Brigitte Brandl

Malverde


Скачать книгу

Es war nur der ausge­zeichneten Federung des alten Buick zu ver­danken, dass sie ohne größere Schäden am eigenen Leib vor­wärts ka­men. Auf einer Seite der Straße waren Spuren von Ro­dungen zu sehen, die darauf hindeuteten, dass sie sich in der Nähe einer Ansiedlung befanden. Piet überkam eine starke Beklemmung. Er stell­te sich die Einfahrt in eine Geisterstadt vor, die wie aus dem Nichts auftauchte, verhan­gen, still, men­schenleer, und überall lauerte die Bedrohung einer unsichtbaren Macht, die die Sied­lung in ihren Klauen hielt.

      Doch plötzlich tauchten Kinder auf, die grö­lend Flaschen und Dosen an einem Seil hinter sich herzogen und großen Spaß an dem lauten Klir­ren und Scheppern hatten. Als sie den Wagen sahen, winkten sie und liefen neben dem Auto her. Sie riefen Acacios Namen und klopften mit den Händen gegen die Karosserie.

      Doch hinter dem ersten Haus im Dorf änderte sich das Bild. Nur noch wenige Menschen waren zu sehen, und sie saßen mit ernsten Gesichtern vor den Hütten und musterten die Ankömmlinge in dem bunten Wagen. Die Kinder hatten das Seil mit den Dosen und Flaschen wie auf einen stum­men Befehl hin eingerollt.

      Acacio stoppte den Wagen und nahm das Paket vom Rücksitz. Ein älterer, kräftiger Mann mit unverkennbar indianischem Aussehen kam aus dem Haus. Acacio rief dem Mann, der anschei­nend Pablo hieß, eine kurze Begrüßung zu in einer Sprache, die Piet nicht verstand, und der Indio lächelte. Er und Acacio um­armten sich kurz, Acacio deutete auf Piet ohne ihn anzusehen und meinte auf Spanisch zu dem Dorfältesten:

      „Das ist der Arzt, den Morales geschickt hat.“

      Piet bemühte sich, den gleichgültigen Unterton in der Stimme des Kolumbianers durch ein umso herzlicheres Lä­cheln in Pablos Gesicht zu überdecken. Ange­strengt suchte er in der Miene des Mannes ein wenig Freude, Wohlwollen oder wenigstens ein beifälliges Glänzen in den halbmond­förmigen, dunklen Au­gen, wenn er schon nicht zurück lä­chelte. Aber Pablos rundes, faltenloses Ge­sicht blieb unbeweglich. Umso erstaunter war Piet über den langen Blick des Mannes in seine Augen und den fes­ten, ehrlichen Händedruck.

      „Buenos días, Señor,“ sagte der Indio und Piet stammelte, er sei erfreut, hier zu sein, obwohl dies im Moment alles andere als die Wahrheit war. Aus dem Augenwinkel muster­te er Acacio und sah, wie der die Augen verdrehte als er ins Haus ging. Pablo bat den Deutschen zu folgen, und diesmal sah Piet sogar ein klei­nes, verborgenes Grinsen.

      Das Haus erinnerte Piet an die Kneipe vom Vorabend und an sein Ho­telzimmer, und geflissentlich fragte er Pablo:

      „Die Muster der Teppiche sind typisch für die Gegend hier, nicht wahr?“

      „Die Sendung wurde bei der Anlieferung aus der Fabrik für ein Kaufhaus in Bogotá beschädigt und war spottbillig,“ antwortete Pablo schmunzelnd, und Acacio drehte den Kopf weg und kicherte. Piet schluckte.

      „Ich kann das Muster auch schon nicht mehr sehen, aber Tradition ist nun einmal Tradi­tion!“ fuhr der Indio fort.

      Acacio runzelte die Stirn. Irritiert stand er mit den Händen in den Hosentaschen vergraben und musterte Pablo mit deutlichem Unmut. Aber der Indio klopfte ihm nur sanft lächelnd auf die Schulter.

      „Was willst du trinken, hijo? Was meint ihr, ist es nicht eine gute Idee, die Ankunft der Medikamente und die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Leids mit ei­nem Glas Agua Ardiente zu feiern?“

      Piet schauderte bei dem Ge­danken an den starken Schnaps am frühen Morgen. Dann besann er sich aber blitzschnell seines Vorteils und widersprach nicht. Stattdessen warf er einen kurzen Blick rüber zu Aca­cio und hoffte, dass der seine Häme nicht bemerkte. Lober gierte geradezu da­nach zu sehen, wie wohl der junge Kolumbianer auf die Ges­te des Dorfältesten reagieren würde! Acacio stimmte lächelnd zu, frei­lich nicht ohne vorher kräftig geschluckt zu haben.

      Pablo deutete auf das Sofa, auf dem eine ganze Reihe bunter, kratzig anmutender Decken la­gen. Zu seiner Überra­schung stellte Piet fest, dass die Wolldecken gar nicht kratzig waren, sondern sich weich und angenehm kühl anfühlten. Aber er verkniff es sich, mit den Händen über die Decken zu streichen oder sonst ir­gendeine Form von Behagen oder Inter­esse zu zeigen! Er schielte zu Acacio, der mit finsterem Blick aus dem Fens­ter stierte und sich eine Strähne seines Haares um den Finger wi­ckelte. Piet überkam klammheimliche Freude dar­über, dass Pablo offenbar nicht bereit war, Acacios Klein­krieg mitzumachen, und er fühlte sich bestätigt in seiner Mei­nung, dass sie hier gott­froh waren, dass Morales ihn eingeladen hatte!

      Acacio stand auf, schaltete das Radio ein, und die gleiche Musik füllte den Raum, die Piet schon tags zuvor auf der Fahrt im Auto auf die Nerven gegangen war. Als er sich wieder hinsetzte, hatte seine Miene sich deutlich aufgehellt. Doch be­vor Piet die Vorstellung, dem Kolumbianer den Hals umzudrehen, zu Ende phanta­siert hatte, kam Pablo mit einer Flasche zu­rück und schenkte drei kleine Gläser rand­voll ein. Er brachte einen Trinkspruch aus auf die Ge­sundheit und auf die Hilfe der Heiligen Jungfrau, und sowohl Piet als auch Acacio lösten ihre Blicke nicht von Pablos Gesicht, als sie die Gläser aneinander stießen. Piet kniff die Augen zusam­men und leerte sein Glas in einem Zug, so wie er es gestern Abend auch getan hatte, um das scharfe Getränk so rasch wie möglich loszu­werden. Doch dann stellte er fest, dass dieser Schnaps weder brannte noch durch seine Schärfe die Zunge pelzig werden ließ, sondern weich und mit einem Aroma aus Kräutern durch seinen Hals floss. Er musterte das leere Glas mit Wohlbehagen.

      In diesem Moment ertönte eine Frauenstimme: „Wir brennen ihn selbst. Das Zeug auf dem Markt ist teuer und schmeckt nicht.“

      An der Tür stand eine Weiße, groß und kräftig ge­baut, mit einem gütigen Gesicht und wachen, blau­en Augen. Sie begrüßte zuerst den ausländischen Gast, dann Acacio und schließlich ih­ren Mann und fragte lachend, ob er denn allen Ernstes die jun­gen Leute schon am frühen Morgen betrunken machen wolle. Sie gab Acacio einen Kuss und nannte ihn mi hijo, mein Sohn, und drückte Piet die Hand, warm und herzlich.

      „Ich bin Maria.“ Sie holte tief Luft. „Es ist ein Segen, dass sich der Zustand der Kranken seit Stun­den nicht verschlechtert hat! Das Fieber steigt nicht weiter, der Jungfrau sei Dank dafür!“ Ihr Gesicht strahlte vor Freude und Erleichterung, und ihre ruhi­ge Erscheinung ließ Piet ver­gessen, dass er gerade einen veritablen Mord hatte begehen wollen.

      Er lächelte die Frau an. „Das sind gute Vor­aussetzungen für unsere Arbeit! Wir fangen am besten gleich an, damit die Leute nicht noch länger diesem Lei­den aus­gesetzt sind.“ Vorsichtshalber ließ er seinen Blick bei der Frau des Dorfältesten.

      Acacio stand wortlos auf, ging in die Küche, wo er zuvor den Behälter mit den Medikamenten im Kühlschrank gesichert hatte und kam mit einigen Schachteln in der Hand und ein paar be­druckten Blättern wieder zurück.

      „Vamos!“ knurrte er. Mit einem flüchtigen Kuss be­dankte er sich mit bei Pablo und seiner Frau, warf seine Jacke über die Schul­ter und stapfte Richtung Ausgang. Kurz vor der Tür drehte er sich um und frag­te Piet mit säuerli­chem Grinsen: „Kommst du, dóctor?“

      Piet holte tief Luft und stellte sein Glas zurück auf den Tisch. Verstört sah er Maria und Pablo an, als beginge er eine große Unhöflichkeit, zuckte mit den Achseln und folgte Acacio nach draußen.

      Ohne den Arzt anzusehen, drückte Acacio Piet die Papierbögen in die Hand. „Das sind die Berichte der Krankenstation. Verlaufsprotokolle, Fieberkurven, Blutdruck- und Blutsenkungswerte, die genaue Typisierung des Erregers.“

      Lober wollte seinen Augen nicht trauen. Statt Notizen von Amateuren las er die Dokumen­tation einer Infektionstherapie, auf die manche deut­sche Klein­stadtklinik stolz wäre. Hier, mitten im tiefsten kolum­bianischen Dschungel! Er spürte einen dicken Kloß im Hals und wagte nicht zu fra­gen, auf wes­sen Initiative diese Therapie eingeleitet worden war.

      Acacio berichtete weiter: „Die Elektrolyt-Infusio­nen werden täglich erneu­ert. Das schützt die Kranken vor Aus­trocknung, und der Erreger wird rascher ausgeschieden. Ich fürchte nur, dass die Besserung nur vor­übergehend