Brigitte Brandl

Malverde


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Seil­bahn nach, die auf das Kloster zuschwebte, und er ge­noss es, dass nun der Lärm der riesi­gen Stadt hinter ihnen lag und nichts weiter zu hören war als das Ge­räusch des Mo­tors.

      Und die Musik. Anfangs war sie laut und störend gewesen, nervige Akkordeon- und Bläser-Klänge, aber jetzt spiel­ten sie eine schöne Ballade, gesun­gen von zwei Männern mit eindringlichen Stimmen. Piet kon­zentrierte sich auf die Stimmen und auf die sanften Gitarren­riffs. Es war ein Liebeslied, wohl an eine Frau namens Yo­landa, denn am Schluss sangen sie, sehr innig zwar, aber ohne jede Spur von Kitsch:

       Yolanda, Yolanda, eternamente Yolanda.

      Einen Moment lang dachte er an Silvia, und langsam beruhigte er sich.

      Vielleicht war das ja aber auch gar nicht der Fahrer! Vielleicht würde Acacio Piet irgendwohin bringen, wo die Wagen ge­tauscht und besagter Fahrer der Universität mit einem offiziellen Fahrzeug auf ihn wartete. Lober atmete durch und über­wand sich schließ­lich zu der Frage, wo sie denn den Fahrer der Universität treffen würden.

      Acacio runzel­te die Stirn. „Es gibt keinen Fahrer der Universität.“

      Wie?“ fragte Lober, „Professor Morales hat Sie…“

      Weiter kam er nicht. Acacio fixierte ihn durch die dunkle Sonnenbrille und schien die Luft ange­halten zu haben. Dann trat er mit einer solchen Wucht auf die Bremse, dass die Räder blo­ckierten, und der große Wagen zu schlingern be­gann. Lober schrie auf und klammerte sich am Sitz fest, die Augen weit aufgerissen, als das Fahrzeug auf den Straßenrand zu schleuderte. Steine wir­belten um den Wagen, der schließlich in einer Staub­wolke zum Stehen kam.

      Acacio riss sich die Sonnenbrille herun­ter, und sein Gesicht war voller Staub und rot vor Zorn. Dann zischte er Lo­ber an:

      „Raus!“

      Piet blieb sitzen, wie gelähmt. Mit blödem Blick starrte er die Person ihm gegenüber an, die ihn aus dunklen Au­gen anblitzte, schwer atmend und mit deutlich hervortreten­den blauen Adern am Hals. Piet hatte keinen Gedanken im Kopf, nicht mal Angst oder Wut, nur ein großes, schwarzes Loch.

      Acacios Stimme wurde lauter. „Raus!“

      Wie von einer fremden Hand ge­führt öffnete Lober die Wagentür und stieg aus. Seine Knie zit­terten noch vom Schock des Schleuderns. Er nahm seinen Blick nicht von Acacio, als bereite­te er sich darauf vor, den An­griff eines wilden Tieres zu parie­ren, und hielt sich am Türrahmen fest. Lang­sam wich der Schock, und Wut stieg in ihm hoch. Was pas­sierte denn jetzt?

      Aca­cio war ebenfalls ausgestiegen und hatte die Wagen­tür zuge­schlagen. Jetzt standen sie sich gegenüber, das Auto wie ein Boll­werk zwischen ih­nen.

      Allmählich fand Lober seine Fassung wie­der und krampfte seine Hände um den Türrahmen, als wolle er das Fahrzeug hochheben und auf den Mann ihm ge­genüber werfen. Du wirst mich jetzt nicht noch einmal runter­machen, du Habenichts, grollte er in sich hinein, ich bin hier der Gast, und ich bin der, der zahlt! Du kannst froh sein, dass ich mich auf das verlaus­te Polster deines Schrotthaufens hier ge­setzt habe! Ich gebe dir auch die Möglichkeit, mal was ande­res zu tun als fernzusehen und zu rauchen und heute Abend was anderes zu essen als Reis und Bohnen. Dann bleiben dir noch ein paar Tage mehr, bevor du endgültig vom Fleisch fällst, Hun­gerleider! Und jetzt sag was, sag was, du wirst schon sehen, was kommt!

      Als habe er die Aufforderung von Piets Augen abgelesen, ballte Acacio seine Faust und schrie:

      „Jetzt hör gut zu, Alemán! Wir brauchen dich hier nicht. Ich habe dich nicht gerufen. Ich habe zu Morales gesagt, ich brauche Medikamente. Damit nicht noch mehr Leute im Dorf ster­ben, brauche ich Medika­mente, und keinen Herrn im feinen Hemd, der mich zu seinem Dienstboten macht. Ich bin Wissenschaftler, wie du! Ich bin der Beste, den Morales hat, und du wirst hier mit mir arbeiten und das tun, was wir brauchen! Wenn du noch einen Ton sagst, dann kannst du nach Casillas laufen. Viel­leicht zeigt dir ja dein schickes Mobiltelefon, wo es langgeht, viel­leicht bricht dir in dieser Höhe auch der Kreislauf zusammen. Mir egal. Du bist hier nicht zuhause, entiendes?“

      Lober schluckte. Die Situation hatte eine Wendung genommen, mit der er nicht gerechnet hatte; er war schwer beeindruckt.„Ich habe Ihnen nichts getan, Señor Varela, und ich finde es scha­de, dass Sie so von mir denken.“

      Acacio blitzte ihn an; er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, runzelte dann aber nur die Stirn und knurrte: „Einsteigen.“

      Sie fuhren weiter.

      Piet kochte vor Wut. Gut, dieser Acacio war offensichtlich wohl weder ein Habe­nichts noch ein Tagelöhner, aber was bildete sich der Kerl ein? Wenn sie al­les selber in den Griff bekommen könnten, warum hatte Mora­les dann Himmel und Erde in Bewegung ge­setzt, da­mit er, Lo­ber, so schnell hatte herkommen können? Wie alt mochte der Kolumbianer sein? Höchstens fünf- oder sechsundzwan­zig. Was konn­te der schon?

      Aber woher kam dann sei­ne eigene ver­dammte Unsicherheit? Warum konnte er sich nicht wehren? Warum saß er hier wie ein Trottel, überfahren vom Stolz und der Selbstverständlichkeit dieses Jungen, dem es offen­sichtlich vollkommen gleichgültig war, wen er vor sich hatte? Dieser Kerl hatte ihn mit ein paar scharfen Wor­ten ins Hin­tertreffen gebracht! Und nicht nur das, er ließ es Piet auch deutlich spüren; es schien ihm geradezu kindliche Freude zu be­reiten, ihn zu de­mütigen! Warum ließ er so mit sich umspringen? Der kleine, schwarzmähnige Giftzwerg kannte ihn doch gar nicht! Er, Dr. Piet Lober, war gekommen, um seine kranken Landsleute zu retten, und der tat, als sei er ein Eindringling, ein gemeiner Schädling, der nur den Wilden zeigen wollte, dass die Europäer die Antwort auf ihre Fragen kennen.

      Die Straße schien kein Ende zu nehmen. Wie ein steinernes Band wand sie sich am Rand der Berge entlang, immer tiefer in den Regenwald. Mit jedem Meter wurde die Vegetation auf beiden Seiten dichter und unwirtlicher. Es war kaum noch möglich, einzelne Bäume zu erken­nen; nur ihre Kro­nen ragten hinaus, und unter ihnen wu­cherte der Dschungel, grün und mächtig. An den Bäumen hin­gen lange Luftwurzeln, an denen wieder neue Büsche wuchsen. Helles Mint­grün misch­te sich mit Khaki und Türkis, und überall spürte man die Feuchtigkeit, trotz der immer dünner werdenden Luft und obwohl die Son­ne noch hoch stand. Neben der Straße fiel der Berg steil ab, und wenn man in das Tal sah, so schien das ganze Land bedeckt von diesem Pelz aus Grün. Die große Stadt, aus der sie gekommen waren, war schon lange vom Grün ver­schluckt wor­den.

      Piet sah in die Landschaft. Sie wirkte auf ihn wie ein zu stark kolorierter Kinofilm aus den Fünfzigern, übertrieben, schwülstig und aufdringlich. Und dazu die Luft! Keine Abgase mehr, aber mit jedem Meter, den sich die Straße höher wand, schwand der Sauerstoff. Lober spürte seinen Puls, der immer schneller wurde, und er spürte auch die Atemnot, die grin­send in jede Faser seines Körpers kroch, als wolle sie ihn zu­sätzlich quälen, zusätzlich zum Straßenstaub, den quäkenden Tönen aus dem Kassettendeck und dem widerwärtig lässigen Latino-Ma­cho hinterm Lenkrad! Piet mus­terte Acacio aus dem Augenwin­kel mit größt­möglicher Gering­schätzung und überleg­te sich, ob es wohl schwer wäre, ihn mit einem Tritt aus dem Wagen zu befördern, in den dichten Schlund der ewigen grünen Jagdgründe. „Vergiss es, Lober,“ dachte er bitter, „er fährt.“

      Er war auf ihn angewiesen, das war ja das Kreuz! In dieser Wildnis war er verloren! Wahrscheinlich fuhren sie gerade durch Gue­rilla-Gebiet und waren nur noch nicht ange­griffen wor­den, weil dieser mickrige Bengel im Auto saß! Er, Dr. Piet Lo­ber, spielte in dieser Welt keine Rolle; schlimmer hätte es nicht kommen können!

      Was war mit den Medikamenten? Wo waren sie? Wurden sie richtig gelagert? Wer außer Acacio kannte sich aus vor Ort? Waren die Medikamente überhaupt in Casillas del Bosque angekommen? Morales hatte den Eingang in Medellín bestätigt und versichert, dass sie umgehend mit einem Kühlfahrzeug ins Hochland gebracht und dort in der lokalen Krankenstation bereitgestellt würden.

      „Lokale Krankenstation,“ dachte Lober, „wie das schon klingt! Wir haben es hier mit einer Epidemie zu tun, von der niemand weiß, welches Ausmaß sie noch haben