten. Die Fahrt führte uns nach kurzer Zeit in eine Waggonfabrik. In mehreren halbgeräumten Werkhallen war der Fußboden mit Stroh bedeckt, reihenweise exakt ausgerichtet. An jeder vorgesehenen Schlafstelle lag auch eine Decke. Frauen, Männer und Kinder verbrachten nun die nächsten Tage, manche auch einige Wochen, in diesen Werkhallen auf dem Strohlager. Die Sanitäreinrichtungen entsprachen nicht den Erfordernissen. Die Verpflegung war den Verhältnissen angemessen, man brauchte nicht zu hungern. Langsam wurde dieses Sammellager aufgelöst. Familien und Einzelpersonen sind von Bautzener Bürgern abgeholt und zeitweise in ihren Privatwohnungen untergebracht worden. So geschah es auch mit meiner Mutter und mir in den ersten Februartagen 1945. Ein Ehepaar, der Mann war schwer verwundet und aus der Wehrmacht entlassen worden, erfüllte - entsprechend den damaligen Möglichkeiten - unsere bescheidenen Wünsche und stellte uns eines ihrer Zimmer zur Verfügung. Wir glaubten, dass uns der Weg bald wieder nach Breslau führen würde. Während der etwa vier Wochen Aufenthalt bei dieser Familie machte mich der Hausherr mit dem Schachspiel bekannt. Viele Stunden saß ich mit ihm vor dem Schachbrett, befolgte seine Erklärungen und erlernte in den Grundzügen dieses Spiel. In diesen perspektivlosen Tagen und Wochen ergab sich damit ein Nutzeffekt zur Förderung von logischem Denken, das für meine weitere Entwicklung sicher vorteilhaft gewesen ist. Ein Ereignis aus dieser Zeit hat sich in meinen Erinnerungen fest eingegraben. Bautzen ist ja bekanntlich von Dresden nur etwa 50 km entfernt. Erwachsene und Kinder, so auch ich, standen am 13.02.1945 in der Nacht auf der Straße, hörten den Motorenlärm der anglo-amerikanischen Kampfbomber, die im Anflug auf Dresden waren, schauten auf den von sogenannten Christbäumen erhellten Himmel und erschraken, als das Krachen und Dröhnen der abgeworfenen Bomben auf die Stadt Dresden bis nach Bautzen herüberhallte. Der Horizont färbte sich schnell von nächtlicher Dunkelheit in eine rosarote Wolke. Keiner erahnte so richtig in dieser Nacht, was eigentlich in diesen Stunden mit Dresden, besonders auch mit den Menschen, die in ihr lebten und wohnten, passierte. Später erfuhr man, dass unter den Zehntausenden von Opfern auch Tausende von Flüchtlingen aus Schlesien und den anderen östlichen Gebieten Deutschlands waren, die sich in diesen Tagen als Durchgangsstation auf der Flucht in Dresden, völlig ungeschützt aufhielten. Meine Mutter sagte mir Jahre danach: „ Wir hätten auch unter den Toten sein können, wenn der Flüchtlingszug am 24.01.1945 nicht in Bautzen sondern in Dresden gehalten hätte“. Es war ein Zufall, am 13.02.1945 nicht in Dresden gewesen zu sein. Aber Bautzen war für meine Mutter und mich nur ein zeitweiliger Aufenthalt von etwa vier Wochen. Nach der nationalsozialistischen Propaganda noch im Februar/ März 1945 hieß es sinngemäß, alle Flüchtlinge könnten, nachdem Deutschland gesiegt hätte, wieder in die Heimat zurückkehren. Bevor jedoch die Alliierten den Krieg gegenüber Hitler-Deutschland endgültig beenden konnten, hatten sie die Grenzen Deutschlands zu den angrenzenden Staaten im Osten bereits neu festgelegt, was bedeutete, es gab für die Flüchtlinge kein Zurück in ihre Heimat mehr. So gelangte ich mit meiner Mutter auf Anordnung von staatlichen Behörden Ende Februar 1945 in das Dorf Lipprechterode (ca. 1.200 Einwohner) in den Kreis Nordhausen (Südharzgebiet) nach Thüringen. Mein Vater wurde ein Opfer des Krieges. Erst in den 60ziger Jahren erhielt meine Mutter vom Roten Kreuz der Sowjetunion schriftlichen Bescheid, dass er 1950 in einem Lager verstarb. Wir wohnten wieder bei einer Familie in einem Zimmer mit dürftigem, geborgtem Mobiliar. Die Familie war uns Flüchtlingen gegenüber hilfsbereit und versuchte auch insgesamt, uns das Leben in der Fremde, wie die Erwachsenen zu sagen pflegten, zu erleichtern. Einige Wochen vergingen ohne nennenswerte Veränderungen in unseren Lebensumständen. Meine Mutter war bemüht, unsere Verwandten zu finden, die auch aus Schlesien etwa zur gleichen Zeit auf unterschiedlichen Wegen geflüchtet waren, was ihr zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht gelang. Das verschlechterte ihren allgemeinen Gemütszustand. Ende April 1945 entwickelte sich eine gewisse Unruhe im Dorf . Der Rundfunk, soweit noch in Funktion, meldete nicht nur, dass die Sowjetarmee vor den Toren Berlins stand, sondern berichtete auch über den schnellen Vormarsch der US-Armee nach Thüringen ohne nennenswerten Widerstand der Wehrmacht. Die Dorfbevölkerung war verunsichert über ihr Schicksal beim Einmarsch eines der Kriegsgegner. Verstärkt wurde die Unruhe durch Bombenangriffe der Anglo-Amerikaner auf die Kreisstadt Nordhausen in der 2. Hälfte im April 1945. Die Stadt war danach zu 75% zerstört und hatte Tausende von Toten zu beklagen. Ähnliches erwartete man von den Bodentruppen, wenn ihre Geschosse in das Dorf einschlugen. Der Einmarsch der amerikanischen Armee vollzog sich aber dann ohne kriegerische Auseinandersetzungen. An einem sonnigen Apriltag standen plötzlich, aber nicht unerwartet, gegen Mittag amerikanische Panzer ca. 1km vor dem Dorf auf der Landstraße. Stundenlang passierte nichts. Es herrschte äußerste Spannung. Die Bevölkerung des Dorfes richtete sich in den Kellerräumen ihrer Häuser ein in der Erwartung, dass doch Kampfhandlungen stattfinden könnten. Wie wir später erfuhren, gingen einige ältere Männer mit weißen Fahnen auf die Panzer zu. Sie verständigten sich mit den amerikanischen Offizieren. Ihre Bedingung soll gewesen sein: Wenn kein Schuss von deutscher Seite fällt, wird das Dorf auch ohne Schuss ihrerseits eingenommen. Ich habe diese Männer nie kennen gelernt, ihre Namen wurden kaum propagiert, aus Gründen, die mir unverständlich blieben. Diese Tat nötigte mir später großen Respekt ab, als ich begriff, was sie für die Dorfbevölkerung bedeutete. Ihren Mut hätten sie auch mit dem Leben bezahlen können. Es befanden sich nämlich in diesen Tagen und Stunden noch versprengte Wehrmachts- und SS-Einheiten im Dorf, die den Marsch dieser Männer mit den weißen Fahnen zu den Amerikanern bemerkt hatten, aber nicht eingriffen. So rollten die amerikanischen Panzer in großer Anzahl und in ihrem Gefolge unzählige Lastkraftwagen mit Geschützen und anderem Kriegsmaterial in das Dorf ein. Dieser motorisierte Marsch oder auch Durchmarsch Richtung Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben, Halle, Leipzig dauerte noch tagelang. Angst und Skepsis unter der Dorfbevölkerung legten sich aber bald, da keine Schüsse fielen. Die Erwachsenen und wir Kinder verließen die Keller und sahen den vorbeifahrenden US-Truppen zu. Eine gewisse Unsicherheit war aber doch noch vorhanden, weil niemand genau wusste, was nun eintreten würde. Der Krieg war zwar in Lipprechterode praktisch zu Ende, was sich jeder Einzelne auch darunter vorgestellt hat, aber die Kapitulation Hitler-Deutschlands war noch nicht vollzogen, was dann wenige Tage später am 8. Mai 1945 erfolgte. Nach einigen Tagen der amerikanischen Besatzung krochen wir Kinder auf die Lastkraftwagen der US-Armee, die unbewacht auf Feldwegen standen, entwendeten Schokolade, Brot und Konserven und schleppten diese Beute unbemerkt nach Hause. Meine Mutter freute sich einerseits über diese nicht erwarteten Lebensmittel, aber andererseits hatte sie Angst, dass ich erwischt werden würde und sprach ein Verbot für weitere Versuche dieser Art aus. Nach wenigen Tagen hatte sich die Dorfbevölkerung an das Leben unter militärischer Besatzung gewöhnt. In der Schule richtete sich die amerikanische Kommandantur ein, die an Stelle des bisherigen Bürgermeisters mit neuen Verordnungen und Richtlinien das Leben im Ort zunächst sicherstellte. Unterricht für uns Kinder fand deshalb nicht statt, darüber waren wir nicht böse. Öffentliche Verkehrsmittel waren noch außer Betrieb. Verschiedentlich wurden Plünderer und Diebe, die nach Lebensmitteln suchten, verjagt oder festgenommen. Lebenswichtige Einrichtungen für die Strom- und Wasserversorgung sind wieder