Miriam Frankovic

Kira und der Kunsträuber


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Wir schwiegen wieder eine Weile. Inzwischen hatten sich auch die letzten Wolken verzogen, und ich spürte selbst durch meine dicke Jacke, wie die Sonne mich wärmte. „Meinst du, Wale und andere Tiere können auch glücklich oder traurig sein, so wie wir?“ fragte ich dann.

      „Bestimmt“, sagte Niklas. „Cangoo ist jedenfalls immer dann glücklich, wenn er genug zu futtern hat. Oder wenn er im Mittelpunkt steht und sich als großer Held feiern lassen kann“, fügte er hinzu. Wir mussten beide lachen. So sehr uns Cangoo manchmal auch auf den Keks ging, so sehr hatten wir uns inzwischen auch an ihn gewöhnt und konnten uns ein Leben ohne ihn und die anderen gar nicht mehr richtig vorstellen. Und, was niemand von uns gedacht hatte, am allerwenigsten Cangoo selbst, hatte er sich im Kampf gegen die Rasomiten ja wirklich als richtiger Held erwiesen.

      Niklas und ich beobachteten, wie ein größeres Fischerboot, das blau angestrichen war, jetzt langsam in den Hafen einlief und dabei vor sich hintuckerte. Und irgendwo aus der Ferne hörten wir, wie ein Fischer lauthals frische Heringe anpries. „Du bist nur hier, weil mein Vater und die anderen gesagt haben, du sollst mich ablenken, oder? Damit sie über meine Geburtstagsüberraschung reden können und ich nichts mitkriege, stimmt’s?“ hörte ich mich plötzlich selbst fragen.

      „Und wenn... wäre das so schlimm?“ sagte Niklas.

      Ich schüttelte den Kopf. Aber in Wirklichkeit gefiel mir die Vorstellung, dass Niklas nur deshalb Zeit mit mir verbrachte, weil die anderen ihn darum gebeten hatten, überhaupt nicht.

      Niklas drehte sich zu mir und sah mich mit seinen Augen, die heute so grün wie ein Fichtenwald im Sonnenlicht aussahen, an. „Ich bin hier, weil ich hier sein will, Kira. Mit dir.“

      Auf einmal fühlte ich mich so leicht wie ein Federball, der durch die Luft fliegt.

      „Außerdem bin ich gern hier am Hafen“, sagte Niklas. „Ich gucke gern dabei zu, wie die Fischerboote einlaufen und auf den Wellen hin und her schaukeln. Dann stelle ich mir immer vor, ich wäre selbst ein Fischer und würde mit meinem Boot ganz weit aufs Meer hinausschippern und irgendwo mitten im Indischen Ozean ankern.“

      „So ähnlich wie mit deinem Rad?“ fragte ich und dachte daran, dass Niklas mir mal erzählt hatte, wie er sich vorstellte, dass er mit seinem Fahrrad Leute überallhin auf der Welt fahren würde. Niklas nickte. „So ähnlich. Ich habe tierischen Hunger“, sagte er dann und sprang von der Kaimauer. „Holen wir uns eine Portion Pommes Frites, im Imbiss an der Mole?“

      Mir lief das Wasser im Mund zusammen. „Okay.“

      Niklas reichte mir seine Hand, und ich sprang auch von der Kaimauer. Allmählich begann ich trotz der Sonne etwas zu frösteln und wickelte mir den Schal fester um den Hals. Kurz darauf sahen wir schon die große Fähre, die mehrmals täglich Menschen und Autos zwischen einer kleinen Halbinsel und dem Festland, auf dem unsere kleine Stadt lag, hin- und herbeförderte. Dann liefen wir noch an einigen Hotels, Restaurants und kleinen Geschäften vorbei, und wie jedes Mal blieb ich vor dem Bernsteinladen stehen und betrachtete staunend die Auslage im Schaufenster. „Magst du Bernstein?“ fragte Niklas.

      „Ja. Er funkelt so schön. Besonders der honiggelbe und der orange.“

      „Siehst du die Einschlüsse auf dem da?“ Niklas zeigte auf einen der Steine, der mir nicht gleich ins Auge gefallen war. Ich nickte. „Was ist damit?“

      „Diese Einschlüsse sind Fossilien von kleinen Tieren oder Pflanzenteilen. Manchmal sind sie schon seit Millionen von Jahren im Stein eingeschlossen“, erklärte Niklas mir. „Verrückt, oder?“

      „Ziemlich“, sagte ich. Insgeheim bewunderte ich Niklas dafür, dass er so vieles wusste, besonders so wichtige Sachen. Zum Beispiel wie viele Krebse in dem Riesenmagen eines Blauwals Platz hatten und was alles in einem Bernstein eingeschlossen sein konnte.

      Kurz darauf setzten wir uns mit unseren in Ketchup und Mayonnaise getränkten Pommes Frites in der Hand auf die Mole und sahen dabei zu, wie ein großes Fährschiff, das aus Skandinavien kam, mit lautem Tuten im Hafen einlief. „Es will uns begrüßen“, meinte Niklas. Ich dachte wieder einmal, wie sehr ich unsere kleine Stadt am Meer mochte. Die Fährschiffe, die vielen kleinen Fischerboote, den Yachthafen und die Badeanstalt mit dem Ein-Meter-Sprungbrett, in der ich schwimmen gelernt hatte. Den kleinen Wald mit dem Froschteich, den Minigolfplatz, den winzigen Bahnhof, der nur zwei Gleise hatte, die schönen Giebelhäuser, sogar das Kurhaus. Und am meisten mochte ich den Alten Leuchtturm, wohin die Rasomiten vor nicht allzu langer Zeit Albert entführt und gefangengehalten hatten. Bis wir ihn befreiten und Albert Niklas von dem Fluch erlöste, mit dem der Anführer der Rasomiten ihn verzaubert hatte.

      „Gehen wir zusammen zum Drachenfest, Kira?“ fragte Niklas. Kaum hatte er das gesagt, als mein Herz auch schon laut anfing zu trommeln. Die ganze Zeit, seit wir aus Australien zurückgekommen waren, hatte ich mir nichts mehr gewünscht, als dass Niklas mich fragen würde, ob wir zusammen zum Drachenfest gehen. Und jetzt fragte er mich wirklich. Mich. Nicht irgendein anderes Mädchen aus meiner Klasse, eins von denen, die ich viel witziger und hübscher fand als mich. „Was ist? Hast du keine Lust?“

      „Doch. Total“, antwortete ich schnell.

      Niklas schien sich mit meiner Antwort zufriedenzugeben, stopfte sich seine letzten Pommes Frites in den Mund und sagte: „Wir bauen den größten und schönsten Drachen von allen, okay?“

      „Ist gut“, meinte ich nur und merkte, wie mein Herz vor Freude in mir auf- und abhüpfte.

      Das Drachenfest fand nur einmal im Jahr in unserer kleinen Stadt am Meer statt und war ein Riesenereignis. Alle würden da sein. Und alle würden sehen, dass ich mit Niklas zusammen hingegangen war. Und dass wir den schönsten und größten Drachen von allen gebaut hatten. Und danach würde jeder wissen, dass Niklas und ich... ja, was eigentlich?

      Der Himmel hatte sich nun vollständig aufgeklart, und als wir langsam am Strand entlang zurückgingen, zogen Niklas und ich unsere Schuhe aus und liefen barfuß durch den Sand, wo im Sommer immer die Strandkörbe standen. Aber jetzt im April war noch kein einziger Strandkorb zu sehen. „Traust du dich mit den Füßen ins Wasser?“ meinte Niklas und grinste verschmitzt.

      „Klar“, sagte ich und streckte vorsichtig meinen einen Fuß ins Wasser, zog ihn aber gleich wieder zurück. Das Wasser kam mir eisig vor. Niklas, dem das nichts auszumachen schien, krempelte seine Hosenbeine hoch und watete bis zu den Knien ins Wasser, während ich am Ufer stehen blieb. Auf einmal steckte er seine Hand ins Wasser, grinste mich an und zielte in meine Richtung. „Nicht“, schrie ich und sprang ein Stück weiter nach hinten.

      „Angsthase“, rief Niklas, kam aus dem Wasser heraus auf mich zu und nahm eine Handvoll Sand auf, um damit nach mir zu werfen. Ich duckte mich, aber zu spät. Ehe ich mich versah, hatte ich die ganze Ladung Sand im Gesicht. Niklas lachte fröhlich und wollte gerade noch eine Ladung Sand nach mir werfen. Aber ich hielt seine Hand fest. Einen Augenblick lang waren unsere Gesichter sehr nah beieinander, und für ganz kurze Zeit hatte ich das Gefühl, als würde plötzlich alles still stehen. So als ob jemand die Zeit angehalten hätte. Sogar, als ob die Wellen aufgehört hatten, an Land zu laufen. Dann war wieder alles wie vorher. Ich machte mich von Niklas los. „Blödmann“, sagte ich.

      „Selbst Blödmann“, meinte Niklas grinsend und zog mich an der Hand mit sich fort.

      „Komm, gehen wir. Ich glaube, die anderen haben eine Überraschung für dich.“

      LEONARDO DA VINCI

      Als Leonardo da Vinci im Jahre 1452 geboren wurde, war ich 320 Jahre alt“, begann Albert seine Erzählung. „Leider hatte ich nie das Glück, ihn persönlich kennen zu lernen, aber sein Name war in aller Munde. Und Leute, die ihn kannten, haben mir damals sehr viel von ihm berichtet.“

      „Was denn zum Beispiel?“, wollte Cangoo neugierig wissen.

      „Nun“, fuhr Albert fort und sah in die gespannten Gesichter von Pferdfreund, Mintz, Timbu, Watahulu, Noko, Niklas und mir. „Leonardo war nicht nur ein berühmter Maler. Er war auch Zeichner,