Johannes Michels

Bücklers Vermächtnis


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einer stürmischen Zeit, die teilweise bis heute erhalten geblieben sind. Eine Stadtmauer mit 22 Pforten, Toren und Türmen umrahmte zur Zeit der französischen Besatzung die Stadt. Davon wiesen Fünf zur Landseite und 17 zur Rheinseite, was davon zeugte wie wichtig der Fluss für die Bevölkerung und den Handel war. Unter anderem stand dort, nördlich der Zollpforte, direkt am Rheinufer gelegen, der sogenannte Holzturm, der bereits im 14. Jahrhundert erbaut worden war. Er erhielt seinen Namen, weil er unweit des Stapelplatzes für Holz errichtet worden war, welches damals per Schiff den Rhein hinab transportiert wurde.Zur Zeit der französischen Besatzung wurde der Holzturm als Gefängnis benutzt.

      Johannes Bückler hockte auf der mit Stroh bedeckten hölzernen Pritsche und sah auf die Ketten, mit denen er an die Gefängnismauer des Holzturmes geschmiedet war. Er wirkte sichtlich erschöpft. Nicht nur aufgrund des harten Nachtlagers und des Eisenbeschlages, der ihm die Haut aufscheuerte, sondern auch wegen des langen Verhörs, dass sich von Juni 1802 bis in den März 1803 hingezogen hatte. In 54 Einzelsitzungen hatte er Rechenschaft ablegen müssen über seine Taten. Jegliche Kleinigkeit wollte Untersuchungsrichter Wilhelm Wernher und der Kommis-Greffiers Brellinger wissen, aber nach Golddukaten fragte ihn niemand. Und jetzt wartete der Schinderhannes auf seinen Prozess. Durch das freiwillige Geständnis seiner Verbrechen hoffte er auf eine mildere Strafe, nichtsahnend, dass auch auf Einbruch und Raub bei den Franzosen die Todesstrafe stand. Erst vor wenigen Wochen hatte er davon erfahren, dass die Wahrscheinlichkeit, zum Tode verurteilt zu werden, sehr groß war.

      Bückler stemmte sich hoch und ging zum vergitterten Fenster, begleitet vom Rasseln der Ketten. Er sah nach draußen zum Rhein auf dem Kähne ihre Fracht beförderten. Und schmerzlich stellte er fest, dass er sich auf der falschen Rheinseite befand. Wie geplant hatte er im Mai letzten Jahres das linksrheinische Gebiet verlassen und war so dem Zugriff der französischen Behörden entgangen. Er gab sich als fahrender Händler aus und durchstreifte so Taunus, Westerwald und Lahntal. Als er dann von einer kurtrierischen Patrouille verhaftet wurde, weil er sich nicht ausweisen konnte, ließ er sich, um der Untersuchungshaft zu entgehen, bei der deutsch kaiserlichen Armee unter falschem Namen als Soldat anwerben. Hier wurde er jedoch von einem früheren Spießgesellen erkannt und verraten. Wiederum verhaftet überführte man ihn nach Frankfurt zum Verhör. Der Schinderhannes bat darum nicht den Franzosen ausgeliefert zu werden. Aber die kaiserliche Militär-Direktion und die Reichsstadt Frankfurt übergaben Johannes Bückler am 16. Juni 1802 dennoch den Franzosen.

      Er war nicht der einzige Angeklagte. 67 weitere potentielle Diebe, Räuber und Mörder waren vorgeladen. Darunter auch seine Frau Julia, die er liebevoll Julchen nannte. Sie war ebenfalls im Holzturm inhaftiert und hatte dort am 1. Oktober 1802 des Schinderhannes’ Sohn, Franz-Wilhelm, zur Welt gebracht. Trotz der Gefängnismauern um ihn herum war es der glücklichste Tag im Leben des Johannes Bückler. Ab und an durften das Julchen und sein Sohn ihn unter Aufsicht besuchen und dann wurde dieser hartgesottene Räuber, der vor keiner Gräueltat zurückschreckte, lammfromm.

      Wehmütig dachte er an seine kleine Familie, als er so am Fenster stand. Tränen stiegen ihm in die Augen und ließen den Rhein und die Kähne auf ihm verschwimmen. Er wandte sich ab und ging zurück zu seinem Lager. Eine abgegriffene Bibel lag dort und er strich mit Bedacht über den verschlissenen Einband. Er erinnerte sich zurück an den sonnigen Morgen im Soonwald, an dem er sich geschworen hatte, einen neuen Weg einzuschlagen. Eine bessere Zukunft für sich und seine Familie herzurichten. Er hatte alle Vorkehrungen dafür getroffen. Das Gold lag bereit. Nun galt es, sein Wissen, sein Erbe an seine Familie weiterzugeben.

      Um die Bibel hatte er den Gefängniskaplan gebeten, der sich den Häftlingen annahm. Bückler benötigte sie nicht, weil er tief gläubig gewesen wäre, obwohl er dies dem Kaplan vorgaukelte. Nein, er brauchte sie für andere Zwecke. Sie sollte ihm als Sprachrohr dienen.

      Während des Verhörs, als sich der Richter und der Kommis-Greffiers unterhielten, war es ihm bereits gelungen einen Crayon - einen Schreibstift - an sich zu bringen. So war er jetzt in der Lage seinem Sohn eine versteckte Botschaft zu hinterlassen. Er würde sie mit Vorsicht verfassen müssen.

      Bückler legte sich auf die harte Pritsche und starrte zur Decke. In seinem Kopf formulierte er die Sätze, nachdem er mit dem Text zufrieden war, setzte er sich auf, zückte den Crayon und begann die Botschaft zu verfassen.

      Am nächsten Morgen wurde er durch das Zurückschieben der Zellentürriegel aus seinem Schlaf gerissen. Geschäftig wirkend trat der Wächter ein, gefolgt vom Kommis-Greffiers Brellinger. Bückler, der sich langsam von der Pritsche erhob, zeigte sich erstaunt über solch hohen Besuch. Brellinger verzichtete auf irgendwelche Begrüßungsformeln und kam gleich zur Sache: »Citoyen Jean Buckler vernehmt hiermit, dass Euer Prozess morgen früh beginnen wird.«

      Der Schinderhannes machte einen gefassten Eindruck.

      »Man wird Euch morgen früh zum Gerichtsgebäude bringen«, fuhr Brellinger fort. »Dort werdet Ihr Euch für Eure Schandtaten verantworten! Der Kontakt zu Eurer Frau und Eurem Sohn, bleibt von nun an versagt!«

      Bückler spürte einen Stich in seinen Eingeweiden, als hätte ihm jemand einen Dolch in sie gerammt. Seine Knie wurden weich, sein Herz raste. Verzweifelt ging er einen Schritt auf Brellinger zu, der sich irritiert umsah. Die Wache stellte sich Bückler umgehend in den Weg.

      »Kommis-Greffiers, dies ist die schlimmste Strafe, die ich erhalten kann. Noch schlimmer als der Tod. So bitt ich Euch nur um eines. Lasst mich zumindest Abschied nehmen. Von meiner geliebten Frau und meinem Sohn.«

      Brellinger, ein kleiner, graubärtiger Mann, der selbst vier Kinder hatte, wusste sehr wohl um die Härte dieser Anordnung. Aber er hatte keinen Einfluss darauf. Richter Wernher hatte dies persönlich angeordnet. Andererseits konnte Bückler Frau und Kind heute ja schon gesehen haben, dachte Brellinger. Aber die Wachen wüssten um die Wahrheit. Der Kommis-Greffiers schätze ab in wie weit ein heutiger Kontakt zwischen Bückler und seiner Frau für ihn Nachteile haben könnte. Er kam zum Schluss, dass es für ihn zu gefährlich war hier selbstständig, ohne Befugnis einen weiteren Kontakt zu erlauben.

      »Es steht nicht in meiner Macht, Citoyen Buckler.«

      »In wessen dann, Kommis-Greffiers?« Verzweiflung sprach aus Bücklers Stimme.

      »Nur der Richter selbst kann Eurer Bitte entsprechen,« Brellinger stockte für einen Augenblick, »oder es lassen.«

      »Nun, dann fleh ich Euch an, Kommis-Greffiers, tragt meine Bitte dem Richter vor.«

      Brellinger dachte eine Augenblick darüber nach. Was würde schon dagegen sprechen wenn er dem Richter Bücklers Bittgesuch unterbreitete? »Nun gut, ich werde sehen was ich tun kann.« Dann verließ Brellinger und die Wache die Gefängniszelle, die Tür wurde zugeschlagen und die Riegel wieder vorgeschoben.

      Der Schinderhannes war wieder allein, stand in der Mitte seiner Zelle und sah sich dem Wohlwollen eines Mannes ausgesetzt, der ihn ganz sicher auf dem Schafott sehen wollte.

      Den ganzen Morgen und den frühen Nachmittag, zermarterte sich Bückler den Kopf, ob er denn seine Frau und sein Kind noch einmal vor dem Prozess sehen würde. Nicht nur der Zuneigung wegen, die er für beide empfand, sondern auch wegen seinem Erbe. Denn er wusste nicht, ob nach dem Prozess sich eine Gelegenheit ergeben würde, um seine Informationen Julchen zukommen zu lassen. So waren Julias momentane Besuche die ideale Möglichkeit um Informationen weiterzugeben. Und nun, so kurz vorm Ziel, sah sich Bückler seiner Möglichkeit beraubt. Er stand vor dem Zellenfenster und sah hinaus auf den trüben Oktobertag. Graue Wolken zogen am Himmel entlang und ließen einen leichten Nieselregen zu Boden fallen. Trübe Aussichten, dachte er, dort draußen wie hier drinnen.

      Dann plötzlich wurden die Riegel der Zellentür zurückgeschoben und die Wache trat ein.

      »Ihr habt zehn Minuten.«

      Julchen und sein Sohn Franz-Wilhelm traten ein.

      Erleichtert sah er zu den beiden, ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Tränen stiegen in ihm hoch, als er sie an sich drückte. »Ich freue mich, euch beide zu sehen. Ich dacht schon, es bliebe mir verwehrt.«

      Julchen löste sich aus der Umarmung und gab Franz-Wilhelm seinem Vater, der ihn auf den