Brigitte Brandl

Malverde


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gegessen würde, und der hatte nur grinsend geantwortet: „Reis und Bohnen.“

      Jetzt waren sie wohl im Zentrum von Casillas angekommen, denn vor ihnen tat sich ein weiter Platz auf, vor einer großen, weißen Kirche mit dem typi­sch geschwungenen Dachfirst und einer weithin sichtbaren schwarzen Glocke. Die Kirche warf einen langen Schatten, und ihre Erhabenheit flößte dem Platz und den Häusern einen solchen Respekt ein, dass sie sich in Schweigen hüllten. Piet erinnerte sich an eine Western­kulisse und schmunzelte. Er sah sich um und überleg­te, welches der Häuser wohl das Rathaus mit dem dringend benötigten Schatz darin sei, aber die Häuser unterschieden sich nur in der Farbe ihres Verputzes und nicht in ihrer Größe. Keines der Häuser erschien ihm eines Rathauses würdig. Er sah auch nir­gendwo eine Fahne auf dem Dach, ein Stadtwap­pen oder sonst irgendein offizielles Zeichen. Das einzige Schild, das er sah, hing über dem Eingang eines hellbraunen Ziegelbaus und trug die Aufschrift Cantina; unweigerlich meldete sich sein Hunger wieder.

      Die wenigen Leute, die noch auf dem Platz waren, blieben stehen und sahen neu­gierig dem Wagen nach. Acacio winkte her­aus, grüßte lachend, und Piet nickte verlegen mit dem Kopf. Wussten sie, wer er war? Oder hielten sie ihn für einen Touristen, der, wie Acacio erzählt hatte, mit seinem Mietwagen eine Panne gehabt hatte und nun in Casillas Notunterkunft nehmen sollte? Was für eine Vorstellung!

      Der Kolumbianer stoppte den Wagen vor dem kleinen Hotel bei der Kirche, sprang heraus und öffnete den Kofferraum.

      „Es ist alles vorbereitet für dich.“ Er deutete auf das Hotel. „ Ich hole dich morgen früh um acht Uhr ab. Es ist wichtig, früh anzufangen, bevor die Sonne zu stark wird. Wir haben hier ein massives Ozonproblem. Buenas noches.“ Eine flüchtige Handbewegung, ein Grinsen, dann drehte er sich um und ging.

      Piet konnte so schnell nicht antworten. Was sollte er auch sagen? „Danke, dass du mich jetzt doch bis nach Ca­sillas gefahren hast? Danke, dass ich morgen einen Sonnen­brand und in zehn Jahren Hautkrebs ha­ben werde? Wo bekomme ich jetzt hier noch etwas zu essen? Herrgott, was solls!“ Er schlug den Kof­ferraum zu und schleppte sein Gepäck zum Hotel.

      Das Zimmer war hell und freundlich, an den tapetenlosen Wänden hingen braun-beige-rot gemusterte Wandteppiche, und der Ziegelfußboden verströmte ein warmes, gemüt­liches Licht. Auf dem riesigen Bett lag eine Wollde­cke, die sich bei nähe­rem Hin­sehen als zwei zusammengenähte Ponchos entpuppte. Von einem Fenster aus konnte man auf den Marktplatz sehen, das ande­re zeig­te auf einen großen, verwilderten Garten mit blü­henden Büschen und wilden Rosen dazwischen. Erneut kam Piet sich vor wie im Kino; als käme als nächstes der Revolver­held mit dem unver­meidlichen blauen Poncho um die Ecke.

      Er ließ das Gepäck fallen und setzte sich aufs Bett; es war hart wie ein Brett. Prima, dachte er, wie hätte es auch anders sein sollen?

      Aber - das Telefon! Da stand es! Seine Verbindung zur zivilisierten Welt! Piet sah auf die Uhr. Henning ging nie vor eins ins Bett; er würde ihn noch er­reichen.

      Er nahm den Hörer ab und überlegte sich, wann er zuletzt mit einem Apparat mit Wähl­scheibe telefoniert hatte. Das Signal ertönte, die Nummer war frei. Henning meldete sich verschlafen.

      „Wie,“ fragte Piet, „du warst schon im Bett?“

      „Hallo? Wer ist denn da?“

      „Ich bins, Dicker, Piet. Ich bin in Casillas.“

      „Hallo, Urwalddoktor! Schön zu hören, dass Du noch lebst.“

      „Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher!“ Piet musste auf einmal lachen. „Ich weiß auch noch nicht, in welchem Film ich hier bin.“

      „Warum?“ Henning schien auf einmal hellwach.

      „Naja,“ sagte Lober, „mein Zimmer hat Ähnlichkeit mit einer Pfadfinderherberge, und der Ort sieht aus wie bei Sergio Leo­ne. Aber das Schlimmste ist mein Mitfahrer – ein Prachtexem­plar von Latino-Macho, ist wegen jedem Driet sofort beleidigt und kann vor Stolz kaum geradeaus laufen. Wahrscheinlich deckt er sich auch noch nachts mit der kolumbianischen Fahne zu; sein Auto hat er jedenfalls gelb-blau-rot lackiert.“

      „Und wer ist das?“

      „Wohl ein Mitarbeiter von Morales. Was heutzutage nicht alles einen Abschluss bekommt!“

      „Langsam, Piet,“ mahnte Henning, „spiel nicht gleich den Chef, ja? Das mögen die bestimmt nicht!“

      „Bingo! Und mit meinem Begleiter habe ich das ganz große Los gezogen!“

      Henning kicherte. „Dicker, al­les, was nicht tötet, härtet ab! Denk dran, es war dei­ne Idee! Und du kriegst das auch auf die Reihe, das weiß ich! Ruf mich an, wenn es brennt. Gute Nacht.“

      Piet war todmüde, aber der Hunger war stärker, und so beschloss er, noch rasch die Cantina zu besuchen. Er ging zum Waschbecken, um sich den Staub und den Schweiß aus dem Gesicht zu waschen, und er war erstaunt, als das Wasser kühl und sauber über seine Hände lief. Neben dem Waschbecken hing ein sauberes Handtuch, und es gab sogar ein Glas für die Zahnbürste. Piet betrachtete sich im Spiegel und wiederholte langsam Hennings Worte: „Du kriegst das auf die Reihe.“

      Bereits auf dem Platz hörte er Stimmen aus der Cantina, doch beim Eintreten stellte er erstaunt fest, dass die Gaststube leer war, und dass die Stimmen aus dem Fernseher kamen, der in einer Ecke hing. Hocker ohne Lehnen standen in der Cantina um runde Tische, nur an der Wand gab es eine lange Tafel mit Bänken. An den Wänden hingen Wandteppiche wie in seinem Hotelzimmer und über dem Tresen ein großes Foto der kolumbianischen Fußball-Nationalmannschaft, das, wie Piet der Un­terschrift entnehmen konnte, aufgenom­men worden war, nachdem die Kolumbianer Argentinien, das große Argentinien, aus der Copa América geworfen hatten. Hinter dem Tre­sen hingen Flaschen mit Hochprozentigem, anschei­nend hauptsächlich lokale Produkte, denn außer einem Osbor­ne Veterano kannte Piet keine der Marken. Eine wuchtige, alte Kaffeemaschine thronte inmitten von Tassen aus glasiertem Steingut, den dazugehörenden Untertellern und den Gläsern, auf bunte Tü­cher gestülpt: al­les sehr sau­ber und aufgeräumt. Knabbereien, Süßig­keiten und die langen Gebäckstangen, wie sie wohl in Knei­pen in jedem Winkel der Welt zu finden sind, waren in ei­nem Holzgestell an der Wand gestapelt. Daneben hing ein mit Palmzweigen und bunten Bän­dern ge­schmücktes Bild der Jungfrau Maria, hinter das einige handbe­schriebene Zettel ge­schoben worden waren, als hätten sich die hiesigen Zecher bei der Madonna bedankt, da diese wohl noch größeren Schaden durch Alkohol von ihnen abge­wendet hatte. Neben dem Tresen führte ein mit einem Perlen­vorhang ver­deckter Eingang in die Küche, aus der es deli­kat duftete.

      Piet wollte sich gerade setzen, da entdeckte er ein Regal mit Schachbrettern und mit Namen beschrifteten Schachteln, wohl mit den Figuren dar­in. Er war beeindruckt; noch nie hatte er so viele Schachbret­ter auf einmal gesehen, und er hatte dies als letztes erwartet in der Kneipe eines kolumbianischen Hochlandstädtchens, das vermutlich erst seit kurzem elektrischen Strom hatte. Gerade wollte er eine der Schachteln näher betrachten, als ihn eine Stimme freundlich begrüßte.

      Piet drehte sich um und sah eine grazile Frau in den Fünfzigern mit einem herben, sehr schönen Gesicht und zusammengebundenem, schwarzem Haar.

      „Möchten Sie essen?“

      Piet konnte, irritiert von der eleganten Ausstrahlung der einfach gekleideten Frau, nur mit dem Kopf nicken.

      „Bitte setzen Sie sich.“ Die Frau legte ein Kissen auf den Hocker. Lober brachte noch immer keinen Ton heraus.

      „Der Eintopf ist vorzüglich heute! Etwas Brot dazu?“

      „Gerne,“ antwortete Piet hastig, „und ein Bier, bitte.“

      Die Frau lä­chelte ihn an. „Sind Sie aus Deutschland?“

      Piet blieb der Mund offen, und er är­gerte sich, dass er offen­bar doch mit sehr starkem Akzent zu sprechen schien.

      „Ja,