Johannes Michels

Bücklers Vermächtnis


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als sie die Treppe hinauf stieg. Von weitem schon hörte sie die Stimme ihres Vaters.

      »...und was heißt das jetzt?... Also mit anderen Worten, sie sind nicht bereit den Kredit aufzustocken... Ersparen sie mir ihre rhetorischen Ausschweifungen und sagen sie mir klipp und klar wie es weiter gehen soll!... Das ist doch wohl nicht ihr Ernst?... und das ist ihr letztes Wort?... Na, dann vielen Dank für gar nichts.«

      Der Hörer flog scheppernd auf die Gabel.

      Sophie sah ihren Vater gedankenversunken auf das Telefon starren, wohl noch geistig verbunden mit dem eben geführten Gespräch. Sie sah deutlich die Sorge die sich in dem Gesicht ihres Vaters widerspiegelte.

      »Hallo, Papa.«, brachte sie etwas verlegen hervor.

      Thomas Haller, aus den Gedanken gerissen, sah etwas erschrocken auf. »Was machst du denn hier?«

      »Hast du das schon vergessen. Es sind Semesterferien.«

      Er rieb sich nachdenklich die Stirn, bevor er sich wieder fasste und ein zögerliches Lächeln aufsetzte. »Ja, natürlich.«

      »Ist was passiert?« Sophies Blick deutete auf das Telefon.

      »Nein, alles in Ordnung.«

      Sophie glaubte ihm nicht. Sie kannte ihren Vater nur allzu gut. Aber sie wusste auch, dass es jetzt keinen Sinn machte hier nachzuhaken.

      »Aber erzähl, was macht das Studium. Platzt dir noch nicht der Kopf von all dem Lernstoff.«

      Sophie setzte sich auf den mit grünem Samt bezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch.

      »Nein, es läuft alles sehr gut.«

      Sie erzählte ihm nicht, dass sie seit Janas Tod in einem tiefen emotionalen Loch steckte aus dem sie jetzt verzweifelt versuchte hinauszuklettern. Nach der furchtbaren Tragödie hätte sie das Studium fast geschmissen. Aber irgendwann wurde ihr bewusst, dass Aufgeben keinem genutzt hätte.

      Mittlerweile hatte sie sich zumindest soweit im Griff, dass das Studium wieder seinen gewohnten Gang nahm. Warum also noch darüber reden?

      »Wenn alles so weiter läuft, werde ich, wie geplant, nächstes Jahr abschließen.«

      »Das freut mich sehr, Sophie.« Der Stolz in Thomas´ Stimme war nicht zu überhören.

      Sie war ihrem Vater mehr als dankbar. Er hatte ihr nie Druck gemacht, oder Vorschriften darüber, was sie studieren solle. Romanische Philologie war nicht gerade der Renner auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Da gab es lukrativere Studienfächer. Dennoch gab es deshalb keine Diskussionen. Natürlich hatten sie sich darüber unterhalten, welches Studium in Frage kam, wie die wirtschaftliche Lage aussah, was ihre Vorlieben waren. Aber in irgendeine Studienrichtung hatte sie ihr Vater nie gedrängt. Davon abgesehen hatte sie auch konkrete Vorstellungen wie es nach dem Studium weitergehen sollte. Sie wollte in einem ausländischen Verlagshaus als Lektorin arbeiten und hatte bereits erste Kontakte geknüpft. In drei Tagen würde sie ein zweiwöchiges Praktikum beim Reno-Verlag in Straßburg absolvieren.

      »Ja,« sagte Sophie, »es läuft alles wie geschmiert.« Dann stemmte sie sich aus dem Stuhl und ließ ihren Vater in Ruhe weiterarbeiten.

      Auf dem Weg nach unten kam sie an Janas früherem Zimmer vorbei. Sophie blieb abrupt stehen. Ein leises Gefühl von Sehnsucht beschlich sie. Jana fehlte ihr sehr. Sie spürte wie dieses Gefühl immer mehr zunahm und sie setzte sich wie von selbst in Bewegung, öffnete die Zimmertür und trat ein in Janas früheres Reich. Ihr kam es merkwürdig vor so das Zimmer von Jana zu betreten. Es schien ihr eine Verletzung der Privatsphäre ihrer Schwester zu sein. Aber gleichzeitig spürte sie auch eine Art Vertrautheit die ihre Sehnsucht nach der Schwester noch stärker werden ließ. Sophie streifte durch das Zimmer und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Sie sah auf die Bücher in den Regalen, auf all die kleinen Dinge, die mit so vielen gemeinsamen Erinnerungen erfüllt waren. Sie nahm ein altes, verschlissenes Stoffpony vom Regal und lächelte wehmütig. Die Berührung des Stoffs verstärkte die Erinnerungen. Behutsam stellte sie es wieder beiseite und ging zum Kleiderschrank ihrer Schwester. Als sie ihn öffnete und ein Kleidungsstück hervorzog, zeugte dies noch deutlich vom Duft ihrer Schwester, und Sophie glaubte fast, dass Jana nicht tot sein konnte, sondern jeden Moment im Türrahmen stehen müsste.

      Ein eisernes Band legte sich um ihren Brustkorb und zog sich langsam zu. Sophie atmete tief ein, um dem entgegenzuwirken, dann legte sie das Kleidungsstück zurück und schloss die Schranktür.

      Es war schmerzlich hier zu stehen, zwischen all den Erinnerungen. Aber irgendetwas in ihr zwang sie dazu, dies zu durchleben. Dann sah sie das zwei Jahre alte Foto auf Janas Schreibtisch. Es zeigte die zwei Schwestern wie sie Arm in Arm glücklich in die Kamera lächelten. Sophie nahm es in die Hand, setzte sich auf Janas Bett und betrachtete es mit einem traurigen Lächeln. Dann sah sie wie Tropfen auf das Glas fielen. Erst dadurch wurde ihr bewusst, dass sie weinte. Jana, dachte sie. Es schien nicht möglich, dass sie tot war. Jana war immer so stark gewesen, voller Hoffnung und spürbarer Lebensfreude. Sie war stets das große Vorbild ihrer kleinen Schwester gewesen. Jana hatte immer das erreicht was sie wollte, sie hatte nie aufgegeben, bis sie an ihrem Ziel angelangt war. Und plötzlich musste Sophie lächeln. Sie erinnerte sich an ein Ereignis, dass vierzehn Jahre zurück lag. Es war nichts spektakuläres, aber es zeugte einfach von dem Willen und der Beharrlichkeit ihrer großen Schwester. Ihr Nachbar war ein passionierter Jäger, der einen Rauhaardackel namens Wotan besaß. Sophie musste schmunzeln als sie nun an den Namen des Hundes dachte. So ein großer Name für so einen kleinen Hund. Aber mit diesem Hund gingen Jana und Sophie öfter spazieren. Es war ein kleines quietschfideles Kerlchen, was neugierig jeden Stein beschnuppern musste und ungeheuer an der Leine zerren konnte.

      Als sie wieder einmal bei dem Nachbarn vorbei sahen, um mit Wotan spazieren zu gehen, empfing sie ein verzweifelter Jäger, der ihnen erzählte, dass der Dackel seit letzter Nacht verschwunden sei. Er hatte ihn noch Abends auf sein umzäuntes Grundstück gelassen, damit der Dackel seinem Bedürfnis nachkommen konnte, aber als er später nach ihm sah war er verschwunden. Es stellte sich heraus, dass sich ein Loch im Zaun befand, durch das er wohl geschlüpft war. Der Nachbar hatte bereits überall nach dem Hund gesucht, aber leider ohne Erfolg. Auch Jana und Sophie gingen ihrerseits auf die Suche nach Wotan. Sie streiften den ganzen Tag durch das Wohngebiet und durch den angrenzenden Wald, aber auch ihre Suche blieb ohne Erfolg. Müde und enttäuscht kamen sie nach Hause. Sophie konnte nicht mehr, aber Jana wollte nicht aufgeben. Sie ignorierte das Verbot der Eltern, nach dem Abendessen das Haus zu verlassen, schlich sich raus und suchte den Dackel auf eigene Faust. Sie fand ihn schließlich in einem verlassenen Fuchsbau in der Nähe des Bismarckturmes. Sein Winseln war ihr aufgefallen und sie begann ihn mit bloßen Händen auszugraben.

      Sophie erinnerte sich wie Jana mit Wotan auf dem Arm total verdreckt im Flur stand und die Eltern schockiert von der Expedition ihrer älteren Tochter zuerst einmal sprachlos waren. Trotz der deutlichen Rüge die dann folgte, sah man dass Jana glücklich war den kleinen erschöpften Dackel gerettet zu haben.

      Sophie sah auch heute noch diesen zufriedenen Gesichtsausdruck ihrer Schwester von damals vor sich. Jana war schon immer ein Mensch gewesen der eine Sache zu Ende führte und Sophie bewunderte sie für diese Leistung. Jana war eine Mädchen, dass eine schier unstillbare Neugier in sich hatte. Sie musste alles ganz genau ergründen und ruhte erst dann, wenn etwas lückenlos aufgeklärt war. Diese Eigenschaft war wohl mit ein Grund warum sie sich später für eine Karriere beim BKA entschloss. Die großen Anforderungen die das BKA an seine Mitarbeiter stellte, meisterte sie mit Bravour.

      Doch dann war plötzlich alles vorbei. Eine Gerölllawine löschte Janas Leben aus. Im September letzten Jahres war sie im Urlaub zum Bergsteigen in den Dolomiten unterwegs. Dabei löste sich eine Lawine vom Fels und riss sie und einen ihrer Freunde mit in den Tod. Tonnen von Gestein begruben sie und durch die unzugängliche Lage für schweres Bergungsgerät war es unmöglich sie zu bergen. Dieser Umstand machten die Trauer und das Entsetzen nur noch größer. Man konnte keinen Abschied nehmen. Es schien fast so, als wäre Jana immer noch auf einer Reise, auf einer Reise ohne Wiederkehr. Man wartete und wartete auf ihre Heimkehr und wusste dennoch genau, dass es nie dazu kommen würde. Sophie stellte das Bild zitternd zur Seite. Ihr Innerstes