Ralph-Peter Becker

Der Gelbe Kaiser


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zwei Handbreiten höher gestiegen ist auf ihrer täglichen Bahn ihrem Zenit entgegen, nähert das Pferd sich dem weiterhin reglos Dastehenden, bleibt schließlich schnaubend, sich vor dem Wolf ängstigend, stehen. Wie auf ein stilles Kommando, weicht der Wolf zurück und das Pferd nähert sich soweit, das der Magier mit der Hand nach ihm greifen könnte – doch er tut es nicht. Gebannt beobachten die drei Kriegerinnen, wie das Pferd schließlich mit seinen Nüstern die Hand des Magiers berührt.

      „Der Wolf kommt zurück“, flüstert Kriegerin Ha, „und wird das Pferd wieder verjagen“, vollendet Ho den Satz.

      Ganz langsam bewegt der Wolf sich auf den wie versteinert dastehenden Magier und auf das ängstliche Pferd zu, das den Wolf nicht aus den Augen lässt. Nach und nach nähert sich der Wolf Schritt für Schritt dem Pferd, das zitternd dem Raubtier entgegenblickt. Eine Handbreit sind Nüstern und Wolfsnase noch von einander entfernt und der Wolf schiebt sich Fingerbreite um Fingerbreite immer dichter an das zunehmend aufgeregter reagierende Pferd heran. Behutsam lässt der Wolf schließlich seine Zunge über Nüstern und Gesicht des Pferdes fahren und zieht sich langsam wieder zurück. Von einem Augenblick zum nächsten hört das Pferd auf zu zittern, hebt schwungvoll den Kopf in die

      Höhe und ein leises Wiehern unterbricht die atemlose Stille, die wie ein dichter Schleier sich über Pferd, Wolf und Magier gelegt hatte.

      Der Magier öffnet die Augen und seine Hand greift in die lange, weiche Pferdemähne und dann steigt er auf den Rücken des Pferdes, das es willig geschehen lässt.

      –

      „Wir werden gleich unser Kriegslager erreichen, Magier“, unterbricht He die beschauliche Stille, in die der Magier in Gedanken versunken gefallen war. Er schien es gar nicht zu bemerken, dass die drei Kriegerinnen ihn Tag um Tag anstarrten, als hätte er seinem Pferd Flügel wachsen lassen und ritte nun durch die Luft dem Lager entgegen.

      „Nun kann er endlich aufhören zu träumen“, flüstert Ho, „und sich endlich mit normalen Kriegern unterhalten“, ergänzt Ha.

      „Sollen wir vorausreiten, He“, ruft Schwester Ho fragend, „und unseren gefangenen Magier ankündigen?“, ergänzt Ha die Frage.

      „Ja, fort mit euch. Sagt dem Vater aber nur, dass wir den Magier als unseren Gast mitbringen“, lächelt die jüngste der drei Schwestern und als die beiden sich auf den Weg gemacht haben, wendet sie sich noch einmal an den Magier.

      „Die beiden unzertrennlichen schwätzen und plaudern den ganzen Tag, sie teilen alles miteinander. Sogar auf dem Schlachtfeld können sie es nicht lassen, zu schwätzen und zu plappern.“

      „Ich bin vom Gefangenen zu deinem Gast geworden. Was bedeutet das?“

      „Das bedeutet, dass ich dir mit meinem Wort für deine Sicherheit bürge. Unsere Krieger sind ein raues Volk, immer gewaltbereit und von unersättlicher Habgier getrieben. Vielen aber gilt die Ehre als Krieger als noch höheres Gut, als Habgier und Reichtum.“

      „Warum sollten eure Krieger sich ausgerechnet dir zur Einhaltung deines Wortes verpflichtet fühlen?“

      „Unser oberster Kriegshäuptling, Häuptling Mokk vom Stamm der Raubvögel, hat vier Kinder – einen Sohn, der als nachfolgender Häuptling den Namen seines Vaters führen wird und bis dahin nur ‚Sohn des Mokk’ genannt wird – und drei Töchter, von denen ich die jüngste bin.“

      „Hm“, brummt der Magier überrascht, „ich glaube nicht, dass irgendetwas dadurch leichter wird – warum sollte ein Vater und Häuptling sich durch das Wort seiner Tochter verpflichtet fühlen…?“

      Im Lager der Darr

      Ein in seiner Ausdehnung kaum zu überblickendes System von Zeltreihen – die in ihrer Anordnung lange und breite, sich rechtwinklig kreuzende Wege durch das Kriegslager bilden, bis hin zu kleinen Gängen und Gassen, die sich in alle Richtungen verzweigen – ist erstes Zeugnis eines gut organisierten Militärapparates. Wie vor jedem Kriegszug der Darr, herrscht im Lager bei allen Kriegern ausgelassene Stimmung, wie sie nur aus der Quelle einer unerschütterlichen Siegeszuversicht fließt. Überall sieht der Magier auf großen Plätzen in und um das Kriegslager herum Krieger und Kriegerinnen, beim täglichen Training mit ihren Waffen.

      „Ich beginne zu verstehen, was euch den Ruf der Unbesiegbarkeit eingebracht hat“, bemerkt der Magier anerkennend. Neugierig ruht sein Blick auf einer Gruppe von Bogenschützen, die einen Wettstreit auszutragen scheinen.“

      „Ist es erlaubt, sich am Bogenschießen der Krieger dort zu beteiligen, Kriegerin He?“

      „Du weißt gar nicht, worauf du dich einlässt, Magier!“, versucht He noch zu warnen.

      „Ich weiß sehr wohl, worauf ich mich einlasse, wenn es um das Bogenschießen geht“, missversteht der Magier die Warnung und gesellt sich zu den Bogenschützen.

      „Seht euch den Zwerg an, der mit uns in den Wettbewerb treten will! Was ist dein Einsatz, wenn du verlierst?“, schreit unter dem Gejohle seiner Kameraden einer der Krieger, dessen Körpermaße allerdings an eine ausgewachsene Eiche erinnern.

      „Ich setze meinen Bogen, dass ich gewinne – seid ihr einverstanden?“, fragt der Bogenschütze den Bogen anhebend und das Ziel anvisierend. „Ich ziele nur auf die Hörner der Ziege, die nicht von meiner Hand sterben soll!“, ruft er noch, den Bogen spannend. Doch er kommt nicht mehr zum gezielten Schuss. Für den Magier findet der Wettkampf der Bogenschützen ein jähes Ende, als er vom Schlag einer Kampflanze am Kopf getroffen das Bewusstsein verliert und zu Boden stürzt.

      _

      Als der Magier wieder zu sich findet, liegt schon die Dunkelheit einer mondlosen Nacht in der Steppe. An der verbrauchten Atemluft erkennt der Magier, dass er in einem Zelt liegt, das nicht dem geringsten Sternenfunkel Zutritt in das Innere erlaubt.

      Neben sich hört er es schwer atmen, kann aber nicht klar erkennen, ob ein Mensch oder ein größeres Tier die Atemgeräusche verursacht.

      „Bist du es?“, fragt er flüsternd und er erschrickt, als eine Frauenstimme antwortet.

      „Ja, ich bin es“, piepst es zurück.

      „Wer bist du?“

      „Ich bin deine Frau.“

      „Du irrst dich, du bist ein dummes Ding. Du hast dich im Zelt geirrt – ich bin nicht dein Ehemann!“

      „Ich bin nicht dumm und ich habe mich auch nicht im Zelt geirrt – Du bist der Magier! Nach den Gesetzen der Darr bist du jetzt mein Ehemann, der für mich sorgen muss!“

      „Wie heißt du?“

      „Alle nennen mich nur verächtlich ‚Fleischberg’“ piepst es zurück. Der Magier begreift sofort.

      „Du bist die dicke Frau, die aus Hohn und Spott vorbeikommenden fremden Kriegern als Frau angeboten wird. Das tut mir leid für dich, aber ich kann mir weder eine dicke noch eine dünne Frau leisten. Habe nicht einmal Zeit für eine Frau.“

      „Das nützt dir nichts, die Krieger haben es so beschlossen und Häuptling Mokk hat zugestimmt. Mein Ehemann kann mich verstoßen, wenn ich die Nacht mit einem anderen Mann verbringe. Haben wir nicht die Nacht miteinander verbracht?“, piepst es in die Ohren des Magiers.

      „Ist es nicht entwürdigend, so behandelt zu werden, wie du behandelt wirst?“

      „Ich habe mich daran gewöhnt, gedemütigt zu werden, Magier.“

      „Könntest du dich auch daran gewöhnen, von deinem richtigen Ehemann mit Respekt behandelt zu werden? Würde dir der Gedanke an Rache schwer fallen?“

      „Wundervoll wäre das, Magier“, seufzt die Piepsstimme, „aber mein Ehemann wird nicht nur mich, sondern auch dich verprügeln – du kennst ihn ja schon. Der Krieger, der dir die Lanze auf den Kopf gehauen hat.“

      „Na,