Brigitte Brandl

Malverde


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Angestellten auffallen, weil ein solches Paket vorher noch nie in der Station angeliefert worden war, und viel­leicht würde das Paket dann ja seine nächste La­gerstätte im Büro des Stationsleiters finden - da, wo alles hin­kam, wo­für man nicht unmittelbar Verwendung hatte. Auch dann wüsste wohl immer noch niemand, was damit anzu­fangen war, weil das Fax, mit dem Morales die Sendung ange­kündigt hatte, seit Tagen mangels Papier im Ge­rät wartete. So würde der brave Stationsleiter die Sendung dann als Irrläufer vom nächsten Boten zurück nach Medellín bringen lassen. Piet schauderte bei dem Gedanken. Das Medikament, das sein Insti­tut zur Verfügung gestellt hatte, war hochwirksam, vorausge­setzt, es wurde richtig gelagert und angewandt. Und nicht von einem, der aussah wie ein Mitarbeiter der Putzkolon­ne, und der wohl auf die gleiche Art und Weise zu seinem medi­zinischen Abschluss gekommen war wie zu seinem Führer­schein. Er habe Medikamente angefor­dert und keinen Arzt! Was hatte Acacio denn erwartet? Dass sie ein Paket bekämen mit der Aufschrift Dreimal täglich 1 Kapsel? Piet lachte verächtlich in sich hinein. Junge, Junge, was hast du denn studiert?

      Seit sieben Jahren arbeitete das Institut für Tropenkrankheiten nun schon mit der Universität Medellín zusammen. Die Ergebnisse waren immer aufschlussreich und zufriedenstel­lend ge­wesen, denn der Regenwald mit seiner nirgendwo sonst auf der Welt so reichhaltigen Flora und Fauna bot einen idealen Nähr­boden für alle möglichen Erreger. Das feuchte Klima und die gleichbleibende Umgebung durch die fehlenden jahres­zeitlichen Schwankungen hier in Äquatornähe sicherten den Virologen, Bakteriologen und Immunologen im Institut ein nicht enden wollendes Patientengut, obwohl die Umstände, un­ter denen hier gearbeitet wurde, alles andere als förderlich wa­ren. Hier im Dschungel Kolumbiens, in dem die abgelegenen Dörfer nur durch Tram­pelpfade zu erreichen waren, breiteten sich Krankheiten rasch und außerhalb der betroffenen Ansied­lungen unbemerkt aus. Hilfe kam meist erst dann, wenn es zu spät war. Ausge­dehnte Sumpfgebiete erschwerten die Hilfeleis­tung, zusätzlich zu den Banden der lokalen Drogenfürsten, de­nen nicht viel daran gele­gen war, Fremde auf ihrem Territorium zu wissen. Und für die paar Kuriere, die ihnen wegstarben, gab es leicht Ersatz. Offizi­ellen Angaben zufolge kämpften die Behörden des Lan­des intensiv gegen den Drogenschmuggel, aber es war dann doch erstaunlich, wie wenig sich im Laufe der sie­ben Jahre ge­ändert hatte. Auch Professor Morales hatte dem Institut versichert, dass die Regierung in dieser Region hart durchge­griffen und große Erfolge erzielt hätte. Aber das ganze Institut wusste, dass der verzweifelte Mann nur versuchen wollte, seine armen Landsleute zu retten in dieser grünen Hölle, die selbst von den Einheimischen „Malverde“ - Unkraut – genannt wurde. Zur Zusammenarbeit zwischen Morales und dem Insti­tut war es nach dem Gastaufenthalt des Kolumbianers in Ham­burg gekommen. Jedes Jahr besuchte nun eine Gruppe des In­stituts die Uni­versität Medellín und einige Forschungsstationen im Regenwald - alles Trabanten der großen Wissenschaft in einer Welt, die den Deutschen fremd blieb. Sie verbrachten die Tage und Nächte unter sich in der Unwirtlichkeit des Dschungels, ohne je­mals mit der Bevölkerung in Kontakt gekommen zu sein. Die Proben wurden von Bo­ten gebracht, die Untersuchungsergeb­nisse genauso wieder abtrans­portiert und die Mediziner und Naturwissenschaftler ar­beiteten, schliefen und aßen in ihren Stationen. Wenn das Projekt ab­geschlossen war, überließen sie den einhei­mischen Kollegen wieder die Szene. Eine Publikation in einem an­gesehenen Fach­blatt – das war alles. Nicht einmal die Zahl der To­desfälle wurde er­wähnt. Aber das neue Medikament ging bald in die klinische Prüfung.

      Eines Tages war der Hilferuf von Morales gekommen. In einem Indio-Dorf im Hochland hatten schwere In­fektionen zu Todesfällen unter Alten und Kleinkindern geführt. Die Aufzeichnun­gen dokumentierten das gleiche Krankheitsbild, mit dem sich Piets Arbeitsgruppe beschäftigt hatte, und Lober hatte seinem Mentor versichert, dass die Medikamente vor Ort erfolgreich einsetzbar seien. Doch dieser beharrte auf dem Standpunkt, dass „die da unten das viel besser alleine können.“ Aber Lober hatte nicht locker gelassen. Nach langen Telefonaten mit Mora­les war schließlich auch der Mentor einverstanden gewesen, freilich nicht ohne Piet vorher die Bestäti­gung abzurin­gen, dass er die Reise auf eigene Gefahr unter­nahm.

      Lober ließ die Medikamente verschicken und das Institut erhielt kurz darauf eine Nachricht mit der Bitte um einen weiteren Wirkstoff, der an einem anderen Ort von Nutzen wäre; auch diese Sendung verließ Hamburg.

      Aber hatten die Medikamente auch wirklich Medellín verlassen? In ei­nem Kühlfahrzeug, wie von Morales zugesichert? Kol­legen, die schon einmal dort gewesen waren, hatten von wah­ren Horrors­zenarien berichtet, die sich beim Transport von Ge­räten und Medikamenten zugetragen hatten: Fahr­zeuge ohne oder mit nur unzureichender Kühlung, Fahrer, die keine Ahnung hatten, wo die Station war, und die nicht einsahen, warum et­was so wichtig sein konnte, dass man von ei­nem ausgedehnten Plausch mit dem Compadre und eini­gen Runden Kautabak und einem Nickerchen hätte Ab­stand nehmen sollen!

      Warum fragst Du nicht einfach das Großmaul neben dir, über­legte Lober. Aber was würde der schon wissen? Der war doch bestenfalls mal beim Fiebermessen dabei! Wenn schon sein Professor einfach eine zusätzliche Sendung Medikamente be­stellt hatte, die vielleicht irgendwo einzusetzen waren!

      Piet atmete tief ein. „Wissen Sie, ob die Medikamente da sind?“

      „Sie sind da,“ antwortete Acacio, ganz ruhig, ohne Piet anzusehen. „Sie lagern im Rathaus. Das ist der einzige Ort, an dem fast nie der Strom ausfällt.“

      „Wie bitte?“

      „Mach dir keine Sorgen,“ versicherte Acacio, „alles ist in Ordnung. Beide Sendungen sind da, unversehrt und sachgemäß ge­lagert. Wir können sofort anfangen.“ Er sah zu Piet rüber und grinste. „Stimmt wirk­lich, Alemán.“

      Lober starrte auf den langen Kühler des Wagens. Warum auf einmal so freundlich, warum nicht wieder eine Szene? Aber er war erleichtert darüber, dass der Kolumbianer nicht wieder die Beherrschung verloren hat­te, als hätte er Piets ab­fällige Gedanken die ganze Zeit über le­sen können. Lober leg­te keinen Wert darauf, hier endgültig aus dem Auto geworfen zu werden. Wo­möglich wa­ren sie noch meilenweit von der nächsten Siedlung ent­fernt, und sicher lebten hier ohnehin nur noch Guerilleros, Drogenschmuggler oder Indios, die womög­lich nicht einmal Spanisch sprachen. Immerhin schien es in Ca­sillas ein Rathaus zu geben!

      Piet lehnte sich zurück. Na, Freundchen, dachte er, dann wollen wir mal sehen, was du unter Unver­sehrtheit und bester Lagerung verstehst! „Wie lange fahren wir noch?“

      „Noch eine halbe Stunde. Du wohnst in dem Hotel direkt bei der Kirche; das hat den Nachteil, dass du die Glocken hörst, aber den Vorteil, dass die Zimmer dort Telefon haben.“

      Wie würde wohl Acacio auf seine Arbeit hier reagieren? Glaubte er im Ernst, ihm, Piet, sagen zu müssen, was zu tun sei? Wer hatte den Wirkstoff definiert? Wer hatte denn die Arbeiten im Vorfeld gemacht und er­folgreich publiziert? Piet Lober! Das würde Señor Varela wohl einse­hen müssen! Aber was, wenn er wieder einen seiner Wutanfälle bekäme? Nein, das wür­de er nicht wagen vor seinen Leuten, die nur eins wollten: dass sie und ihre Angehörigen bald wieder gesund waren. Aca­cio würde ganz schnell merken, dass er wenig ausrichten konn­te! Lober spürte Genugtuung aufsteigen. Tut mir ja leid für dich, mein Junge!

      Die ersten Häuser der Stadt tauchten hinter der nächsten Kurve auf. Erst verlassene Gebäude ohne Fenster, dafür mit umso mehr Graffiti an den Wänden, Parolen gegen die Regierung und gegen den Bürgerkrieg, das Konterfei von Che Guevara „hasta la victoria siempre“, dann bewohnte Häuser, ein- oder zweistöckig, eng aneinander gebaut, bunt ver­putzt und mit ebenso bunten Fensterläden und flach abfallenden Dächern. Im Licht der unter­gehenden Sonne wirkten sie malerisch und fröh­lich wie eine überdimensionale Puppenstube. Es dufte­te nach Abendessen. Die Straßen wa­ren menschenleer, und Piet stellte sich vor, wie sie jetzt in den Häusern alle um einen großen Tisch herum saßen und auf die vollen Schüsseln warteten. Er spürte den Hunger auf­steigen, und zu gerne hätte er Acacio gefragt, was es denn hier norma­lerweise zu essen gäbe, mal abgesehen von Reis und Bohnen, denn Reis und Bohnen können gar nicht so köstlich duften. Er erinnerte sich an die Fajitas, die sie in New York gegessen hatten, knuspriges, geschnetzel­tes