Menschenmenge aus dem Wege. Sie war noch nicht allzu lange wieder in Mainz. Dieser Ort barg für sie keine gute Erinnerung. So wurde ihr Mann doch hier verurteilt und geköpft und sie im gleichen Prozess zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatte es Johannes Bückler zu verdanken, dass sie so gnädig davon gekommen war. Immer wieder hatte dieser während der Gerichtsverhandlung beteuert, dass sie unschuldig sei und er sie verführt habe.
Dies hatte wohl Eindruck beim Tribunal hinterlassen. Aber sie selbst wusste, dass der Schinderhannes sie nicht zu verführen brauchte. Julchen war als zweite Tochter eines Musikanten in Weierbach, einem kleinen Ort bei Idar-Oberstein, geboren und aufgewachsen. Als Bänkelsängerin und Geigenspielerin trat sie zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf Märkten und bei Kirchweihen auf. An Ostern 1800 sah sie den Schinderhannes zum ersten mal. Wenig später gaben die beiden sich ein heimliches Stelldichein, verliebten sich ineinander und Julchen folgte ihrem Schwarm aus freien Stücken. Sie war ein attraktives, temperamentvolles junges Ding, das wenig Skrupel kannte, wenn es darum ging ihrem Geliebten beim Rauben zur Hand zu gehen. Und so konnte sie mit dem Urteil mehr als Zufrieden sein.
Nach der Hinrichtung ihres Mannes wurde ihr Sohn Franz-Wilhelm an einen Pflegevater übergeben. Dem Mainzer Zollwächter Johannes Weiß. Danach trat sie ihre Haftstrafe im Korrektionshaus in Gent an. Sie erinnerte sich nicht gerne an die Zeit in der Besserungsanstalt zurück.
Zusammengesperrt mit anderen gesunkenen Individuen und liederlichen Dirnen musste sie unter strenger Aufsicht harte Arbeit verrichten. Der Umgang der Häftlinge untereinander war sehr rau und öfter als einmal kam es vor, dass sie Blessuren aus irgendwelchen Streitereien davontrug.
Sie war froh, als sie die Zeit im Korrektionshaus hinter sich gebracht hatte. Der Pflegevater ihres Sohnes stellte sie dann als Dienstmädchen ein. Dies war ein Glück für Julchen, so konnte sie doch bei ihrem Sohn sein.
Als Julchen um eine Ecke bog, stieß sie plötzlich mit einem jungen Mann zusammen. Der Korb entglitt ihr und landete samt Inhalt auf dem Trottoir.
»Verzeiht bitte meine Unachtsamkeit.« Der junge Mann begab sich in die Hocke und sammelte die Lebensmittel auf und beförderte sie in den Korb zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen kam er wieder nach oben, und reichte Julchen den Korb. »Ich bitte nochmals um Verzeihung.«
Der Mann war mittelgroß, von attraktivem, gepflegtem Aussehen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er niedrigen Standes, sowie auch Julchen. Aber Manieren schien er trotzdem zu haben, dachte sie amüsiert.
»Es ist ja alles noch heil.« Sie durchforstete den Inhalt des Korbes.
»Auch bei Ihnen junge Dame? Es wäre mir ein Gräuel wenn ich Ihrer Schönheit geschadet hätte.«
Julchen sah verlegen zu dem so galanten Fremden empor. Lange war es her, dass sie solche Schmeicheleien vernommen hatte. Aber es gefiel ihr gut. So machten diese den Wert ihrer Selbst doch größer. Sie lächelte den gutaussehenden Burschen an. »Auch ich bin unversehrt. Aber danke der Nachfrage.« Sie war im Begriff weiterzugehen, aber der Mann stellte sich ihr in den Weg.
»Junge Dame, darf ich erfahren, wer Ihr seid und wo Ihr wohnt?«
Julchen blieb stehen, sie war verblüfft wie ungeniert der Mann ihr entgegentrat. »Warum wollt Ihr das wissen, mein Herr?«
»Nun, ich würde mein Missgeschick gern wieder gut machen, indem ich Euch zu einem Mahl einlade.« Der Fremde lächelte sie freundlich an.
Julchen wusste nicht genau wie sie reagieren sollte. »Ich kenne noch nicht einmal Euren Namen.«
Der Mann trat einen Schritt zurück und verbeugte sich vornehm. »Dem kann abgeholfen werden, ich heiße Kaspar Bender.«
»Ich heiße Julia Blasius«, entgegnete Julchen.
»Und sagt mir das Fräulein Julia auch noch wo es wohnt?«, fragte der Fremde unverblümt.
»Im Hause des Zollwächters Johannes Weiß.«
»Ich würde Euch gerne meine Aufwartung machen, wenn Ihr es erlaubt.«
Julchen fühlte sich durch soviel Engagement Benders mehr als geschmeichelt. Sie konnte sich durchaus ein Wiedersehen mit diesem höflichen jungen Mann vorstellen. »Nun, gut der Herr. Wenn Ihr mich so drängt«, sagte sie in gespielter Weise, »dann kommt morgen zum Dienstboteneingang von Johannes Weiß’ Haus. Ihr wisst wo das ist?«
Julchen sah deutlich die Freude von Kaspar Bender. »Ja, das weiß ich«, sagte dieser knapp.
»Am besten zur achten Stunde am Abend«, ergänzte Julchen.
»Ich werde pünktlich sein«, entgegnete Bender.
Sie lächelte ihm herzlich zu, verabschiedete sich und setzte ihren Heimweg fort.
Bender sah ihr nach, bis sie hinter einer Häuserreihe verschwunden war. Dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. Zwei Jahre, dachte er, wartete er nun schon auf diese Gelegenheit. Endlich hatte sie sich ergeben. Er wusste genau wen er eben vor sich hatte. Seit einigen Tagen beobachtete er sie schon und er gratulierte sich selbst zu seiner Beharrlichkeit und seinem Instinkt. Von Anfang an hatte er vermutet, dass Bücklers Frau nach ihrer Gefängnisstrafe wieder hier auftauchen würde, um in der Nähe ihres Sohnes zu sein. Und jetzt, durch die Begegnung mit ihr, hatte er einen Fuß in der Tür. Von nun an war er seinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Schinderhannes sein Geheimnis um das Gold mit ins Grab genommen hatte. Sie würde es kennen, dessen war er sich sicher und er würde es erfahren. Kaspar Bender alias Frederic Foch sah immer noch auf die Häuser hinter denen Julchen verschwunden war und er grinste immer noch.
1
Sie vollführte den Bogenschritt sicher und langsam. Dabei teilten ihre Hände die Mähne des wilden Pferdes bevor sie dann zur nächsten Figur des Tai Chi Chuan überging. Sophie Haller genoss diese ruhigen und harmonischen Bewegungen in mitten von gleichgesinnten Studenten der Heidelberger Universität. Sie dienten ihr als Ausgleich zum stundenlangen Verweilen in den überfüllten Hörsälen.
Die Gruppe befand sich draußen im Park, am nahegelegenen Neckar. Die Julisonne brannte unerbittlich auf sie herab. Seit nun schon fast zwei Monaten war kein Tropfen Regen mehr gefallen und es schien so, dass dieser noch junge Sommer durchaus im Stande war alle Hitzerekorde zu brechen. Die Eisdielen und Schwimmbäder waren voller Menschen, ebenso die Biergärten und die Parkanlagen, in denen jedes schattige Plätzchen heiß begehrt war, um Sonne und Schweiß zu entkommen.
»Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus«, sagte Lehrmeister Xiao Yi zu ihnen. Die Schüler nahmen seine Bewegungen auf und ahmten sie nach. Die Gruppe strahlte in ihrer synchronisierten Bewegung eine große Ruhe und Gelassenheit aus. Schaulustige sahen teilweise mit Bewunderung, oder aber mit Unverständnis auf die Gruppe, die wie in Zeitlupe ihre Bewegungen ausführte. Sophie störten die Beobachtungen durch Außenstehende schon lange nicht mehr. Sie betrieb das Tai Chi Chuan seit über fünf Jahren und war in der Form so tief versunken, dass sie die Beobachter nur am Rande war nahm. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren hatte sie bereits eine Stufe des Tai Chi Chuan erreicht, dass sie deutlich von einem Anfänger unterschied. Tai Chi bedeutete für sie mehr als nur körperliche Ertüchtigung. Sie konnte den Geist des höchsten Prinzips, so wie man Tai Chi übersetzte, förmlich spüren.
Xiao Yi gab weitere Anweisungen, die die Gruppe sicher und ruhig umsetzte. Sophies Lehrer war Chinese und vor den Kommunisten während der Kulturrevolution geflohen. 1969 war er dann nach Deutschland gekommen und hatte sich zuerst mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Er entdeckte, dass die asiatische Kampfkünste und Bewegungstherapien auch in Deutschland immer beliebter wurden. In seiner Heimat hatte er von klein auf diese Künste gelernt und so gründete er eine der ersten Schulen fürs Tai Chi Chuan in Deutschland. Anfänglich war die Nachfrage schleppend und er musste mehr als einmal mit knurrendem Magen ins Bett. Aber Mitte der Siebziger Jahre boomte das Geschäft plötzlich und er konnte seinen Lebensunterhalt davon sehr gut bestreiten.
Xiao Yi schloss seine letzte Bewegung ab. Sein Blick lag prüfend auf