Brigitte Brandl

Malverde


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der Erreger umso hefti­ger zu­geschlagen. Und das lag bestimmt nicht daran, dass die Dorfbe­wohner den Arzt der Krankenstation blockierten!“

      „Sondern?“

      „Ich weiß es nicht sicher. Deshalb habe ich mich an Morales gewandt.“

      „Morales hat noch einen zweiten Wirkstoff angeordnet,“ bemerkte Piet irritiert.

      „So? Hat er das?“

      Schweigend gingen sie durchs Dorf mit ihrer wertvollen Fracht, und selbst Acacio wirkte auf einmal angespannt und hochkonzentriert. Er trug den Behälter an sich ge­presst, als könne er ihm jeden Moment entrissen werden, und er erwiderte die Grüße der Dorfbewohner mit dün­nem Lächeln und beiläufigem Nicken.

      Piet fragte sich, was im Kopf des Einheimi­schen vorging, der anscheinend hier im Dorf ein Anse­hen ge­noss, das weit über das eines gewöhnlichen Sozialar­beiters hin­ausging. War Acacio nicht vielleicht doch der Sohn des Dorfältesten? Aber trotz des langen, schwarzen Haares und der dunklen Augen hatte Aca­cio so gar nichts Indiani­sches in sei­nem Aussehen.

      Die Leute im Dorf begegneten ihm mit sehr viel Herzlichkeit, und sie ließen sich auch nicht durch sei­nen angestrengten Gesichts­ausdruck beirren, als seien sie ge­wöhnt daran. Auf einmal ka­men Kinder gelaufen und rie­fen ihm zu, wann denn wie­der Schule wäre, und für einen Mo­ment wich die Verkrampfung aus Acacios Gesicht. Er blieb ste­hen, freilich ohne den Medikamentenbehälter loszulassen, nahm die Kinder in den Arm und sagte mit einem Lächeln in der Stimme:

      „Bald werde ich wieder mit euch lernen, wenn es den kranken Leuten hier besser geht!“

      „Baust du dann auch die Schule weiter?“ Die Kin­der scherten sich keinen Deut darum, dass der jun­ge Mann offenbar mit ganz anderen Dingen beschäftigt war und bestürmten ihn geradezu mit ihren Fragen.

      „Klar!“ antwortete Acacio, „die Schule wird weitergebaut, und sie ist auch bestimmt fertig, bevor es wieder anfängt zu regnen.“

      Ein Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, fragte: „Kann ich mitkommen zu den kranken Leuten? Ich helfe ihnen, so wie Mama das tut. Wenn ich groß bin, will ich im Krankenhaus arbeiten, wie der dóctor, der hier war.“ Acacio strich ihr durchs Haar.

      „Da musst du aber wirklich warten, bis du groß bist! Jetzt lauf nach Hause und sage deiner Mutter, dass ich euch nachher besuchen werde, ja?“

      Die Kleine strahlte ihn an und winkte, während sie los­rannte. Piet sah dem Mädchen nach. „Wer ist sie?“

      Aca­cio war wieder ernst geworden und murmelte kaum hörbar: „Das ist Leonor.“

      Sie liefen auf ein Gebäude mit kleinen Fenstern zu, das auf einer aufgeschütteten Anhöhe stand, fast schon erhaben inmitten der einfachen Bauernhütten. Es war ein Lagerhaus für Le­bensmittel, solide gebaut, um die Vorräte während der langen Regenperioden trocken und sicher zu hal­ten. Nun hatte man es eingerichtet, um die Kran­ken an einem Ort versorgen zu kön­nen und um außerdem eine wei­tere An­steckungsgefahr auszu­schließen, obwohl es mittler­weile si­cher war, dass die Infektion nicht durch zwischen­menschlichen Kontakt übertragbar war.

      Die drei Männer und die Frau waren in einem schlimmen Zustand. Bereits zwei Tage nach Ausbruch der Krankheit waren ihre Gesichter aschfahl, die Augen lagen in tie­fen, dunklen Höhlen, und die Infusionsnadeln in den dünnen Ar­men wirkten eher wie eine Tortur als wie eine Lebensrettung.

      Lober erschrak. Die Betten vor der kahlen Wand wirkten wie eine bedrohliche Front des Leids, und die Menschen lagen da, hilflos, ausgeliefert und endgültig. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu, aber er versuch­te zu lächeln, um von seiner Beklommenheit abzu­lenken und den Eindruck des gelehrten Hoffnungs­trägers zu ma­chen. Das war es doch sicher, was diese Menschen von ihm erwarteten! Und das war es auch, was er bislang immer gewesen war - bis er in dieses Dorf gekommen war.

      Als sie näher an die Betten heran­traten, sah Piet an der Wand die Fotos der Ehe­partner und der Kinder, ob­wohl diese nur einen Steinwurf ent­fernt wohnten. Auf diese Weise waren die Kranken immer bei denen, die ihnen wichtig waren. Und neben den Betten standen Va­sen mit fri­schen Blumen. Er schluckte; für einen Moment wich ein Teil seines Unbe­hagens.

      Acacio setzte sich ans Bett der schlafenden Frau, strich ihr vorsichtig übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie war nicht alt, doch sie glich einer Greisin. Die Krankheit hatte ihr Gesicht einfallen las­sen; die Wangenknochen standen hervor, und die Haut spannte sich wächsern darüber. Aber sie atmete gleichmäßig und schlief ruhig. Acacio betrachtete sie und sagte liebevoll: „Du wirst es schaffen, Clara, ganz be­stimmt. Jetzt wird alles gut.“

      Er ließ seine Hand auf der Stirn der Frau liegen. „Das Fieber ist tatsächlich nicht gestiegen; es ist gut, dass sie schlafen kann. Das entspannt ih­ren geschundenen Körper und gibt ihr etwas mehr Kraft.“

      Piet starrte ihn an und konnte nicht glauben, was er sah und hörte.

      Sie legten neue Infusionen an und gaben die erste Dosis des neuen Präparates. Piet arbeitete mit fast schon an­dächtigem Eifer. Er war noch nie in seinem Leben so ner­vös gewesen, und er hoffte inständig, dass Acacio nichts davon bemerkte. Obwohl alles im Raum sauber und gepflegt war, spürte er den Geruch von Verfall und Leid, und daran änderten auch die Familienfotos und die Blumen nichts. Grausam brann­ten sich die ausge­mergelten Gesichter in sein Hirn, die im spärlichen Licht des Raumes noch elender wirkten; Ge­sichter, die ihn ansahen voll Hoffnung, Menschen, die keine Ah­nung davon hatten, dass der Mann, den sie als ih­ren Retter an­sahen, noch nie zuvor mit ernsthaft Kranken zu tun gehabt hat­te. Zum ersten Mal be­rührte er den Körper eines richtigen Pati­enten! Am meisten schockierte ihn, dass von der Lässigkeit, mit der er in seinen Vorträgen von „Patienten“ und „Pati­entengut“ gesprochen hat­te, nichts mehr übrig war. Hier lagen keine isolierten, syntheti­schen Stu­dienobjekte vor ihm, sondern tatsächlich leidende Menschen! Wie sehr wünschte sich Piet, dass die kranken Dorf­bewohner eher auf Heilung durch Acacio oder durch was auch immer hofften!

      Acacio blieb an jedem Bett sitzen und sah die Leute einfach nur an. Sie waren zu schwach, um zu sprechen, aber sie zeigten durch ihr dünnes Lächeln, dass sie spürten, dass ihnen geholfen wurde. Piet stand daneben und wickelte den Plastik­schlauch einer ab­gelegten Infusion um sein Handgelenk. Er konnte den Blick nicht abwenden und trat kleinmütig von einem Bein aufs ande­re. Die tiefe Verbundenheit zwischen Aca­cio und den Kranken quälte ihn, dieses stille, aber selbstverständliche Bekennt­nis! Wären dies Sze­nen aus einer medizinischen Dokumentati­on gewesen, hätte er sie sofort als senti­mentalen Kitsch und als unwissenschaftlich ab­gelehnt. Doch nun bescherte es ihm einen heftigen Druck in der Brust. Was passierte hier?

      Er atmete tief durch und beschwor sich, nicht die Beherrschung zu verlieren! Bloß nicht kapitulieren vor dieser neuen Herausforderung, die noch nicht einmal richtig begon­nen hatte! Schließlich gehörte das, was er hier tat, zum Alltag eines jeden Dorfarztes, und wenn er ein Dorfarzt hät­te werden wollen, hätte er sich eine Menge Zeit und Lernerei sparen können! Nein, er war Epidemiologe, und die Medika­mente, die hier eingesetzt wurden, waren aufgrund der Arbei­ten seiner Gruppe spezifi­ziert worden. Nun konnte es einfach nicht angehen, dass es ihn aus der Bahn warf, dass ein paar Bau­ern schlecht aussahen!

      Trotzdem sah er immer wieder zu Acacio hinüber, der mit einem der Männer sprach, leise und sanft, voll Anteilnahme und Ernst­haftigkeit. In seiner Stimme lag eine Sicherheit, die den kranken Mann sicher nicht länger zweifeln ließ, dass sein Leiden bald zu Ende sein würde.

      Es war gerade 24 Stunden her, da hatte derselbe Acacio Piet mit ge­ballter Faust und blitzenden Augen gedroht, ihn in der Wild­nis aus dem Auto zu werfen. Piet war sofort überzeugt gewesen davon, dass dieser Junge frei war von jeglichem Einfüh­lungsvermögen und jeglicher Wahrnehmungsfähigkeit gegen­über allem außerhalb seiner eigenen Person. Zu gerne hätte er ihn jetzt als Freizeit-Samariter abgestem­pelt oder als wichtigtuerischen Möchtegern-Lebensretter! Doch so sehr