an. Sie freute sich auf ihre Enkelin, die sich zum Kaffee angemeldet hatte. Nach dem plötzlichen Tod von Jana waren alle in ein tiefes Loch gefallen. Mechthild hatte genug vom Tod. Sie erinnerte sich schmerzlich an das Ableben ihrer Eltern und ihres Mannes. Aber ein Kind zu verlieren, sei es nun die Tochter, oder auch Enkelin, war noch einmal ganz etwas anderes. Es war nicht der natürliche Lauf der Dinge. Gerne hätte sie ihr fast verbrauchtes Leben für Jana gegeben, aber der Herrgott ließ sich auf solch einen Handel nicht ein. Mechthild war ein sehr gläubiger Mensch. Ohne zu Murren nahm sie die Dinge hin, wie sie auch kamen. Aber an dieser letzten Prüfung hatte sie schwer zu tragen und so ging sie fast täglich in den Dom und betete für das Seelenheil ihrer verunglückten Enkelin.
Das Schrillen der Haustür ließ sie in ihren Vorbereitungen innehalten. Sie verließ die Küche, durchschritt den schmalen Flur und öffnete Sophie die Tür. Ein herzliches Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht und noch im Türrahmen stehend umarmte sie ihre Enkelin.
»Sophie, das ist schön, dass du da bist.«
»Ja, es tut gut hier zu sein.«
Mechthild ließ Sophie eintreten. »Setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer ich komme gleich mit dem Kaffee.«
»Aber ich kann dir doch helfen.« Sophie folgte ihrer Großmutter in die Küche und so trugen beide Kaffee und Kuchen auf. Dann machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich. Sophie genoss die seltenen Zusammenkünfte mit ihrer Großmutter sehr. Sie waren für sie wie der Fels in der Brandung. Ein Bollwerk von Beständigkeit in einer Zeit in der jegliches auf der Flucht zu sein schien. Hier konnte sich Sophie erholen und wenn sie wollte auch immer noch Kind sein.
»Wie geht es dir, was macht das Studium?«
»Dem Studium geht es gut und mir auch. Wenn alles so läuft wie ich es mir vorstelle, werde ich nächstes Jahr fertig.«
»Das ist doch toll.«
»Ja.«
Mechthild sah ihre Enkelin an. Sie spürte dass Sophie etwas bedrückte. »Was ist los?«
»Was meinst du?«
»Mach mir nichts vor.«
Sophie musste unwillkürlich lächeln, auch wenn es von Bitterkeit zeugte. »Wie konnte ich nur glauben irgendetwas vor dir zu verheimlichen?«
»Das frage ich mich auch gerade«, sagte ihre Großmutter in gespielt vorwurfsvollem Ton.
»Weißt du«, begann Sophie etwas zögerlich. »Irgendwie läuft alles aus dem Ruder. Erst der unbegreifliche Tod von Jana...« Sophie stiegen Tränen in die Augen. »...und nun erzählt uns mein Vater, dass er höchstwahrscheinlich die Firma verliert und wir eventuell unser Heim.«
Mechthild stockte der Atem. Die Geldnöte der Firma waren für sie nicht ganz neu, doch dass es so ernst war wusste sie nicht. Sie legte ihre Hand auf Sophies Arm, um sie zu beruhigen. »Es gibt wichtigeres als Geld«, sagte sie sanft.
Sophie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah sie erstaunt an. »Das Geld ist mir doch so was von egal. Aber diese Firma bedeutet meinem Vater so immens viel und auch unser Haus, dass er selbst gebaut hat. Dazu kommt dass Mutter sich hintergangen fühlt und deshalb leidet, was man ihr nicht verdenken kann. Und so geht alles den Bach runter. Wie müssen sie sich nur dabei fühlen? Gerade jetzt.«
»Ja«, sagte ihre Großmutter knapp. Sie wusste dass ihr Sohn ein sehr verantwortungsbewusster Mensch war. Und wie es aussah stand er nun vor einem Scherbenhaufen und musste seiner Familie und seinen Mitarbeitern erklären, dass es nicht so weiter ging wie bisher. Dazu kam, dass er den Tod von Jana noch nicht verkraftet hatte, wie keiner von ihnen. »Es tut mir so leid«, fügte sie hinzu und sie spürte wie ihr die Sorge die in ihr aufstieg die Kehle zuschnürte.
»Warum nur?«, fragte Sophie. »Kannst du mir sagen warum? Was hat unsere Familie verbrochen?«
»Nichts, Sophie. Allerdings hilft uns Selbstmitleid hier nicht weiter.« Mechthild versuchte den Druck in der Kehle los zu werden. All zu oft in ihrem Leben hatte sie Schicksalsschläge hinnehmen müssen, immer wieder war sie aufgestanden und hatte gekämpft. Dieses mal würde es nicht anders sein.
Sophie sah ihre Großmutter an. »Du hast recht. Aber es ist verdammt schwer.«
»Keiner sagt, dass es einfach ist nicht aufzugeben. Aber haben wir eine Wahl, wenn wir nicht untergehen wollen?«
»Nein.«
Schweigen.
Mechthild dachte nach, stand plötzlich auf und ging zu ihrer Kommode aus der sie ein altes Fotoalbum nahm.
»Tut mir leid Oma, aber mir ist jetzt nicht nach irgendwelchen Erinnerungen aus der guten alten Zeit zumute.« Sophie unterstrich ihre Ablehnung mit einer abwehrenden Handbewegung.
Mechthild ignorierte das Gesagte, nahm direkt neben Sophie platz und begann in dem Album zu blättern. »Seit einem knappen Jahr geht es der Firma deines Vater schon sehr schlecht, sodass wir damals schon dachten, dass früher oder später die Insolvenz unvermeidlich sei.«
Sophie sah sie erstaunt an. »Das höre ich zum ersten mal.«
»Dein Vater wollte nicht, dass ihr Kinder was davon erfahrt. Ihr solltet euch keine Sorgen machen. Auch ich erfuhr nur durch Zufall davon.«
»Was war passiert?«
»Nun ich schätze, das Gleiche wie heute auch. Eine schlechte Auftragslage? Auf jeden Fall war die Sache ernst. Dein Vater brauchte unbedingt Liquidität. Sprich viel Geld, um die Firma zu retten.« Mechthild hörte mit dem Blättern in dem Fotoalbum auf und sah Sophie an. »Da kam mir eine Idee, wie ich ihm vielleicht helfen könnte, doch ich brauchte Jana dazu.«
Sophie sah ihre Großmutter überrascht an. Bis zu dem Geständnis ihres Vaters hatte sie geglaubt über die Vorgänge, die die Familie betrafen, bestens informiert zu sein. Aber jetzt musste sie feststellen, dass dem ganz und gar nicht so war. »Was meinst du damit?«
Sophies Großmutter nahm ein altes Foto aus dem Album heraus. »Dies hier«, sagte sie fast ehrfürchtig«, ist eine Fotografie von meinem Vater Anton Abel, als Soldat im ersten Weltkrieg.
Das Foto zeigte einen stolzen Mann in Soldatenuniform, abgebildet vor einem inszenierten Hintergrund in einem Fotoatelier. Die Szenerie wirkte irgendwie grotesk. Schräg hinter Sophies Urgroßvater war eine kleine Schultafel aufgestellt auf der das Wort Oberstein mit Kreide geschrieben war. Ihr Urgroßvater hatte in der einen Hand ein Kirchenmodell und in der anderen einen faustgroßen Stein. Diese Gegenstände präsentierte er bewusst der Kamera.
In all den Jahren die sie als Kind bei ihrer Familie verbracht hatte, wo kein Schrank, kein Gegenstand vor ihr sicher war, hatte sie dieses Foto dennoch nie gesehen.
»Was hat das mit Jana und unserem Vater zu tun?«
Ihre Großmutter legte das Foto zurück ins Album. Dann sprach sie leise: »Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam war er ein sehr schweigsamer Mann geworden. Das Leid, der Hunger und der Tod, den er dort kennen gelernt hatte, hatten ihn verändert. So hat es mir zumindest meine Mutter erzählt.«
Mechthild sah auf ein anderes Foto der aufgeschlagenen Seite des Albums, das ihre Mutter zeigte. Dann blickte sie wieder auf das Soldatenfoto. »Ich hatte zu meinem Vater nicht das beste Verhältnis. Allzu sehr hatte er sich einen Erben gewünscht. Aber das blieb ihm verwehrt. Ich war sein einziges Kind. Nach meiner Geburt konnte meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. Diesen Umstand ließ er sie und mich spüren. Mein Vater war ein verbitterter, alternder Mann geworden und die Große Depression und später die Nazis trugen ihres dazu bei.«
Mechthilds Augen füllten sich mit Tränen. »Weißt du«, sagte sie zu ihrer Enkelin, »er war kein schlechter Mensch, aber dieser Krieg hatte ihn nun mal verändert und er wusste das auch. Letztendlich hat ihn wohl diese Verbitterung gegenüber dem Schlechten in der Welt auch sterben lassen.«
Sophie sah ihre Großmutter verlegen an. So hatte sie sie noch nie erlebt.
Mechthild wischte sich eine herablaufende Träne von der Wange.